Die beste Investition in die Zukunft

Blog Marcel Fratzscher vom 18. August 2023

Die Regierung sollte notwendige Wirtschaftshilfen nicht gegen eine Kindergrundsicherung ausspielen. Beides ist möglich und lohnt sich vor allem langfristig.

Die Ampel-Koalition leistet sich im Streit um die Kindergrundsicherung und steuerliche Förderung von Unternehmen wieder einmal einen für alle schädlichen Konflikt. Geld, um Kinderarmut zu bekämpfen und auch grüne Investitionen anzustoßen, ist mehr als genug vorhanden. Die Priorität für eine Bundesregierung muss immer sein: Die beste Investition ist die, die Chancen und Teilhabe vor allem der verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft verbessert. Dies gilt für kaum etwas so sehr wie für die Kindergrundsicherung. Sie würde die Kinderarmut reduzieren, Chancen für viele eröffnen und Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes einen enormen Nutzen bringen.

Dieser Text erschien am 18. August 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Bevor wir zum Streit in der Ampel-Koalition kommen, ist es wichtig, sich kurz die Zahlen und Fakten zu Kinderarmut und Kindergrundsicherung vor Augen zu führen. Die neusten verfügbaren Daten hierzu stammen aus dem Jahr 2021: Zu diesem Zeitpunkt lebten 1,9 Millionen Kinder oder Jugendliche in Armut, also jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder und jede fünfte Jugendliche. Das bedeutet, dass sie in einem Haushalt mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens wohnten. 

In Familien mit Alleinerziehenden, 95 Prozent davon sind Mütter, lag die Armutsquote mit über 38 Prozent sogar fast doppelt so hoch. Damit sind Kinder und Jugendliche häufiger von Armut betroffen als Erwachsene. Das Armutsrisiko in der gesamten Bevölkerung liegt bei 16,6 Prozent. Hinzu kommt, dass das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen seit 2010 deutlich zugenommen hat – trotz Wirtschafts- und Beschäftigungsboom. Außerdem ist in Deutschland das Armutsrisiko für Kinder und Jugendliche höher als in zwei Drittel der anderen EU-Staaten. Das ist ein Armutszeugnis für eines der reichsten Industrieländer der Welt.

Der deutsche Staat gab im vergangenen Jahr 49,2 Milliarden Euro für das Kindergeld und den Kinderzuschlag aus, das sind 1,2 Prozent der Wirtschaftsleistung oder zehn Prozent des Bundeshaushalts. Das Kindergeld von 250 Euro pro Monat bekommt jedes Kind in Deutschland, der Kinderzuschlag muss individuell beantragt werden. Nur etwa ein Drittel aller anspruchsberechtigten Eltern aber beantragen und erhalten diesen – eine Ersparnis für den Staat von 2,6 Milliarden Euro.

Elternpaare mit weniger als 900 Euro monatlichem Nettoeinkommen und Alleinerziehende mit weniger als 600 Euro haben einen Anspruch auf einen Kinderzuschlag von bis zu 250 Euro. Der gesamte Anspruch auf Kindergeld und Kinderzuschlag liegt jedoch für bedürftige Familien weit unter den 746 Euro für die Abdeckung des soziokulturellen Existenzminimums. Eine Absicherung dieses Existenzminimums für alle Kinder und Jugendlichen durch die Kindergrundsicherung würde daher erhebliche Mehrkosten verursachen, nach Schätzungen des Bündnisses für die Kindergrundsicherung und anderer bis zu 24 Milliarden Euro pro Jahr. Es würde somit die Kosten von Kindergeld und Kinderzuschlag im Bundeshaushalt um 50 Prozent erhöhen.

Der Streit um die Kindergrundsicherung lässt sich an vier zentralen Punkten festmachen. Manche Kritiker und Kritikerinnen argumentieren, die Einführung der Kindergrundsicherung würde die Arbeitsanreize der Eltern reduzieren und somit das verfügbare Einkommen weniger stark erhöhen. Für diese Behauptung gibt es jedoch keinerlei Belege, zumal die Kindergrundsicherung mit anderen Sozialleistungen so koordiniert werden kann und sollte, dass Arbeit sich weiterhin auch finanziell lohnt.

Armutsrisiko der Kinder von Alleinerziehenden würde sinken

Eine der wichtigsten Botschaften einer neuen Studie der DIW Econ, einer Tochtergesellschaft des DIW Berlin, im Auftrag der Diakonie zeigt, dass die Kindergrundsicherung ein sehr effektives Instrument sein kann. Eine Erhöhung der Auszahlung an einkommensschwache Familien von 100 Euro pro Kind und Monat würde das Armutsrisiko von über 20 Prozent auf weniger als 16 Prozent reduzieren. Es geht dabei also um knapp 450.000 Kinder und Jugendliche. Besonders stark würde das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen in Haushalten mit Alleinerziehenden sinken, von 38,7 auf 32,7 Prozent.

Ein zweites Argument der Kritikerinnen und Kritiker ist, es gäbe bessere Alternativen als die Kindergrundsicherung, um Kindern und Jugendlichen zu helfen. Es ist richtig, dass mehr Investitionen in Bildung, Schulen und Kitas und andere Hilfen von großer Bedeutung sind, um Chancen und Potenziale vor allem für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwächeren Haushalten zu erhöhen. Es ist jedoch falsch, die Kindergrundsicherung gegen andere Maßnahmen aufzuwiegen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. 

Armut bedeutet nicht nur mangelnde Chancen, sondern auch eine fehlende soziale Teilhabe. Armut bedeutet, dass betroffene Kinder und Jugendliche auch vorhandene Angebote und Möglichkeiten nicht nutzen können. Daher muss eine Kindergrundsicherung als zusätzliches Element zu einer besseren Qualität von Bildung und Chancengleichheit verstanden werden, nicht als Alternative.

Ein drittes Gegenargument, das auch Bundesfinanzminister Christian Lindner nicht müde wird zu betonen, ist: Das Geld für eine auskömmliche Kindergrundsicherung sei schlichtweg nicht vorhanden. Es ist zwar richtig, dass 24 Milliarden Euro im Maximalfall eine Menge Geld ist. Aber Bundesfamilienministerin Lisa Paus nannte zuletzt sieben Milliarden Euro an Kosten. Es geht hier jedoch auch um Prioritäten. Die Bundesregierung hat vor allem die Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener durch die Abfederung der kalten Progression jedes Jahr um 15 Milliarden Euro entlastet und will jetzt Unternehmen um weitere sechs Milliarden Euro entlasten. Hat die Entlastung von Spitzenverdienern und Unternehmen eine höhere Priorität als die Bekämpfung von Kinderarmut und der Verbesserung von Chancengleichheit?

Zum anderen müssen die Koalitionspartner der Bundesregierung diese Prioritäten nicht gegeneinander ausspielen. Die Bundesregierung sollte sich anschauen, ob sich die jeweiligen Ausgaben für Gesellschaft und Wirtschaft kurzfristig wie langfristig lohnen. Und hierbei wird klar, dass Ausgaben zur Bekämpfung von Kinderarmut die bestmöglichen Zukunftsinvestitionen für jede Regierung sind.

Die OECD schätzt die direkten Kosten durch Kinderarmut – durch die Belastung der Sozialsysteme bei Gesundheit, Bildung oder Teilhabe – in Deutschland pro Jahr auf 3,4 Prozent der Wirtschaftsleistung oder mehr als 100 Milliarden Euro. Kinder, die in Armut aufwachsen, sind weniger gesund und verursachen höhere Kosten für das Gesundheitssystem, erhalten einen schlechteren Bildungsabschluss oder schließen die Schulen häufig gar nicht ab. Sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit in Arbeitslosigkeit zu landen oder anderweitig die Sozialsysteme zu belasten. Dies sind nur die direkt messbaren finanziellen Kosten von Kinderarmut – fehlende soziale Teilhabe, Schaden für den sozialen Frieden und Solidarität oder weniger politische Teilhabe sind alles weitere Konsequenzen – nicht nur für die Betroffenen, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. All dies schmälert den Wohlstand einer Gesellschaft, lässt sich aber nicht in Euro und Cent messen.

Der Vergleich dieser Zahlen zeigt: Eine Kindergrundsicherung, die effektiv die Kinderarmut reduziert und damit Chancen, Bildungserfolge und soziale Teilhabe schafft, ist auch für Gesellschaft und Wirtschaft eine höchst lohnende Investition. Dies betrifft explizit auch die Wirtschaft, vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels. Das größte ungehobene wirtschaftliche Potenzial in Deutschland ist neben der Frauenerwerbstätigkeit die Mobilisierung der vielen Menschen, die aus sozialen und gesundheitlichen Gründen nicht oder nur wenig arbeiten können.

Ein viertes Argument der Kritikerinnen und Kritiker ist, die Auszahlung einer Kindergrundsicherung sei technisch nicht umsetzbar, da die Bürokratie die verschiedenen Informationen über Einkommen und Ansprüche der Familien nicht zusammenführen könne. Es ist interessant, dass dieses Argument immer dann herangezogen wird, wenn es um Leistungen für einkommensschwächere Menschen geht – wie bei der Gaspreisbremse oder der Auszahlung des Klimagelds. Wahrscheinlicher ist, dass es nicht an den technischen Fähigkeiten, sondern am politischen Willen mangelt. Anna Mayr brachte es kürzlich in der ZEIT auf den Punkt: Armutsgefährdete Menschen haben schlichtweg nicht die Lobby und Unterstützung relevanter gesellschaftlicher Gruppen, um ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen und Veränderungen herbeizuführen. Es ist sicherlich richtig, dass die Kindergrundsicherung kurzfristig eine Menge Geld kosten wird und sich für die Betroffenen und für die Gesellschaft erst langfristig auszahlen wird. Es ist die Kurzsichtigkeit der Entscheiderinnen und Entscheider in Politik und Wirtschaft, die in einer Demokratie vielleicht so angelegt ist, aber nichtsdestotrotz erheblichen Schaden anrichtet.

Das wirtschaftlich, sozial und politisch Beste, was ein Staat tun kann, ist, in seine Menschen zu investieren, Chancengleichheit zu verbessern und eine gute soziale Absicherung zu gewährleisten. Dies ist eine der zentralen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft, die dem Gesellschaftsvertrag unseres Landes zugrunde liegt. Es sollte nicht so schwer für die Bundesregierung sein, sich einen Ruck zu geben: Krisen erfordern Weitsicht, die Kindergrundsicherung und die Förderung grüner Investitionen von Unternehmen sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern beide überzeugend realisiert werden.

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