Direkt zum Inhalt

Die USA schaffen sie ab – Deutschland sollte »Affirmative Action« einführen!

Blog Marcel Fratzscher vom 3. Juli 2023

Die Entscheidung des US-Supreme-Courts zum Verbot von Affirmative Action, also der Auswahl von Studierenden auf Grundlage ihrer Ethnizität, schlägt hohe Wellen. Zeit für Deutschland, Lehren aus dieser Diskussion ziehen.

Dieser Gastbeitrag erschien am 1. Juli 2023 im SPIEGEL.

In Bezug auf Chancengleichheit und Diversität, gerade an Hochschulen, ist Deutschland mehr als rückständig. Selbst die Rechtfertigung des erzkonservativen Chief Justice John Roberts ist progressiver als fast alles, was wir in der Diskussion in Deutschland hören.

Rassistische Diskriminierung abschaffen

Die Mehrheitsentscheidung des Supreme Court im Fall »Students for Fair Admission (zu Deutsch: Studierende für eine faire Zulassung, Anm. d. Red.) vs. Harvard University« verbietet die Möglichkeit von Universitäten, Ethnizität als explizites Kriterium für die Aufnahme zu nutzen. Das zentrale Argument der sechs Richter der Mehrheitsmeinung ist, dass dies eine Diskriminierung darstellt, oder wie John Roberts es ausdrückt: »Eliminating racial discirimination means eliminating all of it.« Also: Wer rassistische Diskriminierung abschaffen möchte, muss sie in jeder Form abschaffen. Ein besonderer Aspekt der Klage war, die Universität Harvard diskriminiere Studierende der asiatischen Minderheit – die einen vergleichsweise hohen Bildungsgrad und häufig eine sehr hohe Repräsentation an Universitäten hat.

Praktisch mehr Vielfalt

Die Befürworter von Affirmative Action betonen vier Argumente:

  • Es schafft mehr und nicht weniger Chancengleichheit und hilft, die Diskriminierung von Minderheiten zu reduzieren,

  • mehr Diversität verbessert die Ausbildung und Qualifizierung für alle

  • und in der Forschung ist eine Vielfalt von Perspektiven, Erfahrungen und Ideen essenziell, um Fortschritt und Innovation zu fördern und damit allen Menschen zu dienen;

  • das vielleicht wichtigste Argument ist ein empirisches: Affirmative Action hat sich in der Praxis als Erfolg in Bezug auf Chancengleichheit und Vielfalt erwiesen.

Erfahrungen qua Ethnizität zählen

Obwohl die beiden Positionen fundamental gegensätzlich erscheinen, so schlägt der Supreme Court eine Brücke, wie Diversität weiterhin als wichtiges Merkmal im Bildungssystem der USA bestehen kann. So kann die Auswahl von Studierenden auf Grundlage von Erfahrungen und Herausforderungen, die Menschen durch ihre Ethnizität haben, sehr wohl weiterhin eine gewichtige Rolle spielen. Und Leistung und Qualifikation sollen auch in Zukunft nicht stumpf durch standardisierte Tests gemessen werden, sondern soziales Engagement, Motivation und persönliche Erfahrungen behalten ein erhebliches Gewicht.

Abinote als zentrales Kriterium ist veraltet

Und hier könnte es keinen größeren Unterschied zum deutschen System geben. Das für viele Hochschulen und Studienfächer zentrale Kriterium ist die Abiturnote. Dabei spielt es meist keine Rolle, ob die Abiturfächer eine Eignung für das Studienfach darstellen oder an welcher Schule und in welchem Bundesland das Abitur erzielt wurde. So ist eine Vergleichbarkeit und eine Aussage über Qualifikation und Leistung für das Studium schwierig bis unmöglich.

Hochschulen müssen sich mehr Mühe geben

Das Argument, die Abiturnote sei nun mal das einzige objektive Kriterium, ist schlichtweg falsch. Einige Hochschulen auch in Deutschland machen vor, wie man durch Auswahlgespräche, Motivationsschreiben und Tests, Eignung und Potenziale besser in Erfahrung bringt und somit eine gerechte und für alle bessere Entscheidung treffen kann. Es scheint schlichtweg Faulheit zu sein, dass viele Hochschulen sich diese Mühe nicht machen. Ihre bevorzugte Auswahlmethode sind die hohen Durchfallquoten in den ersten Semestern, sie zwingen viele zum Aufgeben oder zum Fachwechsel. Dies ist nicht nur eine höchst erniedrigende und demotivierende Erfahrung für viele Studierende, sondern auch teuer und zeitaufwendig.

74 Prozent aller Akademikerkinder beginnen ein Studium, aber nur 21 Prozent aller Arbeiterkinder

Auch Affirmative Action und Diversität – also individuelle Leistungen und Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern, die Hürden, die sie bewältigen mussten – finden meist keine Berücksichtigung im deutschen Bildungssystem. Die logische Konsequenz ist, dass die Diversität an deutschen Hochschulen und die Chancengleichheit vergleichsweise gering sind. Zahlreiche wissenschaftlichen Studien der OECD kritisieren den Mangel an Bildungschancen und sozialer Mobilität in Deutschland.

74 Prozent aller Akademikerkinder beginnen ein Studium, aber nur 21 Prozent aller Arbeiterkinder. Nur 24 Prozent der Kinder in Deutschland schaffen einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern – eine der geringsten Quoten unter den Industrieländern. Die Bildungsmobilität in Deutschland ist – trotz der Dominanz des öffentlichen Bildungssystems – fast genauso gering wie in den USA, wo private Schulen, der Wohnort und das Einkommen der Eltern für öffentliche Schulen eine wichtige Rolle spielen.

Der Übergang zum Studium ist für viele Schüler*innen nicht-deutscher Herkunft eine Hürde

Auch der Migrationshintergrund spielt in Deutschland eine entscheidende Rolle. 39 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, aber nur 20 Prozent aller in Deutschland Studierenden  heute haben eine nichtdeutsche Herkunft (dies schließt sogenannte Bildungsausländer, also Studierende, die ihren Schulabschluss im Ausland erworben haben, aus). Dabei ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte, die das Abitur oder eine Fachhochschulreife erzielen, gar nicht gering. Sondern es ist der Übergang zum Studium, der sich zu oft zu einer unüberwindbaren Hürde aufbaut.

Erfahrungen mit den Regeln für Frauen in Vorständen sind nur positiv

Eine wissenschaftliche Studie  mit Beteiligung des DIW Berlin zeigt, dass es an Informationen, Mentoring und Netzwerken für Menschen mit Migrationsgeschichte mangelt. Und es fehlt zu häufig die Ansprache und Werbung der Hochschulen – ganz anders als in den USA – um Ängste und mentale Hürden abzubauen und somit auch die Diversität an den Hochschulen zu verbessern.

Auch finanzielle Sorgen spielen eine erhebliche Rolle. Es gibt zwar praktisch keine Studiengebühren an öffentlichen Hochschulen, die finanzielle Förderung durch BaföG für viele, vor allem mit Migrationsgeschichte, ist jedoch häufig nicht sehr attraktiv. In den USA sind die Studiengebühren zum Teil astronomisch hoch, aber die Universitäten geben viele und großzügige Stipendien, die in vielen Fällen Studiengebühren und Lebenshaltungskosten abdecken.

Nun kann man einwenden, dass Deutschland schlichtweg nirgends Affirmative Action macht. Aber das stimmt nicht. Denn die Frauenquote für Vorstände und Aufsichtsräte bei größeren, mitbestimmungspflichtigen Unternehmen ist Affirmative Action. Ein äußerst hartes Instrument, das Unternehmen zwingt, Positionen nicht zu besetzen, wenn sie nicht ausreichend Frauen in ihren Leitungsgremien haben. Die Erfahrung mit dieser Quote  in Deutschland ist dabei durchweg positiv.

Die Gesellschaft würde von der Vielfalt profitieren

Und hier zeigt sich ein weiterer Widerspruch: Wir als Gesellschaft entscheiden uns – zu Recht – für Affirmative Action für Topmanagerinnen mit hohem Gehalt. Doch in den ersten 20 Jahren im Leben junger Menschen, in denen die Möglichkeiten mehr Chancengleichheit und Diversität zu schaffen viel größer sind, tun wir es nicht.

Es ist höchste Zeit, dass wir in Deutschland einen ernsthaften, auch politischen Dialog über Chancengleichheit und Diversität in der Bildung führen. Große Verbesserungen bei beiden wären in Deutschland so leicht erreichbar, auch ohne Affirmative Action. Dafür bräuchte es Transparenz, Mentoring, Netzwerke und bessere finanzielle Förderung benachteiligter junger Menschen, vor allem von solchen aus Haushalten mit weniger Bildung und mit Migrationsgeschichte. Dies betrifft vor allem auch die Hochschulen, die ihre Auswahlverfahren dringend reformieren sollten, um Leistungsgerechtigkeit zu gewährleisten.

Dies würde nicht nur mehr Fairness schaffen und Chancen für viele Menschen eröffnen – auch die Gesellschaft würde von der daraus resultierenden Offenheit und Vielfalt profitieren.

Themen: Gender , Ungleichheit

keyboard_arrow_up