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Die moralisch blinden Flecken

Blog Marcel Fratzscher vom 9. April 2021

Die Pandemie hat gezeigt, wie wenig wir zuweilen bereit sind zu investieren, um Schaden zu verhindern. Das gilt für viele Bereiche des Lebens. Wir sollten daraus lernen.

Der schleppende Impfstart in Deutschland hat die Hoffnung auf eine rasche Normalisierung des täglichen Lebens verpuffen lassen. Dennoch gehen viele davon aus, dass Ende 2021 alles wieder so sein wird wie vor der Pandemie. Doch manches im Alltag nach der Pandemie dürfte nie mehr so sein, wie es vorher war. Das muss nicht beängstigend sein und meint nicht bloß anhaltende Einschränkungen. Doch die Pandemie sollte unsere Aufmerksamkeit lenken auf zahlreiche moralisch blinde Flecken, die wir als Gesellschaft mit vergleichsweise geringen Mitteln ausfüllen könnten, um in Zukunft viel Leid und Schaden zu verhindern. 

Dieser Text erschien erstmals am 8. April 2021 in der Zeit Online-Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen.

Ein Beispiel sind die Grippe-Epidemien, die uns fast jedes Jahr heimsuchen und viele Menschenleben kosten. So starben im Winter 2017/18 in Deutschland fast 25.000 Menschen am Grippevirus. Nur wenigen war das damals bewusst. Die Gesellschaft hat die Grippe-Epidemie fast kommentarlos hingenommen, sie hat sie als etwas Unvermeidbares angesehen. Erst unter dem Eindruck von Corona realisieren wir, dass viele der 25.000 Menschen mit relativ bescheidenem Aufwand hätten geschützt werden können. Eine Informationskampagne, die von der Grippeimpfung überzeugt, hätte genauso Leben schützen können wie eine Maskenpflicht in U-Bahnen oder strengere Hygieneregeln in Altenheimen oder öffentlichen Gebäuden. 

Ist uns die Freiheit zum Schnellfahren Menschenleben wert?

Ein weiteres Beispiel sind die 3.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland im Straßenverkehr sterben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein generelles Tempolimit auf Autobahnen jedes Jahr mehr als 100 Menschenleben schützen könnte. Ist uns als Gesellschaft der Schutz dieser Menschenleben wichtiger oder der Schutz der Freiheit, ohne Tempolimit auf der Autobahn fahren zu können?

Die Angst vor dem Ungewissen und das Bewusstsein, dass das Virus jeden von uns oder jemanden in unserer Familie treffen könnte, führen zu einer starken Identifikation mit den Opfern und sie sind zwei Hauptgründe dafür, dass eine Gesellschaft in manchen Fällen – wie der Bekämpfung des Coronavirus – enorme wirtschaftliche Kosten und Einschränkungen ihrer Grundrechte akzeptiert, während sie das in anderen Fällen, wie zum Beispiel bei Toten im Straßenverkehr, nicht tut. In der Ethik, der Psychologie und der Verhaltensökonomie sind diese Effekte bekannt und analysiert.

Der Fehler von Politik und Gesellschaft ist nicht, dass in der Pandemie ein so großes Gewicht auf den Schutz von Menschenleben und Gesundheit gelegt wird. Der Fehler ist vielmehr, dass Politik und Gesellschaft in so vielen anderen Fällen nicht gewillt sind, auch nur minimale Ressourcen zu mobilisieren, um in der Summe und über die Zeit genauso viele Menschenleben zu retten und etwa Wohlstand, Zufriedenheit und Sicherheit zu schützen.

Was heißt das für die Zeit nach Corona? Die Pandemie könnte vielen vor Augen führen, dass mit verhältnismäßig wenig Geld und Aufwand viel Gutes getan und großer Schaden verhindert werden kann. Dies zeigt uns, wie wichtig etwa ein gutes Gesundheits- und ein starkes Bildungssystem sind. Die Pandemie lehrt uns, dass staatliche Institutionen nicht nur für normale Zeiten ausgerichtet, sondern vor allem in Krisenzeiten handlungsfähig sein müssen. Die Kosten für Überkapazitäten von Notfallbetten in Krankenhäusern oder digitalen Unterricht im Bildungssystem mögen in guten Zeiten signifikant erscheinen. In Krisenzeiten wie jetzt wird uns jedoch bewusst, wie gering diese Kosten gegenüber dem Nutzen einer hohen Resilienz und Flexibilität sind.

Corona als Chance für neues Bewusstsein

Viele dieser Themen sind moralisch blinde Flecken, weil wir sie als Gesellschaft einfach hinnehmen und selten hinterfragen. Kaum jemand hätte es vor einem Jahr für möglich gehalten, dass ein Impfstoff gegen Covid-19 in weniger als einem Jahr gefunden und verabreicht werden kann – die Entwicklung eines Impfstoffes hat in der Vergangenheit selten weniger als fünf Jahre gedauert. Auch in vielen anderen Bereichen könnte viel Leid mit keinen oder nur geringen Beschränkungen von Freiheiten verhindert werden.

Die Pandemie ist eine Chance für ein neues Bewusstsein, eine Chance für zahlreiche Korrekturen im Umgang miteinander. Impfkampagnen, eine temporäre Maskenpflicht und strikte Hygieneregeln, aber auch viele andere Instrumente werden hoffentlich durch diese Pandemie Teil einer neuen Normalität werden, die in Zukunft Schaden abwenden und vieles zum Guten wenden können.

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