Blog Marcel Fratzscher vom 13. Februar 2023
Angesichts der hohen Kinderarmut in Deutschland sollte die neue Kindergrundsicherung rasch kommen. Doch die Gefahr ist groß, dass das Projekt aus Kostengründen scheitert.
Vielen Kindern in Deutschland geht es nicht gut. Denn fast jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht. Besonders diese Kinder leiden unter der hohen Inflation. Zudem gehören Kinder und Jugendliche zu den Hauptleidtragenden der Corona-Pandemie. Jene aus ärmeren Familien litten besonders unter den Einschränkungen. Vielen wird die soziale Teilhabe früh genommen, viele verlieren Chancen für ihren Lebensweg.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus bezeichnet die Kindergrundsicherung daher als zentrales sozialpolitisches Projekt der Bundesregierung, die es aber nicht zum Nulltarif gebe. Daran muss sich die Regierung messen lassen, auch wenn es teuer wird. Kinder und ihre Familien müssen vor Armut geschützt und mit mehr Geld auf ihrem Weg in die Zukunft unterstützt werden.
Die Fakten sind ernüchternd: Das Armutsrisiko bei Kindern und Jugendlichen liegt deutlich höher als bei Erwachsenen. Armut und fehlende soziale Teilhabe beschränken sich dabei nicht auf Familien, in denen die Eltern arbeitslos sind. Von den 2,8 Millionen Kindern und Jugendlichen, deren Familien auf soziale Leistungen angewiesen sind, leben 1,6 Millionen in Familien, bei denen zumindest eine Person erwerbstätig ist. Und dabei gibt es eine hohe Dunkelziffer, da viele Familien die zusätzlichen staatlichen Leistungen wie den Kinderzuschlag oder die Leistungen für Bildung und Teilhabe nicht in Anspruch nehmen. Vor allem diese Kinder und Jugendlichen weisen seit den Schulschließungen während der Pandemie einen großen Rückstand bei ihrer Bildung auf. Seit einem Jahr trifft die hohe Inflation in der Energiekrise die vulnerablen Familien mit wenig Einkommen ungewöhnlich stark.
Dieser Text erschien am 10. Februar 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Idee hinter der Kindergrundsicherung ist die Vereinfachung und Zusammenführung verschiedener Leistungen: Einen Garantiebetrag für alle Kinder von mindestens 250 Euro wie das bisherige Kindergeld, möglichst mehr, plus einen vom Einkommen der Familie abhängigen Zusatzbetrag ähnlich dem bisherigen Kinderzuschlag, ferner Leistungen für Bildung und Teilhabe, etwa für Klassenfahrten, Sportverein, Musikschule.
Wichtig ist vor allem, dass die Leistungen viel einfacher als heute in Anspruch genommen werden können. Denn bisher sind Kinderzuschlag und Teilhabeleistungen wenig bekannt und auch noch recht kompliziert zu beantragen, sodass die meisten Eltern das ihnen zustehenden Geld nicht nutzen. Schätzungsweise zwei Drittel aller Familien, die eigentlich einen Anspruch auf den Kinderzuschlag hätten, beantragen ihn gar nicht erst. Außerdem sollten Eltern mit eigenen Einkünften, die nur wegen der Belastungen für ihre Kinder armutsgefährdet sind und daher Anspruch auf die Leistungen haben, automatisch in die Kindergrundsicherung einbezogen werden.
Geplant ist ein proaktives, digitalisiertes Verfahren für einen automatisierten "Kindergrundsicherungscheck". Über einen Datenabgleich der Finanz- und Sozialbehörden, bei denen die meisten Haushalts- und Einkommensinformationen bereits vorliegen, sollen Familien darauf hinweisen, dass sie möglicherweise Ansprüche auf die Leistungen der Kindergrundsicherung haben. Auf der Grundlage müssten sie dann nur die vorhandenen Informationen prüfen, Fehlendes ergänzen und leicht den Antrag stellen können, möglichst online. Die Leistung würde so entstigmatisiert, die Familien wären nicht länger in der Rolle von Bittstellern.
Bisher erhalten Familien mit hohen Einkommen durch den Abzug des Kinderfreibetrags bei der Einkommensteuer deutlich mehr Geld für jedes Kind als Familien mit geringen und mittleren Einkommen. Das ist aus der steuerlichen Perspektive bei einem horizontalen Vergleich von Paaren mit und ohne Kinder sinnvoll. Allerdings sollte der Kinderfreibetrag nicht erhöht, sondern eher gesenkt werden. Denn er übersteigt das Kinderexistenzminimum deutlich, da er sehr hohe Pauschalen für Betreuung, Erziehung und Ausbildung enthält, die nur besser verdienende Familien begünstigen.
In Anlehnung an das Bürgergeld könnte die Kindergrundsicherung auch regional unterschiedlich gestaltet werden, um den Unterschieden bei den Lebenshaltungskosten zwischen Regionen und zwischen Stadt und Land besser Rechnung zu tragen. Eine solche bedarfsorientierte Ausgestaltung gibt es in Österreich und funktioniert dort gut.
Die Einführung der Kindergrundsicherung wird kein Selbstläufer sein. Viele befürchten, dass Eltern weniger arbeiten, weil sie dann mehr Geld haben. Anreize, weniger zu arbeiten, entstehen weniger durch die Höhe der Leistungen, sondern durch eine hohe Transferentzugsrate – wenn der Staat für jeden zusätzlich durch Arbeit verdienten Euro einen ungewöhnlich großen Teil der sozialen Leistungen kürzt und dem Bezieher wieder "wegnimmt". Die Politik muss also darauf achten, dass ein steigendes Arbeitseinkommen von finanzschwachen Familien nicht dazu führt, dass bestimmte soziale Leistungen, auch für die Kinder, zu schnell abgeschmolzen werden.
Geplant ist auch, den Garantiebetrag im Vergleich zum heutigen Kindergeld in Höhe von 250 Euro im Monat zu erhöhen. Das ist das eigentliche Grundeinkommen für alle Kinder, das nicht mit dem Einkommen der Eltern abgeschmolzen wird. Wissen sollte man auch, dass zehn Euro mehr im Monat, also 260 Euro, nach allen Verrechnungen 1,5 Milliarden Euro im Jahr kosten. Da wäre also noch Luft nach oben, zumal die höheren Leistungen bei den Besserverdienenden mit dem Kinderfreibetrag verrechnet würden.
Unterm Strich gehen die geplanten Eckpunkte für die Kindergrundsicherung in die richtige Richtung. Allerdings dürfen wir auch keine überzogenen Erwartungen an die Kindergrundsicherung haben. Mehr Geld und Sicherheit, leichterer Zugang und weniger Stigmatisierung sind sehr wichtig, aber nicht hinreichend, um Armut zu reduzieren und Teilhabe und Chancen zu verbessern. Ebenso wichtig sind bessere Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur, gezielte Qualifizierung, höhere Löhne und weniger prekäre Beschäftigungsverhältnisse, eine deutliche Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und vor allem für Mütter weniger Diskriminierung im Arbeitsmarkt und keine steuerlichen Fehlanreize (wie durch das Ehegattensplitting).
Die größte Sorge ist, dass die Politik die Kindergrundsicherung mit dem Argument bremst oder verwässert, diese sei zu teuer und man brauche das Geld für die Bundeswehr, für die Rente, für Energiesubventionen für die Industrie oder um die Schuldenbremse einzuhalten. Das wäre ein großer Fehler. Denn das Geld für die Kindergrundsicherung ist für Gesellschaft wie Wirtschaft hervorragend investiertes Geld. Es würde das Armutsrisiko senken, mehr soziale Teilhabe ermöglichen, bessere Chancen für einen Schul- und Bildungsabschluss eröffnen und den Weg in ein späteres Arbeits- und Erwerbsleben ebnen. Staat und Gesellschaft würden langfristig mit einer gut gemachten und auskömmlichen Kindergrundsicherung Geld einsparen, wenn Menschen durch Chancen mehr Eigenverantwortung für ihr Leben übernehmen und weniger soziale Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Es ist nicht nur unsere Aufgabe als Gesellschaft, Kinder und Jugendliche zu schützen, sondern sie sind unsere Zukunft.