Blog Marcel Fratzscher vom 19. August 2022
Der Fachkräftemangel lässt sich besser bekämpfen als mit der Rente ab 70. Die Regierung muss endlich die Hürden für Frauen auf dem Arbeitsmarkt aus dem Weg räumen.
Rente ab 70 und 42 Stunden Wochenarbeitszeit – diesen Vorschlag verbreitete Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf vor den anstehenden Tarifverhandlungen. Damit will er den Arbeitskräftemangel lindern und künftigen Belastungen der Sozial – und Rentenkassen vorbeugen. Die Maßnahmen werden jedoch kaum zu einer nachhaltigen Lösung des Problems beitragen, weil sie unrealistisch sind und an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen vorbei gehen.
Sehr viel sinnvoller dagegen wäre eine in der aktuellen Debatte häufig übersehene Maßnahme: eine strukturelle Stärkung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Es ist an Politik, Unternehmen und Gesellschaft, die unzähligen Hürden für Frauen auf dem Arbeitsmarkt aus dem Weg zu räumen. Das würde nicht nur enormes wirtschaftliches Potenzial für Deutschland mobilisieren und die Sozialsysteme zukunftsfester machen, sondern auch mehr Freiheit und Chancengleichheit schaffen.
Dieser Text erschien am 19. August 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Zahlen und Fakten sind ernüchternd: Obwohl die Erwerbsquote von Frauen in Deutschland seit den Neunzigerjahren stetig gestiegen ist, arbeitet die Mehrheit der Frauen auch heute noch in Teilzeit. Nur etwa 35 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter arbeiten in Vollzeit, im Vergleich zu fast 70 Prozent der Männer. Knapp 20 Prozent der Frauen sind beruflich inaktiv und suchen auch keine Beschäftigung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass dies nicht eine Generationenfrage ist, sondern dass dieses Schema auch heute für junge Frauen (geboren nach 1980) gilt.
Die Konsequenzen dieser Beschäftigungsstruktur sind dramatisch. So verdienen Frauen über ihr gesamtes Erwerbsleben zwischen 40 Prozent (Ostdeutschland) und 45 Prozent (Westdeutschland) weniger als Männer. Frauen erhalten durchschnittlich weniger als halb so viel Rente wie Männer. Sie haben ein deutlich höheres Armutsrisiko, auch weil 40 Prozent der Ehen geschieden werden. Da staatliche Leistungen nur einen geringen Teil dieser Verluste auffangen können, erfahren viele Frauen dadurch einen erheblichen Rückgang ihres Lebensstandards.
Geringere Einkommen, Armut, und eine Abhängigkeit vom Sozialstaat sind mit einer hohen psychischen Belastung, weniger Lebenszufriedenheit und einer schlechteren Gesundheit verbunden. Somit entsteht nicht nur vielen Frauen selbst, sondern auch uns als Gesellschaft ein enormer Schaden.
Umfragen zeigen, dass dies nicht so sein muss und Frauen diese geringere Erwerbsbeteiligung nicht aktiv wählen. Vielmehr tragen wir als Gesellschaft eine erhebliche Verantwortung dafür. Viele erwerbstätige Frauen geben an, gerne mehr Stunden arbeiten zu wollen. Frauen, die inaktiv oder arbeitslos sind, würden gerne eine Beschäftigung aufnehmen. Sie klagen jedoch über viele Hürden, die es für sie wenig attraktiv oder gar unmöglich macht, zu arbeiten.
Die Hürden auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind auch im internationalen Vergleich relativ zahlreich und dazu außergewöhnlich hoch. So sind Löhne und Arbeitseinkommen für Frauen häufig deutlich geringer als für Männer. Deutschland hat einen der größten Gender-Pay-Gaps (Unterschied im Stundenlohn zwischen Männern und Frauen) in Europa, was nicht nur mit dem hohen Teilzeitanteil von Frauen zu tun hat. Auch die vergleichsweise hohe Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und die geringere Bezahlung von Berufen, die primär von Frauen geleistet werden, tragen zum Geschlechterunterschied bei den Stundenlöhnen bei.
Viele weitere Hürden finden sich im deutschen Steuersystem. Das Ehegattensplitting und die Möglichkeit der Mitversicherung führt dazu, dass Erwerbsarbeit sich für viele Frauen überhaupt nicht oder nur in Teilzeit lohnt. Konkret bedeutet das Ehegattensplitting, bei dem Mann und Frau ihre Steuer gemeinsam veranlagen, dass Frauen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 40.000 Euro durchschnittlich doppelt so viele Steuern zahlen wie Männer.
Auch das deutsche Minijob-Modell setzt Anreize, einer geringfügigen Beschäftigung mit meist geringerem Lohn nachzugehen. Es gibt fast sieben Millionen Minijobberinnen und Minijobber in Deutschland. Diejenigen, deren Haupterwerb der Minijob ist, sind überwiegend Frauen.
Neben der schlechten Bezahlung und steuerlichen Fehlanreizen spielt auch die geringe Wertschätzung eine zentrale Rolle. So zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dass sogenannte systemrelevante Berufe in Deutschland – also jene Berufe, die in der Pandemie so essenziell waren – generell schlechter bezahlt werden, weniger Wertschätzung erhalten und vorwiegend von Frauen gemacht werden. Auch die geringeren Karrierechancen für Frauen begrenzen die Anreize für Frauen, mehr zu arbeiten.
Die noch immer völlig unzureichende Infrastruktur bei Kitas und Schulen trägt ebenfalls dazu bei, dass Frauen ihr Erwerbspotenzial nicht ausschöpfen können. Insbesondere fehlt es an Ganztagsplätzen. Und selbst wenn diese vorhanden sind, trägt deren mäßige Qualität häufig dazu bei, dass Mütter weniger oder gar nicht arbeiten, um sich mehr um die eigenen Kinder kümmern zu können.
Die Situation spiegelt die in der Breite unserer Gesellschaft vertretenen Werte: Noch immer kommt Frauen eine deutlich größere Rolle bei der Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen zu als Männern. Diese Werte ändern sich langsam, da auch immer mehr junge Väter sich stärker um die Familie kümmern wollen und ihnen die gleichen Arbeitsmarktchancen ihrer Partnerinnen wichtig sind.
Es geht darum, alle Menschen in der Gesellschaft mit den gleichen Chancen und Freiheiten auszustatten, sodass jede und jeder individuell für sich und seine Familie entscheiden kann. Hierbei gilt es erneut festzustellen: Kaum ein modernes Land der Welt schafft so ungleiche Chancen und Freiheiten für Frauen und Männer wie Deutschland.
Politische Handlungsmöglichkeiten gibt es genug. Die Regierung sollte Minijobs abschaffen oder in sozialversicherungspflichtige Midijobs überführen, zumindest für die Menschen, denen sie als Haupterwerb dienen und das Ehegattensplitting reformieren. Außerdem brauchen wir eine Infrastruktur an Kitas und Schulen, die Eltern wirklich wählen lässt, wie viel sie arbeiten wollen. Der Staat sollte dafür sorgen, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt seltener diskriminiert werden. Und er könnte selbst damit anfangen, die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen etwa in den Bereichen Pflege, Gesundheit und Erziehung zu verbessern, sodass auch für diese typischen Frauenberufe wieder mehr Wertschätzung entstehen kann.
Das größte Potenzial auf dem Arbeitsmarkt Deutschlands sind die vielen Frauen, die meist gut ausgebildet sind und mehr arbeiten möchten. Politik, Unternehmen und Gesellschaft sollten ihnen dringend dabei helfen, indem sie die vielen Hürden dafür aus dem Weg räumen. Die Lösungen dafür sind vorhanden. Dies würde für viele Millionen Frauen in Deutschland mehr Freiheit und Chancen bedeuten und wäre ein riesiger Gewinn für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Familie