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Wohlstand ist viel mehr als Vermögen und geringe Inflation

Blog Marcel Fratzscher vom 15. April 2022

Friedrich Merz hat eine wichtige Debatte über Wohlstand angestoßen. Je nach Definition ist Deutschland aber eher einem Tiefpunkt als einem Höhepunkt nahe.

Dieser Beitrag erschien am 15. April 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Mit einem Satz hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sehr starke, aber unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. "Wir haben wahrscheinlich – jedenfalls für eine gewisse Zeit – den Höhepunkt unseres Wohlstands hinter uns." Er bezieht sich vor allem auf die hohe Inflation und den Ausblick für das Wirtschaftswachstum. Die unterschiedlichen Reaktionen sind vor allem der Frage geschuldet, wie wir als Gesellschaft Wohlstand definieren. Und ob das letzte Jahrzehnt wirklich so viel Wohlstand für alle geschaffen hat, dass wir heute überhaupt von einem "Höhepunkt unseres Wohlstands" sprechen können. Diese Debatte offenbart einen grundlegenden Dissens in der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, der für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands entscheidend sein wird.

Die Perspektive von Friedrich Merz scheint stark von der Betrachtung des Wirtschaftswachstums, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), und der Inflation der Verbraucherpreise dominiert zu sein. In der Tat hat Deutschland ein starkes Wirtschaftswachstum in den 2010er-Jahren erlebt. Die deutsche Wirtschaft hat sich zum Exportweltmeister entwickelt und Rekordüberschüsse bei den Exporten realisiert. Der deutsche Staat hat lange Zeit das Dogma der Schwarzen Null verfolgt, demzufolge Schulden schädlich sind und den Wohlstand verringern. Deutsche Bürgerinnen und Bürger sind Sparweltmeister, in kaum einem Land legen die Menschen so viel Geld zurück. Die privaten Vermögen sind stark gestiegen. Selbst in der Pandemie haben Milliardäre mehr als 100 Milliarden Euro an zusätzlichem Vermögen aufgebaut.

Kein Erfolg für alle

Selbst wenn man diese Fakten als Erfolg sieht, so muss man fairerweise betonen, dass bei Weitem nicht alle Menschen an diesem vermeintlichen Erfolg teilhaben konnten. Denn Deutschland hat noch immer einen der größten Niedriglohnbereiche in Europa, das Armutsrisiko hat weiter zugenommen, obwohl sich die Arbeitslosigkeit verringert hat. 40 Prozent der Deutschen haben praktisch kein Erspartes, weil sie ihr monatliches Einkommen ausschließlich für den Lebensunterhalt benötigen. Das Glück der Eigentümer, dass Immobilien an Wert gewinnen, ist gleichzeitig das Pech der Mieterinnen, die meist eh nicht nur wenig haben, sondern deutlich höhere Wohnkosten zahlen müssen. Die Lebensgrundlage vieler hat sich verschlechert: Die Infrastruktur bei Bildung und Verkehr ist weiter verfallen. Zudem hat Deutschland eine der schlechtesten digitalen Infrastrukturen in Europa.

Der grundlegendere Dissens ist, ob wir Wohlstand wirklich in Form von Geld, Erspartem, Vermögen und Schulden messen wollen. Die große Mehrheit der Menschen gibt bei Umfragen an, dass materieller Wohlstand und Geld nur eine begrenzte Bedeutung für sie haben. Die meisten antworten, dass Gesundheit, eine intakte Umwelt, ein geschütztes Klima, sozialer Frieden und Solidarität, Freiheit und Eigenverantwortung sowie Gerechtigkeit für sie eine große Rolle spielen.

Wenn man Wohlstand somit danach definiert, was den Menschen wichtig für ihr Glück und ihre Zufriedenheit ist, dann ist Deutschland heute wohl kaum auf einem Höhepunkt, sondern eher einem Tiefpunkt nahe. Mehr als 130.000 Menschen in Deutschland sind an oder mit Covid-19 gestorben, fast 19 Millionen haben sich infiziert, viele davon sorgen sich um dauerhafte Gesundheitsschäden. Die soziale Polarisierung in Deutschland ist gestiegen. Die Ungleichheit bei den Bildungschancen ist hoch und hat mit der Pandemie nochmals zugenommen. Frauen sind deutlich stärker belastet worden.

Der Klimawandel zeigt sich in immer zerstörerischen Naturkatastrophen, die nun auch vor Deutschland keinen Halt mehr machen, wie das Ahrhochwasser gezeigt hat. Demokratie und Freiheit sind weltweit auf dem Rückzug. Mit der Pandemie sind über 100 Millionen Menschen wieder in absolute Armut gefallen. Und der Krieg Russlands gegen die Ukraine berührt auch die Menschen in Deutschland. Kurzum, die gegenwärtige Inflation ist sicherlich schädlich für den Wohlstand. Zum Wohlstand gehört jedoch so viel mehr als ein hohes finanzielles Vermögen und eine geringe Inflation.

Entscheidend für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik

Die Uneinigkeit über die Definition von Wohlstand wird entscheidend für die Ausrichtung der künftigen Wirtschaftspolitik Deutschlands sein. Denn ein maximales Wachstum vom Bruttoinlandsprodukt, von Finanzvermögen und Erspartem erfordert eine komplett andere Wirtschaftspolitik als Klima- und Umweltschutz, sozialer Friede, Gesundheit oder Generationengerechtigkeit. Die Logik des CDU-Parteivorsitzenden erfordert einen harten Sparkurs des Staates, einen möglichst schnellen Schuldenabbau, Steuersenkungen und ein Festhalten am Wirtschaftsmodell Deutschlands mit seiner Abhängigkeit von Russland oder China.

Eine breite Definition von Wohlstand dagegen würde die gegenteilige Wirtschaftspolitik beinhalten. Der Staat müsste jetzt massiv in die ökologische, soziale und digitale Transformation, in Bildung, Forschung und Sicherheit investieren. Er müsste dafür deutlich mehr Schulden akzeptieren und starke Schultern mit höheren Steuern belasten. Er müsste das Wirtschaftsmodell Deutschlands reformieren, die europäische Integration stärken und die Außenwirtschaftspolitik werteorientiert gestalten.

Die Frage, wie wir als Gesellschaft Wohlstand definieren, ist mit entscheidend für die wirtschaftspolitische Zukunft Deutschlands. Friedrich Merz hat mit seiner mutigen Aussage einen Nerv getroffen und einen wichtigen Dialog angestoßen. Trotzdem gilt es klarzustellen, dass Wohlstand so viel mehr ist als lediglich materieller Wohlstand in Form von Geld, Vermögen oder Erspartem. Das muss die Wirtschaftspolitik in Zukunft viel stärker leiten.

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