Blog Marcel Fratzscher vom 4. Mai 2022
Dieser Beitrag erschien bei Zeit Online.
Die Debatte über die Rolle von Deutschland und dem Westen im Ukraine-Krieg wird zu unsachlich geführt. Am Ende spaltet diese Auseinandersetzung die Gesellschaft.
Sowohl ein offener Brief von 28 Intellektuellen, Künstlerinnen und Künstlern sowie ein Beitrag des Philosophen Jürgen Habermas plädieren für einen moderaten Kurs der Bundesregierung im Ukraine-Krieg und haben eine kontroverse und wichtige Debatte zu Deutschlands Umgang mit diesem Krieg angestoßen. Zahlreichen Kommentatoren jedoch geht es nicht um die Argumente, sondern sie attackieren die Integrität und die Lebensleistung der Autorinnen und Autoren, vor allem die von Jürgen Habermas. Eine solche Diffamierung macht es immer schwerer, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Sie spielt letztlich Putins Ziel in die Hände: die westliche Gesellschaft zu spalten und handlungsunfähig zu machen.
Dabei gerät aus dem Fokus, wie wertvoll beide Beiträge sind, weil sie drei zentrale Fragen stellen. Und es ist wichtig, darüber kontrovers und sachlich zu diskutieren, auch wenn man, so wie ich, nicht alle Antworten und Schlussfolgerungen teilen mag.
Dieser Beitrag erschien am 03. Mai 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die erste zentrale Frage der Beiträge ist: Was ist unsere westliche und unsere deutsche Verantwortung in diesem Krieg? Vor allem Deutschland hat aus seiner Vergangenheit eine besondere Verantwortung für den Frieden in Europa und auch für die Ukraine. Dazu gehört auch die wirtschaftspolitische Entscheidung der letzten zwei Jahrzehnte, sich bewusst immer stärker von russischem Gas und Öl abhängig zu machen, was letztlich Putin möglich gemacht hat, den Krieg zu finanzieren. Die Autoren fragen zu Recht, wo die Grenzen unserer Verantwortung liegen. Was können und wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur im Westen, sondern auch in der Ukraine zumuten? Darüber kann und muss man inhaltlich streiten.
Die zweite Frage ist: Wie weit will der Westen mit seiner militärischen Unterstützung für die Ukraine gehen? Viele Menschen kritisieren die Bundesregierung, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern, um nicht einen dritten Weltkrieg zu riskieren. Niemand weiß, ob oder ab wann eine solche Unterstützung das russische Regime veranlasst, den Konflikt auf Nato-Länder auszuweiten oder ABC-Waffen einzusetzen. Doch die Schuld für eine solche Eskalation läge zweifelsohne beim russischen Regime. Zugleich kann sich auch der Westen seiner Verantwortung nicht entledigen.
Man kann die Frage der militärischen Unterstützung völlig unterschiedlich und legitim beantworten. Wieso sollte man beispielsweise bei der Lieferung von schweren Waffen haltmachen? Die Ukraine wünscht sich auch die Umsetzung einer Flugverbotszone durch die Nato, was uns zum Kriegsgegner Russlands machen würde. Sollte der Westen nicht – wie der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz bei ZEIT ONLINE argumentiert – viel stärker auf Konfrontation und Abschreckung setzen, um das Putin-Regime an einer weiteren Konfrontation zu hindern? Doch ist die Lieferung von schweren Waffen nicht jetzt schon ein Schritt zu weit, um eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern? Diese Fragen kann niemand mit Sicherheit beantworten und dennoch sind sie von großer Bedeutung.
Die dritte zentrale Frage ist: Was soll für uns als Europäer und Europäerinnen sowie als Deutsche das Ziel sein? Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann sieht – als Reaktion auf die Beiträge – die "vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine" als das einzig mögliche Ziel für den Westen. So wünschenswert dies ist, aber ist das realistisch? Hier zeigen sich die Widersprüche mancher Positionen. Hier hochgesteckte Ziele – da nur reduzierte Instrumente, die wir gewillt sind einzusetzen. Je stärker die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Zielen und Grenzen der Unterstützung, desto stärker könnten wir später gezwungen sein, Abstriche in den Friedensverhandlungen zu machen.
Hysterie und Emotionalität bestimmen nicht nur den gesellschaftlichen, sondern auch den wissenschaftlichen Diskurs. Derzeit leisten die Wirtschaftswissenschaften mit ihren Analysen und Modellen einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um die Auswirkungen eines Embargos gegen russische Energieexporte. Meine Kritik aber richtet sich an die Kommunikation dieser exzellenten wissenschaftlichen Arbeiten. Wir als Wissenschaft müssen offener und ehrlicher klarstellen, dass unsere Analysen nur ungenau sein können und unsere Unwissenheit bei wichtigen Elementen groß ist.
Denn die Frage eines Embargos inmitten eines Kriegs hat es so noch nie gegeben, und die Komplexität der Analysen ist hoch. Darum sollte die Wissenschaft auch keine Forderungen an die Politik richten, sondern gut fundierte Handlungsoptionen aufzeigen. Die Anmaßung von Wissen und abgeleitete Werturteile können somit schnell kontraproduktiv werden, weil sie es der Politik leichter machen, sie zu ignorieren. Genau das passiert nun zum Teil.
Die Verrohung der Debatte und der Versuch, mentale Scheuklappen aufzusetzen, verschärfen die gesellschaftliche Spaltung und gefährden letztlich die Handlungsfähigkeit des Westens im Ukraine-Krieg. Damit wird das Ziel eines schnellen und für die Ukraine erfolgreichen Endes des Kriegs immer schwerer zu erreichen sein. Wir brauchen dringend eine Versachlichung des Diskurses, der wieder stärker auf Fakten basiert sein muss und nicht auf der Anmaßung von Wissen und Rechthaberei. Der Brief der 28 Intellektuellen und der Beitrag von Jürgen Habermas sind wichtig für diesen Diskurs, weil sie die richtigen Fragen stellen – auch und gerade wenn man ihren Antworten widersprechen mag.
Themen: Energiewirtschaft , Europa , Ressourcenmärkte