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Soziale Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für das Vertrauen in die Demokratie: Interview

DIW Wochenbericht 7 / 2022, S. 107

Stefan Liebig, Erich Wittenberg

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Herr Liebig, Sie haben anlässlich des Welttags der sozialen Gerechtigkeit Daten aus mehreren europäischen Ländern untersucht. Ein Fokus liegt auf der Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Wie schätzen die europäischen Bürgerinnen und Bürger die Arbeitsmarktchancen ein? Wir haben für diese Studie im Rahmen des European Social Survey 2018/2019 knapp 50000 Personen nach zwei Aspekten der Chancengerechtigkeit gefragt: Wie bewerten Sie Ihre eigenen Chancen am Arbeitsmarkt und wie bewerten Sie ganz allgemein die Arbeitsmarktchancen in Ihrem Land? Bezüglich der eigenen Chancen sagen 50 Prozent der Befragten, dass sie eine faire Chance am Arbeitsmarkt haben, wenn sie sich jetzt eine neue Arbeitsstelle suchen würden. Aber nur noch 26 Prozent sagen, dass in ihrem Land alle eine faire Chance hätten, einen Arbeitsplatz zu bekommen.

Welche Personengruppen schätzen die Gerechtigkeit ihrer eigenen Chancen als besonders niedrig ein? Insbesondere Personen mit Migrationshintergrund nehmen ihre eigenen Chancen deutlich geringer wahr, schätzen aber auf der anderen Seite die Chancen allgemein in der Gesellschaft durchaus als höher ein. Hier sehen wir genau dieses Auseinanderdriften von der Bewertung der eigenen Situation und der Bewertung der Situation in der Gesellschaft. Negativ bewerten ihre Arbeitsmarktchancen auch Frauen und Personen mit schlechter Gesundheit, ebenso Personen, die Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit haben. Umgekehrt ist es bei Personen mit Hochschulabschluss. Sie bewerten die Arbeitsmarktchancen in der ganzen Gesellschaft weniger positiv als die eigenen.

Wie groß sind in dieser Frage die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern? Wir haben hier ein ganz klares Muster. In den Ländern Nord- und Mitteleuropas werden die Arbeitsmarktchancen positiver wahrgenommen, sowohl die eigenen als auch die in der Gesellschaft. Eine negativere Wahrnehmung der Arbeitsmarktchancen beobachten wir in Ost- und Südeuropa.

Ein anderer Punkt, der untersucht wurde, ist die Diskriminierung. Hat das Gefühl der Diskriminierung in den von Ihnen untersuchten Ländern zugenommen? Seit 2008 beobachten wir, dass die wahrgenommene Diskriminierung ansteigt, insbesondere dort, wo es um die eigene Diskriminierung geht und dort insbesondere bei Frauen. Bei Frauen mit Migrationshintergrund ist das Gefühl, generell diskriminiert zu sein, am meisten gestiegen. Auch hier finden wir ein Muster, aber in diesem Fall umgekehrt, weil wir in den nord- und mitteleuropäischen Ländern eine höhere Sensibilität gegenüber Diskriminierung der eigenen Gruppe beobachten.

Inwieweit gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Diskriminierung und dem mangelnden Vertrauen in die Chancengerechtigkeit? Wir beobachten, dass Frauen ihre eigenen Chancen am Arbeitsmarkt weniger positiv einschätzen. Aber im Unterschied zu den Informationen über die subjektive Diskriminierungserfahrung haben wir hier keine Längsschnittdaten. Von daher können wir nicht sagen, ob die Wahrnehmung der Chancengerechtigkeit über die Zeit zu- oder abgenommen hat. Aber es liegt eigentlich auf der Hand, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Der vielleicht noch interessantere Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Chancengerechtigkeit, sowohl der eigenen als auch der im Land, ist eigentlich der Zusammenhang mit dem Vertrauen in die Demokratie, denn dort wo wir eine positive Einschätzung der Chancengerechtigkeit beobachten, finden wir auch ein höheres Vertrauen in die Demokratie. Wir sind der Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit die Voraussetzung dafür ist, dass Personen Vertrauen in die Demokratie haben und sich entsprechend politisch beteiligen.

O-Ton von Stefan Liebig
Soziale Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für das Vertrauen in die Demokratie - Interview mit Stefan Liebig

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