Medienbeitrag vom 25. April 2022
Soll das Renteneintrittsalter flexibilisiert werden? Die Zweifel überwiegen
Eine Anhebung des Renteneintrittsalters haben im Wahlkampf alle Parteien ausgeschlossen. Stattdessen will die Koalition den freundlich klingenden „flexiblen Renteneintritt nach skandinavischem Vorbild“ prüfen. Neben der gewonnenen Freiheit helfe die Flexibilisierung – so der politische Wunsch –, Menschen länger im Beruf zu halten. Durch die Möglichkeit gezielter Arbeitszeitreduktion sollen Erwerbstätige länger körperlich und psychisch in der Lage sein, ihrem Beruf nachzugehen. Ein anteiliger Rentenbezug kann in diesem Fall das wegfallende Erwerbseinkommen ausgleichen. Auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze soll es einfacher werden, erwerbstätig zu sein. Auf den ersten Blick ist das Konzept überzeugend. Allerdings hat die Idee zwei Schwachstellen.
Dieser Gastkommentar von Johannes Geyer, Peter Haan und Arthur Seibold ist am 25. April 2022 in der FAZ erschienen.
Entscheidungsfreiheit führt nicht unbedingt zu höherer Beschäftigung und mehr Arbeitsstunden – eher das Gegenteil ist zu erwarten. Es gibt bisher keine belastbare Evidenz, dass Menschen durch mehr Flexibilität länger arbeiten. Bestehende Möglichkeiten wie die „Flexirente“ werden praktisch nicht genutzt. Und die etwas häufiger genutzte Altersteilzeit dient vor allem dem früheren Komplettausstieg aus dem Erwerbsleben und zum Personalabbau durch die Betriebe. Studien sprechen eher dafür, dass ein flexibles Renteneintrittsalter vor der Regelaltersgrenze die Beschäftigung reduziert. Jüngere empirische Forschung verweist auf einen wichtigen Mechanismus: Nicht nur finanzielle Anreize spielen eine Rolle. Besonders stark reagieren Menschen auf festgelegte Altersgrenzen. Sie wirken als Normen für den Erwerbsaustritt, an denen sich Menschen und Betriebe orientieren.
Viele Beschäftigte gehen an der frühestmöglichen Altersgrenze in Rente, selbst wenn eine Weiterbeschäftigung finanziell attraktiv wäre. Das spricht gegen eine Absenkung des frühestmöglichen Rentenzugangsalters. Würde man bestehende Hinzuverdienstmöglichkeiten großzügiger ausgestalten, könnte es zu zwei gegenläufigen Effekten kommen. Der frühere Rentenzugang würde attraktiver, was die Beschäftigung senken würde. Gleichzeitig stiege der Anreiz, während des Rentenbezugs zu arbeiten. Die Erfahrungen mit der Flexirente lassen aber wenig Nachfrage nach solchen Arrangements erwarten.
Ein flexibler Renteneintritt ist auch sozialpolitisch problematisch. Welche Rentenabschläge soll es bei früherem Renteneintritt geben? Die versicherungsmathematische Berechnung „korrekter“ Abschläge birgt viel Streitpotential. Die derzeitigen Abschläge werden oft als zu gering kritisiert, auch mit Verweis auf die skandinavischen Länder, die höhere Abschläge bei früherem Renteneintritt ansetzen. Höhere Abschläge würden zu geringeren Rentenanwartschaften bei vorzeitigem Renteneintritt führen und die Ungleichheit der Renteneinkommen erhöhen. Der flexible Renteneintritt ist daher ein zweischneidiges Schwert. Einerseits könnte es Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen helfen, ohne zu großen Einkommensverzicht während der Erwerbsphase die Arbeit zu reduzieren.
Andererseits führen ein reduzierter Erwerbsumfang oder der frühere Renteneintritt zu geringeren Renten. Da nicht alle Menschen optimale finanzielle Entscheidungen treffen, kann mehr Flexibilität zu nicht auskömmlichen Renten führen. Um Transferabhängigkeit durch frühen Rentenbezug zu verhindern, wird vorgeschlagen, dass Menschen mit Rentenanwartschaften unter dem Grundsicherungsniveau vom flexiblen Renteneintritt ausgenommen werden. Damit würde ein flexibler Renteneintritt jedoch der Gruppe verwehrt, die auf besondere Unterstützung angewiesen ist. Empirisch besteht ein klarer Zusammenhang zwischen geringen Renten und gesundheitlicher Beeinträchtigung, hoher Arbeitsbelastung, Berufsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit.
Angesichts der Herausforderungen durch den demographischen Wandel für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik sind andere Aspekte des Rentensystems wichtiger als die Einführung eines flexiblen Renteneintritts: Mit der Einführung der Rente mit 67 hat die Politik ein klares Signal gesetzt, allerdings nicht für das früheste Renteneintrittsalter, sondern für das normale Renteneintrittsalter. Nach diesem Alter sollten die Möglichkeiten zur Weiterarbeit verbessert werden – flexibel und mit finanziellen Anreizen. Es muss der Politik aber klar sein, dass eine wesentliche Wirkung auf die Beschäftigung längerfristig nur von einer weiteren Erhöhung der Regelaltersgrenze zu erwarten ist.
Gleichzeitig muss es Ausnahmen für Menschen geben, die es nicht schaffen, bis zur Regelaltersgrenze zu arbeiten. Sozialpolitisch ist eine auskömmliche Erwerbsminderungsrente notwendig, und nur mit dieser Absicherung kann die Erhöhung des Renteneintrittsalters umgesetzt werden. Auch die derzeitige Regelung, dass langjährig Versicherte ab dem Alter 63 mit Abschlägen in Rente gehen können zielt in diese Richtung. Diese Möglichkeit führt zwar zu einem Rückgang in der Beschäftigung, kann aber auch sozialpolitisch gut begründet werden.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Rente und Vorsorge