Blog Marcel Fratzscher vom 17. März 2023
Bundesfinanzminister Christian Lindner warnt eindringlich, dass der Anstieg der Zinskosten des Staates den finanziellen Spielraum der Bundesregierung stark einenge. Er rechtfertigt damit seine Forderung, die Staatsausgaben zu beschränken. Ist der Anstieg der Zinskosten wirklich problematisch? Und wie sollte die Bundesregierung mit der gegenwärtigen Finanzsituation umgehen?
Dieser Text erschien am 17. März 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Der Bundesfinanzminister weist zu Recht auf den starken Anstieg der Zinskosten hin. Betrugen diese im vergangenen Jahr noch weniger als 20 Milliarden Euro, so werden sie dieses Jahr bereits mit fast 40 Milliarden Euro im Bundeshaushalt veranschlagt – das ist knapp ein Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands.
Drei Argumente, die das Bild verändern, werden aber in der Diskussion häufig unter den Teppich gekehrt. Zum einen sind die Zinskosten des Staates historisch gesehen ungewöhnlich gering, obwohl die Schuldenquote, also die Verschuldung relativ zur Wirtschaftsleistung, heute mit knapp 65 Prozent weiterhin vergleichsweise hoch ist. Auf 65 Prozent Verschuldung zahlt der Staat also nur knapp ein Prozent der Wirtschaftsleistung an Zinsen. Selten war die Zinsbelastung relativ zur Wirtschaftsleistung – und auch relativ zu den Steuereinnahmen, was die relevantere Betrachtung bezüglich der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist – so gering wie heute. Selbst in den Sechziger- und Siebzigerjahren musste der Staat deutlich mehr seiner Steuereinnahmen für das Bedienen seiner Schulden entrichten. Außergewöhnlich waren vielmehr die letzten Jahre, als die Nominalzinsen ungewöhnlich niedrig waren. Es gilt also festzuhalten: Keine Panik, die gegenwärtige Finanzierung der Staatsschulden gibt überhaupt keinen Anlass zur Sorge.
Zum zweiten dürfte sich dieses positive Bild auch in den kommenden fünf bis zehn Jahren nicht grundlegend verändern. Denn der deutsche Staat konnte sich bis 2021 selbst über einen Zeitraum von zehn Jahren noch zu negativen Nominalzinsen verschulden. Eine zehnjährige Bundesanleihe, die 2020 zu negativen Nominalzinsen aufgenommen wurde, wird für den Staat bis zum Jahr 2030 keinerlei Zinsbelastung bedeuten, sondern frühestens dann, wenn die Schulden neu finanziert werden müssen. In anderen Worten: Die lange Zeit der negativen Zinsen wird sich noch viele Jahre positiv auf die Finanzierung der deutschen Staatsschulden auswirken.
Nun merken vor allem ordoliberale Kritikerinnen und Kritiker gerne an, dass niedrige Zinsen nicht garantiert sind, sondern sprunghaft steigen können, so wie dies beispielsweise in den vergangenen zwölf Monaten passiert ist. Dies ist möglich, jedoch langfristig äußerst unwahrscheinlich. Die Entwicklungen von Demografie, Ersparnissen und Wirtschaftswachstum deuten allesamt darauf hin, dass der neutrale Realzins in Deutschland und Europa auch in den kommenden zehn Jahren nahe null liegen dürfte. Bei einer Inflation von 2,5 Prozent bedeutet dies einen nominalen Zinssatz von um die 2,5 Prozent für eine zehnjährige deutsche Staatsanleihe, also keinen grundlegend anderen nominalen Zins als heute. Das sieht selbst das Bundesfinanzministerium so, das 30 Milliarden Euro an Zinskosten für 2026 prognostiziert.
Das dritte und wichtigste Argument ist aber ein anderes: Die Zinskosten können nicht isoliert von den Steuereinnahmen betrachtet werden. Wieso sind die Zinskosten für den deutschen Staat denn so stark gestiegen? Die Antwort ist: Weil die EZB wegen des starken Anstiegs der Inflation die Leitzinsen massiv erhöht hat. Die Inflation bedeutet jedoch nicht nur höhere nominale Finanzierungskosten von Schulden, sondern auch einen deutlichen Anstieg der Steuereinnahmen auf Einkommen und auch den Konsum. Die relevante Kennzahl für die Finanzierungsbedingungen des Staates ist daher der Realzins – und der war nie in den letzten 50 Jahren so stark negativ wie heute, bei einer Inflation von knapp acht Prozent im Jahr 2022, voraussichtlich mehr als fünf Prozent im Jahr 2023 und nominalen Zinsen von weniger als drei Prozent.
In anderen Worten: Schuldner und niemand mehr als der Staat sind die großen Gewinner der Inflation – weil die Inflation einerseits den realen Wert der bestehenden Verschuldung deutlich reduziert und andererseits die Steuereinnahmen des Staates deutlich verbessert und damit die Finanzierung laufender Ausgaben deutlich erleichtert. Daher ist die ausgedrückte Sorge des Bundesfinanzministers über eine steigende Zinslast eben nur eine Seite, und zwar die unwichtigere Seite der Medaille.
Der Bundesfinanzminister weiß dies und hat im vergangenen Jahr völlig zu Recht moniert, der Staat dürfe nicht Gewinner der Inflation sein und er solle die höheren Steuereinnahmen an die Bürger*innen zurückgeben. Damit rechtfertigte er sein Inflationsausgleichsgesetz, durch das vor allem Menschen mit hohen und mittleren Einkommen dauerhaft jedes Jahr um mehr als zehn Milliarden Euro entlastet werden.
Wenn es dem Bundesfinanzminister so wichtig ist, nicht Gewinner der Inflation zu sein und die Steuermehreinnahmen zurückzugeben, wieso tut er dies dann nicht für alle gleichermaßen und ausgewogen? Er könnte beispielsweise Menschen mit geringen Einkommen die Gelder über eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf nachhaltige Lebensmittel zurückgeben. Und er könnte mit seiner Zustimmung zur Kindergrundsicherung einen Teil der höheren Steuereinnahmen nutzen, um die Kinderarmut deutlich zu reduzieren und gleichzeitig den Sozialstaat langfristig finanziell sinnvoll zu entlasten und die Wirtschaft zu stärken. Stattdessen äußert er bisher Kritik an der Kindergrundsicherung und schlägt lieber eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher*innen vor, was mit über zehn Milliarden Euro jährlich genauso viel zusätzlich kosten würde wie die Kindergrundsicherung.
Der Anstieg der Zinslast des deutschen Staates ist kein Grund zur Sorge, sondern er ist das Spiegelbild der hohen Inflation und der noch stärker steigenden Steuereinnahmen. Daher sollte die Bundesregierung ihr Versprechen ernst nehmen und diese höheren Einnahmen an die Menschen zurückgeben. Die Bundesregierung würde klug handeln, wenn sie dies nicht primär – wie bisher – für Menschen mit hohen Einkommen und für Unternehmen tun würde, sondern Menschen mit mittleren und geringen Einkommen stärker entlasten würde. Die Kindergrundsicherung wäre das perfekte Instrument dafür. Es bleibt zu hoffen, dass der Bundesfinanzminister bald zu dieser Einsicht kommt.
Themen: Finanzmärkte , Geldpolitik