DIW Wochenbericht 44 / 2021, S. 727-734
Johannes Geyer, Peter Haan, Hannes Kröger, Maximilian Schaller
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„Nicht nur Einkommen sind in Deutschland sozial ungleich verteilt, sondern auch Lebenserwartung und Pflegerisiko. Um diese Ungleichheit zu bekämpfen, brauchen wir sozialpolitische Maßnahmen, beispielsweise eine Bürgerversicherung.“ Peter Haan
Ärmere Personen haben eine deutlich geringere Lebenserwartung als Personen mit höheren Einkommen. Dieser Wochenbericht zeigt auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels, dass sie zudem häufiger und früher pflegebedürftig werden. Gleiches gilt für Arbeiter und Arbeiterinnen im Vergleich zu Beamten und Beamtinnen sowie für Menschen mit hohen Arbeitsbelastungen im Vergleich zu Personen mit niedrigen beruflichen Belastungen. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit wird also entscheidend durch Gesellschaft, Einkommen und Arbeitswelt beeinflusst. Um diese Ungleichheit zu reduzieren, sind sozialpolitische Reformen notwendig. Denn die bestehenden sozialen Sicherungssysteme kompensieren diese ungleichen Belastungen nur teilweise. Eine nachhaltige Politik muss schon in der Erwerbsphase ansetzten und dort Belastungen reduzieren, sodass das Pflegerisiko präventiv verringert wird. Um die Ungleichheit kurzfristig zu reduzieren, sollten die privaten Zuzahlungen gesenkt und stärker vom verfügbaren Einkommen abhängig gemacht werden. Zielführend ist auch eine Bürgerversicherung, also die Verbindung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, da das Pflegerisiko von Menschen mit privater Pflegeversicherung deutlich geringer ist.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung in Deutschland steigt kontinuierlich.Im langjährigen Mittel stieg die Lebenserwartung von Neugeborenen jährlich um etwa 0,2 Jahre für Frauen und um 0,3 Jahre für Männer. In den letzten Jahren hat sich dieser Trend verlangsamt. Vgl. dazu Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 5. November 2019: Lebenserwartung steigt nur noch langsam (online verfügbar, abgerufen am 19. Oktober 2021. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Das ist eine positive Entwicklung. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass Lebenserwartung und auch ihre Zunahme stark mit der sozialen Stellung der Menschen zusammenhängen: Personen mit geringen Einkommen, einer hohen physischen und psychischen Arbeitsbelastung oder einer niedrigen beruflichen Stellung haben eine deutlich kürzere Lebenserwartung und dieser Unterschied wächst im Zeitverlauf.Aus sozialpolitischer Sicht sind diese Unterschiede nicht nur wegen der unterschiedlichen Lebenszeit problematisch, sondern weil auch für eine kürzere Periode Renten gezahlt werden und somit eine Umverteilung zu Gunsten von Menschen mit einer höheren Lebenserwartung entsteht. Siehe dazu Martin Kroh et al. (2012): Menschen mit hohem Einkommen leben länger. DIW Wochenbericht Nr. 38, 3–15 (online verfügbar); Peter Haan und Maximilian Schaller (2021): Heterogene Lebenserwartung: Forschungsprojekt im Auftrag des Sozialverbands VdK Deutschland. DIW Berlin: Politikberatung kompakt 171 (online verfügbar). Dies sagt jedoch nichts darüber aus, in welcher gesundheitlichen Verfassung diese Lebensjahre verbracht werden. Dieser Wochenbericht geht dieser Frage anhand des Pflegerisikos, also der Wahrscheinlichkeit, ob eine Person pflegebedürftig wird, nach.Peter Haan und Johannes Geyer danken der Joint Programming Initiative More Years Better Lives im Projekt PENSINEQ (Unequal ageing: life-expectancy, care needs and reforms to the welfare state) für finanzielle Unterstützung. Zusätzlich wird die Zeit bis zur Pflegebedürftigkeit, das heißt der Lebensjahre ab dem Alter von 65 Jahren, die von einer Person ohne pflegende Hilfeleistungen durchlebt werden können, untersucht. Pflegebedürftigkeit bedeutet, dass die Menschen in der Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens dauerhaft erheblich eingeschränkt und auf informelle und/oder formelle Unterstützung angewiesen sind. Die empirischen Analysen erfolgen getrennt für Männer und Frauen auf Basis der Daten des am DIW Berlin angesiedelten Sozio-oekonomischen Panels (SOEP),Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird; vgl. Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239(2), 345–360 (online verfügbar). die in Zusammenarbeit mit Kantar Public erhoben wurden. In den Daten werden nur die Personen beobachtet, die ambulant betreut werden; die Bevölkerung in Pflegeheimen ist nicht Teil der Analyse.Studien zeigen, dass Einkommen und der Übergang in ein Pflegeheim negativ korreliert sind (vgl. Johannes Geyer, Thorben Korfhage und Erika Schulz (2014): Versorgungsformen in Deutschland: Untersuchung zu Einflussfaktoren auf die Nachfrage spezifischer Versorgungsleistungen bei Pflege- und Hilfebedarf. ZQP-Abschlussbericht, online verfügbar). Daher ist es möglich, dass die vorliegende Analyse die sozialen Unterschiede im Pflegerisiko insgesamt (Heim- und häusliche Pflege) unterschätzt, wenn pflegebedürftige Personen mit höherer sozialer Stellung seltener zur Pflege ins Pflegeheim ziehen und daher nicht mehr Teil des SOEP-Datensatz sind.
Die gesetzliche Pflegeversicherung in Deutschland deckt nur einen Teil der Pflegekosten ab. Die privaten Haushalte müssen einen relevanten Teil der Kosten selbst übernehmen und/oder die Pflege selbstständig organisieren. Beispielsweise liegen die individuell zu tragenden Zuzahlungen für einen Platz im Pflegeheim im Bundesdurchschnitt bei etwa 2100 Euro pro Monat.Neben der Eigenbeteiligung für die Pflegekosten fallen darunter die Kosten der Unterkunft und Verpflegung und die sogenannten Investitionskosten. Je nach Bundesland und Heim variieren die Kosten erheblich. Daten für 2021 vom Verband der Ersatzkassen (vdek) (online verfügbar). Zum Ende des Jahres 2020 erhielten rund 4,3 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung, davon wurden knapp 3,5 Millionen Menschen (80 Prozent) ambulant betreut.Die Angaben zur Pflegeversicherung stammen aus den vom Bundesministerium für Gesundheit online veröffentlichten Statistiken (online verfügbar). Von den 3,5 Millionen waren 2,6 Millionen älter als 65 Jahre, was einem Anteil von etwa 14 Prozent in der Altersgruppe entspricht.Da die Leistungen der Pflegeversicherung auf einen erheblichen Betreuungsbedarf abstellen, gibt es zudem Personen, die zwar auf Hilfe angewiesen sind, die Anspruchsvoraussetzungen der Pflegeversicherung aber nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass die Leistungen nur auf Antrag gewährt werden und der Anteil der Nichtinanspruchnahme von Leistungen nicht bekannt ist. Mit den Daten des SOEP lässt sich untersuchen, wie dieses Risiko in der Bevölkerung in Privathaushalten verteilt ist (Kasten 1).Voraussetzung ist allerdings, dass die Personen an der Befragung teilnehmen können und wollen. In Befragungen wie dem SOEP sind deswegen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen unterrepräsentiert. Der Anteil der Pflegebedürftigen in Privathaushalten fällt deswegen niedriger aus als in der Pflegestatistik. Laut den Schätzungen auf Basis des SOEP (Kasten 2) unterscheidet sich das Pflegerisiko von Personen, also die Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres pflegebedürftig zu sein, deutlich nach sozioökonomischen Merkmalen (Tabelle). Das Risiko steigt erwartungsgemäß mit dem Alter deutlich an. Mit jedem weiteren Lebensjahr nimmt es um etwa 0,5 Prozentpunkte zu. Die Schätzungen zeigen auch deutliche Unterschiede nach dem verfügbaren Einkommen im Haushalt. Bei Männern mit geringen Einkommen (weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens) liegt das Risiko etwa 2,2 Prozentpunkte höher als für Männer mit hohen Einkommen (mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens). Bei Frauen lassen sich ähnliche Unterschiede beobachten, jedoch fallen diese geringer aus und sind oft statistisch nicht nachweisbar. Auch die Stellung und die Belastung im Beruf (zur Definition siehe Kasten 1) hängen mit dem Pflegerisiko zusammen. Vom höchsten relativen Pflegerisiko sind geschlechterübergreifend jeweils die Gruppe der Arbeiter und Arbeiterinnen betroffen. Hingegen ist das Risiko bei verbeamteten Personen am geringsten. Das Pflegerisiko von angestellten und selbstständigen Männern ist auch höher als bei Beamten. Bei Frauen liegen keine signifikanten Unterschiede vor. Unter Kontrolle der sonstigen Merkmale zeigt sich weder für Männer noch für Frauen ein Unterschied im Pflegerisiko nach der beruflichen Belastung.
Abweichung zur Referenzgruppe in Prozentpunkten
Männer | Frauen | |
---|---|---|
Alter von 65 Jahren | 0,34 *** | 0,52 *** |
Direkter Migrationshintergrund1 | −1,95 *** | −0,42 |
Kein direkter Migrationshintergrund | Referenz | Referenz |
Wohnort: Ostdeutschland | −0,22 | −0,51 |
Wohnort: Westdeutschland | Referenz | Referenz |
Relative Einkommensposition | ||
Unter 60 Prozent des mittleren Einkommens | 2,23 * | 1,79 |
60 bis 80 Prozent | 1,14 | 1,74 * |
80 bis 100 Prozent | −0,12 | 1,61 * |
100 bis 150 Prozent | 0,10 | 1,20 |
Über 150 Prozent | Referenz | Referenz |
Letzte berufliche Stellung | ||
ArbeiterInnen | 2,48 *** | 0,84 |
Selbstständige | 2,14 ** | 0,11 |
Angestellte | 1,07 * | 0,29 |
BeamtInnen | Referenz | Referenz |
Berufliche Belastungen | ||
Niedrig | Referenz | Referenz |
Mittel | 0,44 | −0,06 |
Hoch | 0,93 | 1,81 |
Erwerbsminderungsrente | 2,99 *** | 1,97 ** |
Konstante | −23,98 *** | −35,90 *** |
Beobachtungen | 36571 | 40756 |
Personen | 4201 | 4333 |
1 Personen, die selbst nach Deutschland zugewandert sind (erste Einwanderergeneration).
Anmerkungen: Untersucht wird ausschließlich ambulante Pflege. Sternchen bezeichnen das Signifikanzniveau, das die statistische Genauigkeit der Schätzung angibt. Je mehr Sternchen, desto genauer: ***, ** und * geben die Signifikanz auf dem Ein-, Fünf- und Zehn-Prozent-Niveau an.
Lesebeispiel: Das Pflegerisiko von Arbeitern ist im Vergleich zu verbeamteten Männern um rund 2,5 Prozentpunkte erhöht. Bei Frauen dieser Berufsgruppen findet sich kein statistisch signifikanter Unterschied.
Quellen: SOEP v35, 1984–2018; Personen in Privathaushalten ab dem Alter von 65 Jahren.
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird.Jan Goebel et al. (2019), a.a.O. Der große Vorteil dieser Datenbasis sind dabei die detaillierten sozioökonomischen Informationen zu Individuen und Haushalten, welche eine differenzierte Analyse der Zusammenhänge von sozialen Hintergrundmerkmalen und Pflegerisiko, also heterogener Pflegebedürftigkeit im Alter insgesamt, ermöglicht. Von besonderer Relevanz für die Schwerpunkte der vorliegenden Studie sind dabei die Verfügbarkeit eines breiten Begriffs des Haushaltseinkommens zum Alter 65, die biografische Abfrage des individuellen Erwerbstätigkeitsstatus und der beruflichen Stellung sowie der Langzeitpflegebedürftigkeit. Als pflegebedürftig gelten dabei jene Personen, die angeben Hilfe im Umfang von mindestens einer der folgenden Kategorien zu benötigen: bei Besorgungen und Erledigungen außer Haus, in der alltäglichen Haushaltsführung und der Versorgung mit Mahlzeiten und Getränken, einfacheren Pflegetätigkeiten wie Hilfe beim An- und Auskleiden und Waschen, oder schwierigeren Pflegetätigkeiten wie der Hilfe beim Umbetten und Stuhlgang.Markus M. Grabka, Rainer Pischner, und SOEP Group (2020): SOEP-Core v36 – PFLEGE: Generated Person-level Long-term Care Variables. SOEP Survey Papers 893: Series D. Berlin: DIW/SOEP. Dies bedeutet, dass nur ambulante Pflege von Personen, die im selben Haushalt leben betrachtet wird.
Für die Analyse des Pflegerisikos werden die Daten des Beobachtungszeitraums 1984 bis 2018 genutzt und alle Individuen berücksichtigt, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, sodass eine Untersuchung der Geburtskohorten 1919 bis 1952 möglich ist.Hierbei wird die Stichprobe allerdings nicht nur auf jene Personen beschränkt, die zum Alter 65 beobachtet wurde, sondern ein erweiterter Einbezug vorgenommen, falls die erste verfügbare Observation erst aus dem Alter 66 oder 67 stammt. Für diesen verspäteten Eintritt wird in der empirischen Analyse kontrolliert.
Als erstes Unterscheidungsmerkmal wird die relative Position in der Verteilung des verfügbaren Einkommens in dem Jahr, in dem die Person 65 Jahre alt wurde, herangezogen. Die Grundlage dafür bildet das Netto-Äquivalenzeinkommen – das heißt die Summe, der von einem Haushalt bezogenen Einkommen und Transfers unter Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen im Verhältnis zur Größe und Struktur des Haushalts.Mithilfe von Äquivalenzskalen wird die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar gemacht. Zur Gewichtung wurde die neue OECD-Skala verwendet. Siehe dazu das DIW Glossar (online verfügbar). Es erfolgt sodann eine Einteilung in fünf Gruppen: Während Haushalte mit einem verfügbaren Einkommen von über 150 Prozent des Median als wohlhabend charakterisiert werden, gelten Einkommen zwischen 100 bis 150 Prozent und 80 bis 100 Prozent als mittlere Einkommen. Bei den einkommensschwachen Gruppen wird für den Bereich 60 bis 80 Prozent von Haushalten mit geringem Einkommen, und bei unter 60 Prozent von armutsgefährdeten Haushalten gesprochen.
Die berufliche Stellung wird in vier übergeordnete Kategorien eingeteilt: Arbeiterinnen und Arbeiter, Selbstständige, Angestellte und Beamtinnen und Beamte. Die Zuweisung erfolgt unter Verwendung der zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit, die sich aus dem verfügbaren Befragungszeitraum jeder Person oder deren retrospektiven Biografiedaten ergibt.
Zur Vollständigkeit wird zusätzlich eine Gruppierung für Nicht-Erwerbstätige definiert. In diese werden Personen zugewiesen, die während ihres gesamten Beobachtungszeitraums ausschließlich als nicht-erwerbstätig aufgezeichnet werden und für die außerdem keine Information zu einem etwaigen Einstiegsberuf aus biografischen Abfragen verfügbar ist. Diese finden allerdings keine weitere Berücksichtigung in der Auswertung der empirischen Analyse.
Die Untersuchung der berufstypischen Arbeitsbelastungen basiert auf einem in Dezile geteilten Gesamtindex, der die physischen und psychosozialen Anforderungskomponenten zu tätigkeitsspezifischen Belastungsprofilen zusammenführt.Lars Eric Kroll (2011): Konstruktion und Validierung eines allgemeinen Index für die Arbeitsbelastung in beruflichen Tätigkeiten auf Basis von ISCO-88 und KldB-92. Methoden, Daten, Analysen (mda) 5, Nr. 1: 63–90. Die Berufe im unteren Fünftel der Skala (Indexscore 1 und 2) werden als von niedrigen Belastungen geprägt betrachtet. Bei den mittleren drei Fünfteln (Score 3 bis 8) wird von mittleren, und im oberen Fünftel (Score 9 und 10) von hohen Arbeitsbelastungen gesprochen. Als Grundlage für die individuelle Zuweisung der Belastungskategorien dient die spezifische Berufsklassifikation (ISCO88)International Standard Classification of Occupations (ISCO88), International Labour Organization (ILO). der entsprechend zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit.
Die Identifikation der Erwerbsminderungsrente beruht auf dem biografischen Aktivitätsstatus.Paul Schmelzer, Maik Hamjediers, und SOEP Group (2020): SOEP-Core v35 – Activity Biography in the Files PBIOSPE and ARTKALEN. SOEP Survey Papers 877: Series B. Berlin: DIW/SOEP. Entscheidend, ob eine Person Anspruch auf eine solche hatte, ist dabei die Aufzeichnung von Episoden „in Rente“ vor dem Alter 60.
Der individuelle Versicherungsstatus wird ebenfalls direkt im SOEP erfasst. Für die empirische Analyse wird aus diesen Informationen ein Indikator erstellt, der anzeigt, ob eine Person zum Alter 65 Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung oder ausschließlich privat versichert war. Dieser Teil der vorliegenden Untersuchung beschränkt sich dabei auf den Befragungszeitraum von 1999 bis 2018.
Die Teilnahme am SOEP ist freiwillig, sodass die Stichprobe potenziell verzerrt sein könnte, da ein schlechter Gesundheitszustand beziehungsweise die erheblichen zusätzlichen Belastungen durch Pflegebedürftigkeit die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme beeinflussen könnten.Rainer Schnell, und Mark Trappmann (2006): Konsequenzen der Panelmortalität im SOEP für Schätzungen der Lebenserwartung. Arbeitspapier Zentrum Für Quantitative Methoden Und Surveyforschung, Universität Konstanz, 2. Dies betrifft sowohl die Selektivität der Erstbefragung von Personen und kann für die Wahrscheinlichkeit des längsschnittlichen Teilnahmeverhaltens eine wichtige Rolle spielen. Das SOEP hat zwar mehrfach vitalen Status von ehemaligen Befragten auf der Basis der Melderegister abgeglichen und kann somit unabhängig von der Teilnahme das Todesjahr von SOEP-Befragten bestimmen.Hannes Kröger, und Martin Kroh (2020): SOEP-Core v35 – LIFESPELL: Information on the Pre- and PostSurvey History of SOEP-Respondents. SOEP Survey Papers – Series D – Variable Descriptions and Coding, (887). Die Daten des Melderegisters geben aber keine Auskunft über Pflegebedürftigkeit der Personen.
Sowohl niedrigere sozioökonomische Merkmale als auch der Gesundheitszustand (und potenziell Pflegebedürftigkeit) erhöhen die Wahrscheinlichkeit nicht weiter am SOEP teilzunehmen. Außerdem werden Personen mit hohem sozioökonomischen Hintergrund öfter zu Hause gepflegt, während Personen mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund zur Pflege häufiger in ein Pflegeheim ziehen und dann nicht mehr in den SOEP-Daten erfasst sind. Das Zusammenspiel dieser Faktoren kann zur Folge haben, dass die vorliegende Analyse die sozialen Unterschiede im Pflegerisiko und den Lebensjahren ohne Pflegebedarf unterschätzt.Rainer Siegers, Veronika Belcheva, und Tobias Silbermann(2019): DIW Berlin: SOEP-Core v34 – Documentation of Sample Sizes and Panel Attrition in the German Socio-Economic Panel (SOEP) (1984 until 2017). SOEP Survey Papers: Series C – Data Documentations (606).
Im ersten Schritt wird das allgemeine Pflegerisiko mittels eines linearen Wahrscheinlichkeitsmodells, separat für Männer und Frauen geschätzt. Die abhängige Variable ist dabei ein Indikator, der unabhängig des Umfangs der benötigten Hilfe die individuelle Pflegebedürftigkeit (Ja/Nein) beschreibt. Die Modellspezifikation kann der Tabelle entnommen werden. Neben den sozialen Strukturmerkmalen Einkommen, Beruf und Arbeitsbelastungen sowie einem Indikator für den Bezug von Erwerbsminderungsrente wird zusätzlich für direkten Migrationshintergrund und den Wohnort in Deutschland kontrolliert. Die Analyse basiert auf allen verfügbaren Beobachtungen zur Pflegebedürftigkeit zwischen 1984 und 2018.
Im zweiten Teil werden die gruppenspezifischen Differenzen in den verbleibenden Lebensjahren ohne Pflegebedarf ab dem Referenzalter von 65 Jahren untersucht. Zur empirischen Analyse wird dazu ein (nicht-parametrisches) diskretes EreignisanalysemodellJudith Singer, und John Willett (1993): It’s about time: Using discrete-time survival analysis to study duration and the timing of events. Journal of educational statistics 18, Nr. 2: 155–195; Hannes Kröger et al. (2017): Einkommensunterschiede in der Mortalität in Deutschland – ein empirischer Erklärungsversuch. Zeitschrift für Soziologie 46, Nr. 2, 124–146. verwendet, mit dem geschätzt wird, wie hoch das Risiko ist, zu einem bestimmten Alter – hier dem Alter nach 65 – ambulante Pflege zu benötigen. Als Ergebnisse der Schätzungen ergeben sich die altersspezifischen Grundrisiken des Pflegebedarfs (baseline-hazard) sowie, in Abhängigkeit des untersuchten Strukturmerkmals, die relativen Unterschiede in diesen Risiken zwischen den Subgruppen (hazard-ratios).Es wird hierbei explizit das erstmalige Auftreten einer Pflegebedürftigkeit ab dem 65. Lebensjahr untersucht, unabhängig davon, ob diese für eine Person auch bereits vor dem Referenzalter bestanden hat. Auf dieser Basis lässt sich bestimmen, wie hoch die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit innerhalb einer Gruppe ist, bis zu einem bestimmten Alter ohne Pflege auszukommen. Für die detailliertere Untersuchung von gruppenbezogenen Differenzen werden unter Anwendung einer Berechnungsmethodik aus dem Bereich der Lebenserwartungsanalyse (Sterbetafel-Methodik)Samuel Preston, Patrick Heuveline und Michel Guillot (2009): Demography, measuring and modeling population processes. Population and Development Review 27, Nr. 2: 365–367. die durchschnittlich erwarteten verbleibenden Jahre ohne Pflegebedürftigkeit zum Alter 65 bestimmt.Zur Berechnung der altersspezifischen Pflegerisiken, siehe Haan und Schaller a.a.O., Fußnote 8.
Um statistische Unsicherheiten adäquat widerzugeben, werden die Standardfehler beziehungsweise Konfidenzintervalle der Differenzen in den Pflegerisiken zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen mithilfe eines Resampling-Verfahrens (Bootstrapping) mit 1000 Replikationen geschätzt.
Außerdem haben Menschen, die Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hatten, ein deutlich höheres Pflegerisiko. Für Frauen erhöht sich dieses um rund zwei, bei Männern sogar um knapp drei Prozentpunkte. Bei einer Erwerbsminderung wird eine gesundheitlich eingeschränkte Erwerbsfähigkeit vorausgesetzt. Insofern ist es nicht überraschend, dass die Risiken von Erwerbsminderung und Pflegebedürftigkeit zusammenhängen.
Es zeigen sich keine Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Für Männer mit einem direkten Migrationshintergrund ist das Pflegerisiko um rund zwei Prozentpunkte geringer als das von Personen ohne Migrationshintergrund. Bei Frauen zeigt sich kein derartiger Unterschied.
Die bisherigen Ergebnisse haben dokumentiert, dass es systematische sozioökonomische Unterschiede beim Pflegerisiko gibt. Damit verbunden ergeben sich gruppenspezifische Differenzen, ab welchem Alter Menschen pflegebedürftig werden. So wie sich die Lebenserwartung nach Einkommen, Belastung und Stellung im Beruf unterscheidet, ist auch die erwartete Lebensdauer ohne Pflegedürftigkeit ungleich verteilt. Diese Effekte werden auf Basis von Ereignisanalysemodellen untersucht (Kasten 2).Bei den Ergebnissen handelt es sich um eine deskriptive Analyse der Heterogenität in den differenzierten Mustern von Pflegerisikoprofilen zwischen unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppen. Es können hierbei keine Kausalzusammenhänge statistisch identifiziert werden.
Die Lebensjahre ohne Pflegebedarf nach dem Alter von 65 Jahren unterscheiden sich zwischen den zu diesem Referenzalter bestimmten Einkommensgruppen (Abbildung 1). Wohlhabende mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens werden erst im höchsten Alter pflegebedürftig. Sie werden daher als Referenzgruppe gewählt. Für die anderen Einkommensgruppen wird errechnet, um wie viele Jahre früher sie im Vergleich zu den Wohlhabenden pflegebedürftig werden.
Das individuelle Pflegerisiko ist umso höher, je niedriger die Position in der Einkommensverteilung ist. Bei Männern, die armutsgefährdet sind (weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens), tritt eine Pflegebedürftigkeit durchschnittlich knapp sechs Jahre früher auf als bei wohlhabenden Männern (150 Prozent des mittleren Einkommens). Und auch bei geringem Einkommen (60 bis 80 Prozent des mittleren Einkommens) werden Männer immerhin noch gut drei Jahre früher pflegebedürftig. Ebenso bestehen deutliche Unterschiede von etwa 1,7 beziehungsweise 2,5 Jahren bei den mittleren Einkommensgruppen. Bei Frauen fallen die Diskrepanzen, wenngleich mit ähnlicher Tendenz, insgesamt geringer aus. Für die unteren drei Einkommensgruppen ergibt sich im Vergleich zu den wohlhabenden Haushalten durchschnittlich bereits über drei Jahre früher eine Pflegebedürftigkeit.Bei der Interpretation der Ergebnisse müssen die ebenfalls dargestellten 95-Prozent-Konfidenzintervalle berücksichtigt werden. Diese werden auf Grundlage der durch das Bootstrapping-Verfahren berechneten Standardfehler erstellt und deuten an, sofern sie den Wert Null nicht einschließen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit von statistischen Differenzen in den betrachteten Lebenserwartungen ausgegangen werden kann. In der vorliegenden Betrachtung ist dies für Männer in allen Einkommensgruppen der Fall, bei Frauen gilt dies jedoch nicht für die mittleren Einkommen zwischen 100 und 150 Prozent des Medians.
Frühere Studien haben gezeigt, dass Beamte und Beamtinnen die höchste fernere Lebenserwartungen zum Alter von 65 Jahren haben.Die fernere Lebenserwartung beschreibt, wie viele Lebensjahre beispielsweise eine 65-jährige Person im Durchschnitt noch vor sich hat. Siehe dazu Ralf K. Himmelreicher (2008): Die fernere Lebenserwartung von Rentnern und Pensionären im Vergleich. WSI-Mitteilungen Nr. 5: 274–280 (online verfügbar); Gabriele Doblhammer, Elena Muth und Anne Kruse (2008): Abschlussbericht Lebenserwartung in Deutschland. Trends, Prognose, Risikofaktoren und der Einfluss ausgewählter Medizininnovationen. Studie des Rostocker Zentrums zur Erforschung des demografischen Wandels im Auftrag des VFA, Rostock (online verfügbar). Das Gleiche lässt sich auch für die verbleibenden Jahre ohne Pflegebedarf sagen. Dementsprechend wird diese Gruppe als Referenz gewählt und die Unterschiede zu den weiteren beruflichen Stellungen dargestellt (Abbildung 2). Die größten Unterschiede ergeben sich hierbei bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, die durchschnittlich etwa vier Jahre früher pflegebedürftig werden. Die Differenzen zu den anderen Berufsgruppen sind bei Männern und Frauen geringer und nicht mehr statistisch messbar.
Innerhalb einer Berufsgruppe können die Arbeitsbelastungen je nach Tätigkeitsbereich variieren und somit auch mit einem unterschiedlichen Pflegerisiko zusammenhängen. Daher werden die langfristigen Gesundheitswirkungen der körperlichen und psychosozialen Arbeitsbelastungen auf den Pflegebedarf analysiert (Abbildung 3). Das Pflegerisiko ist bei der Gruppe mit geringeren Belastungen am niedrigsten und entsprechend wurde diese als Referenz gewählt. Im Vergleich zu ihr unterscheidet sich der Eintritt des Pflegebedarfs für Männer mit mittleren und hohen Belastungen deutlich: Rund 3,2 Jahre beziehungsweise 4,7 Jahre früher werden sie pflegebedürftig. Bei Frauen fallen die Diskrepanzen geringer aus und sind nur noch für die hohe Belastungsgruppe mit 2,7 Jahren statistisch verlässlich zu messen.Männer sind häufiger als Frauen in Erwerbsverhältnissen beschäftigt, die von explizit hohen Arbeitsbelastungen geprägt sind. Diese hohen Belastungen resultieren weitestgehend aus den physischen Komponenten. Siehe hierzu Peter Haan und Maximilian Schaller (2021), a.a.O.
Das deutlich höhere Pflegerisiko von Menschen mit Erwerbsminderungsrente führt auch dazu, dass sie weniger Lebensjahre ab dem Alter von 65 Jahren bis zur Pflegebedürftigkeit verbringen (Abbildung 4). Für Männer, die zuvor eine Erwerbsminderungsrente bezogen haben, ist die Anzahl der verbleibenden Lebensjahre bis zum Eintritt eines Pflegebedarf um durchschnittlich 2,9 Jahre geringer als bei Männern ohne einen solchen sozialrechtlichen Status. Bei Frauen beträgt der Unterschied etwa zwei Jahre.
Es zeigen sich auch Unterschiede nach dem Versicherungsstatus (Abbildung 5). Menschen mit einer gesetzlichen Pflegeversicherung haben deutlich weniger Lebensjahre bis zur Pflegebedürftigkeit als Menschen, die eine private Pflegeversicherung haben. Bei Männern beträgt der Unterschied über drei Jahre. Bei Frauen sind es gut zwei Jahre.
Zahlreiche Studien dokumentieren, dass ärmere Personen in Deutschland eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als Personen mit höheren Einkommen. Dieser Wochenbericht zeigt, dass sie zudem ein höheres Pflegerisiko haben und früher pflegebedürftig werden. Ärmere Menschen leben also nicht nur kürzer, sie haben auch meist weniger Lebensjahre, in denen sie nicht auf die Pflege durch andere angewiesen sind, als Besserverdienende. Gleiches gilt für Arbeiter und Arbeiterinnen im Vergleich zu Beamten und Beamtinnen sowie für Menschen mit hohen Arbeitsbelastungen im Vergleich zu Personen mit niedrigen beruflichen Belastungen. Pflegebedürftigkeit hängt also nicht nur vom Alter ab und tritt auch nicht zufällig auf. Im Gegenteil: Die Pflegebedürftigkeit wird durch Gesellschaft, Einkommen und Arbeitswelt beeinflusst.
Die gesetzliche Pflegeversicherung in Deutschland deckt nur einen Teil der Pflegekosten ab. Bei stationärer, teilstationärer und ambulanter Pflege fallen daher erhebliche private Kosten an. Informelle Pflege geht zudem häufig mit zeitlichen, physischen und psychischen Belastungen der pflegenden Angehörigen einher. Da Menschen mit geringen Haushaltseinkommen oder einer hohen Belastung im Beruf ein höheres Pflegerisiko aufweisen, treten die Kosten für diese Gruppe häufiger auf und reduzieren die ohnehin geringeren verfügbaren Einkommen.Diese Haushalte verfügen zudem über ein geringeres Vermögen als andere Haushalte: Johannes Geyer (2015): Einkommen und Vermögen der Pflegehaushalte in Deutschland. DIW Wochenbericht Nr. 14/15, 323–328 (online verfügbar).
Die bestehenden sozialen Sicherungssysteme kompensieren diese ungleichen Belastungen nur teilweise. Die gesetzliche Pflegeversicherung unterstützt die Pflegebedürftigen vor allem mit dem einkommensunabhängigen Pflegegeld und Sachleistungen. Diese Leistungen decken aber nur den geringeren Teil der Kosten. Zudem übernimmt die Sozialhilfe in Form von „Hilfe zur Pflege“ die Pflegekosten, wenn ein Haushalt die privaten Kosten nicht tragen kann.Vor allem in den Pflegeheimen ist der Anteil der Personen, die Hilfe zur Pflege beziehen hoch, er liegt bei knapp 40 Prozent (Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2019. Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Datenlizenz by-2-0; eigene Berechnung).
Um die Ungleichheit, die durch das unterschiedliche Pflegerisiko entsteht, zu reduzieren, sind daher sozialpolitische Reformen notwendig. Eine langfristige und nachhaltige Politik muss schon in der Erwerbsphase ansetzen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Pflegerisiko stark nach der Belastung im Beruf unterscheidet. Die Rolle der Belastung im Beruf zeigt sich auch dadurch, dass Personen, die auf Grund starker gesundheitlicher Einschränkungen früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen und Erwerbsminderungsrente beziehen, ebenfalls ein erhöhtes Pflegerisiko haben. Es ist daher wichtig schon während der Erwerbsphase anzusetzen und Konzepte zu entwickeln, die die Belastung während der Erwerbstätigkeit reduzieren, sodass das Pflegerisiko präventiv reduziert wird. Diese Ansatzpunkte werden gerade in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger und entsprechen dem Bedürfnis der betroffenen Menschen, die länger selbstständig ihren Alltag bewältigen möchten.
Allerdings wirken diese Maßnahmen erst langfristig. Um die Ungleichheit, die durch das unterschiedliche Pflegerisiko entsteht, kurzfristig zu reduzieren, müssen die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung ausgebaut werden und auch die Qualität und das Angebot in der Pflege erhöht werden. Diese Reformen kosten jedoch Geld. Daher könnte statt einer generellen Erhöhung der Leistung auch innerhalb des Pflegesystems umverteilt werden. Private Zuzahlungen können beispielsweise stärker vom verfügbaren Einkommen abhängig gemacht werden. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag einer Bürgerversicherung, also der Verbindung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, da das Pflegerisiko von Menschen mit privater Pflegeversicherung deutlich geringer ist als bei Menschen mit gesetzlicher Versicherung. Bei allen finanziellen Reformen muss aber auch stärker darauf geachtet werden, dass Menschen mit einem hohen Pflegerisiko, aber geringen Einkommen, die gleiche Qualität der Pflege bekommen, wie Menschen mit höheren Einkommen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: I10;I14
Keywords: SOEP, Long-term care, Inequality
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-44-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/248521