Drei Schritte vor, zwei zurück

Medienbeitrag vom 30. August 2023

Die Wirtschaft geht endlich in die richtige Richtung, doch noch wird umweltschädliches Verhalten belohnt. In einigen Branchen wäre eine Schrumpfkur nötig.

„Es ist doch völlig verrückt“, sprach mich kürzlich ein älterer Herr auf einer Veranstaltung in Berlin an. Er habe 40 Jahre gearbeitet, um später mal ein Haus und ein  bisschen Vermögen vererben zu können. Nun würden ihm seine Kinder vorwerfen, er hinterlasse einen ausgelaugten Planeten und eine Klimakrise. „Jahrzehntelang  haben wir geglaubt, wir machen alles richtig. Und jetzt sind wir die Bösen“, sagt er.

Die Probleme sind tatsächlich nicht zu leugnen“, antworte ich. Wir leben über unsere Verhältnisse. Für unseren aktuellen Lebensstil bräuchten wir drei Planeten. Unser  Wirtschaften basiert noch immer auf fossiler Energie, ist nicht nachhaltig, zu umweltund klimaschädigend. „Aber es tut sich doch etwas“, findet der ältere Herr. Und klar, Finanzanlagen werden grüner, Autokonzerne setzen auf Nachhaltigkeit, die Kreislaufwirtschaft entwickelt sich, die Moore werden besser geschützt. Selbst die  Kohlekonzerne steigen um. Ja, es tut sich was. Aber ist es das Richtige? Und ist es genug?

Dieser Text erschien am 26. August 2023 im Tagesspiegel in der Serie „Neues Wirtschaften“. Die Klimakrise zwingt uns zu Veränderungen. Das
betrifft auch unser Wirtschaften. Von der Kohle zur Windkraft, von der Milch zum Rohrkolben, vom Plastikmüll zur Kreislaufwirtschaft. Der Industrie stehen riesige Transformationen bevor – und sie sind schon in vollem Gange. In dieser Serie haben wir Ideen, Menschen und Unternehmen vorgestellt, die versuchen, nachhaltig  zu wirtschaften. Kann das gelingen? In dieser letzten Folge zieht Claudia Kemfert Bilanz.

Es entwickelte sich ein längeres Gespräch. Wir waren uns einig: Die ökologische Transformation hat zweifellos begonnen. Es gibt viele positive Beispiele, Innovation und  ökologische Pioniere. Aber leider gibt es immer noch Investitionen in fossile Geschäftsmodelle, und zwar in Billionenhöhe. Obgleich offensichtlich ist, dass sich diese  Geldanlagen auf die Dauer nicht lohnen, wird weiter dafür geworben.

Wissenschaftliche Studien berichten von der jahrzehntelangen Lobbyarbeit der fossilen Konzerne, die mit einfachen, aber perfiden Methoden arbeiten. „Merchants of Doubts“, Händler des Zweifels, nennt die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes solche manipulativen Wissenschaftsfeinde.

Wissenschaft ist kompliziert

Sie stellen öffentlich scheinbar simple Fragen zu den Erkenntnissen der Klimaforschung. Was berechtigt scheint, ist Kalkül. Denn die Antworten sind längst bekannt – und sie sind kompliziert. Genau darauf basiert die Strategie. Im Kopf des Publikums entsteht dann bei jeder Frage ein leiser Zweifel: Aha, die scheinbar klare Erkenntnis hat eine Ausnahme. Je mehr Fragen kommen, desto größer wird der Zweifel. Wissenschaftlicher Konsens verwandelt sich in eine scheinbar wissenschaftliche Debatte. Die Wissenschaft gerät in eine Rechtfertigungsrolle.

Indem die fossilen Lobbyisten gezielt Zweifel säen, schaffen sie es erfolgreich, so ziemlich jede Veränderung aufzuhalten. Weil das funktioniert, investieren Menschen wider besseres Wissen oder im Vertrauen auf falsche Ratschläge weiter in die Fossilen. Wenn diese wertlos werden, sind die Anleger ihr Geld los – sogenannte „Stranded Assets“. Leider verdienen gewissenlose Händler damit kurzfristig viel Geld. Von vollständigen grünen Finanzanlagen sind wir noch himmelweit entfernt. Die Lobbyisten der Vergangenheit sind stärker als die Lobbyisten der Zukunft.

Nachhaltiges Wirtschaften als neuer Standard

Noch ist es ein Zeichen von besonderer Stärke und Souveränität, wenn Unternehmen echte Nachhaltigkeit auch in hart umkämpften Segmenten leben. Doch genau das gilt es, als Standard zu etablieren. Immer mehr Menschen lassen sich nicht mehr beirren. Nur noch hart gesottene Sektierer leugnen den menschengemachten Klimawandel. Die sozial-ökologische Transformation beginnt. Langsam zwar. Drei Schritte vor, zwei zurück. Aber endlich geht es in die richtige Richtung.

Recycling funktioniert!

Gehen wir die Beispiele durch: Deutschland setzt schon lange darauf, Abfälle zu recyceln. Zu Recht! Die Kreislaufwirtschaft ist der zentrale Schlüssel für eine echte, nachhaltige Wirtschaftsweise. Es gibt viele Beispiele, wie echtes Recycling gut funktioniert. Doch leider produzieren wir insgesamt zu viel Müll, vor allem zu viel  Plastikmüll. Und dieser landet leider nicht zu 100 Prozent in der Kreislaufwirtschaft, sondern am Ende in den Weltmeeren.

Auch die Autokonzerne denken endlich um.  Fast alle haben ein festes Ausstiegsdatum aus dem fossilen Verbrennungsmotor. Nur ganz wenige träumen noch von röhrenden Motoren. So soll der legendäre 911- Sportwagen von Porsche mit E-Fuels aus Chile fahren. Dort soll mit neuen Windenergieanlagen grüner Strom hergestellt werden, der dann mit Wasser und CO2 zu eben diesen grünen E-Fuels wird.

Ein Sportwagen fährt auch mit Ökostrom, nicht nur mit E-Fuels

Allerdings sind die Wirkungsgrade von E-Fuels gering: Von der Herstellung bis zur Nutzung geht über 80 Prozent der Energie verloren. E-Fuels sind, wie Wasserstoff, der „Champagner“ der Energieträger: kostbar, teuer und nur etwas für besondere Anlässe. „Champagner im Tank“ mag für die 911-Klientel charmant klingen, ist aber reine Verschwendung. Die Produktion in Chile mag billiger sein, nachhaltiger ist sie ganz gewiss nicht. Denn viel dringender werden grüne E-Fuels im Flug- und Schiffsverkehr benötigt, wo wir die Emissionen sonst nicht in den Griff bekommen. Ein Sportwagen fährt auch prima mit Ökostrom, wie uns immer mehr Autokonzerne in anderen Ländern zeigen.

Kohleausstieg – aber ohne Greenwashing

Der Kohleausstieg schließlich ist beschlossene Sache. Spätestens 2038 ist in Deutschland Schluss. Wenn wir die Klimakrise wirklich bremsen wollen, dann sollte schon  vor 2030 die letzte Schaufel in Deutschland gebaggert werden. Dafür ist es ein gutes Signal, dass die Leag, ein Kohleunternehmen, das wie kein zweites an der  Braunkohle festhielt, nun wohl umsteigen will. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Offenbar sollen Teile der Braunkohle-Assets in ein Schwesterunternehmen verlagert  werden, das eine Art fossile Bad Bank ist: Oftmals ein altbekannter Kniff, um Greenwashing zu betreiben und für den Mutterkonzern gute Finanzbewertungen zu  erhalten.

Energiegenossenschaften: eine Wende, von der alle profitieren

Wenn der Kohleausstieg tatsächlich früher kommt als politisch ausgehandelt, liegt das wohl vor allem am Preis der CO2-Zertifikate. Aktuell ist er im Energiesektor bei  über 70 Euro pro Tonne CO2 vergleichsweise hoch. Damit lohnt sich der Betrieb der Kohlekraftwerke nicht mehr. Der Preisvorteil der Energieträger Sonne, Wind, Wasser und Geothermie kommt endlich voll zum Tragen. Diese erneuerbaren Energien werden endlich schneller ausgebaut. Auch wenn das Tempo noch immer nicht ausreicht,  insbesondere bei der Windenergie. Mindestens sieben neue Windräder braucht das Land pro Tag. Derzeit sind es keine drei.

Aber immerhin geht es bei der Solarenergie  deutlich schneller voran. Nachhaltiges Wirtschaften ist also möglich. Energiewende und Wohlstand sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Sie gehören zusammen! Ein  Beispiel zeigt das besonders gut: Energiegenossenschaften. Über Mieterstrom und Beteiligungsprojekte können Menschen sich in solchen zusammenschließen.

Das Potenzial ist gewaltig: Würde sich jedes Mitglied im Schnitt mit rund 100 bis 200 Euro an den Anlagenbeteiligen, ergäben sich Investitionen in Höhe von 6,5 bis 12,8 Milliarden Euro. Über 90 Prozent aller Haushalte in Deutschland könnten dann mit vergünstigtem Strom versorgt werden. Das schafft Wertschöpfung in Stadtquartieren, aber auch und gerade in den ländlichen Raum.

Rentable Geldanlagen

Weit über 800 Energiegenossenschaften gibt es in Deutschland bereits. In ihnen haben sich rund 200.000 Menschen zusammengetan, um gemeinsam Strom aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Im Schnitt beträgt die finanzielle Beteiligung pro Mitglied 5.200 Euro, wobei Beteiligungen schon ab 50 Euro möglich sind. Sie haben gemeinsam etwa 3,2 Milliarden Euro investiert und profitieren jetzt nicht nur vom billigen Ökostrom, sondern auch von langfristig rentablen Geldanlagen. Und die Zahl der Energiegenossenschaften steigt. Sie könnte noch viel stärker steigen, wenn es einen gesetzlichen Rahmen gäbe, der nicht länger blockiert. Die Barrieren liegen nicht in mangelnder Technik und mangelnden Investitionen. Sie liegen vor allem in den langsamen und ineffizienten Genehmigungsverfahren. Das Entscheidende ist,  dass die Erträge erneuerbarer Energien sich nicht nur bei wenigen Konzernen konzentrieren, sondern in die Taschen vieler kleiner Leute fließen.

Es liegt auf der Hand,  wer an solchen Veränderungen gar kein Interesse hat und mit entsprechender Lobbyarbeit, jegliche Reform auszubremsen versucht. Wissenschaftlich und empirisch ist also seit Langem belegt: Ökologie und Ökonomie lassen sich in Einklang bringen

Der Degrowth-Ansatz verhärtet nur die Fronten

Allerdings wissen wir heute auch, dass das vermeintliche „Wirtschaftswunder“ der Fünfzigerjahre auf Dauer nicht funktioniert hat. Ein vornehmlich auf materielles Wachstum ausgelegtes Wirtschaftssystem stößt zunehmend an ökologische Grenzen. Und es basiert auf der Ausbeutung des globalen Südens. Ein „grünes Wirtschaftswunder“ mag also verlockend klingen. Aber selbst wenn wir aber alle planetaren Grenzen einhalten, werden wir kaum wie bisher wachsen können. Das Budget an Treibhausgasen, das wir noch haben, bevor wir irreversible Klima-Kipppunkte überschreiten und eine folgenschwere Klimakatastrophe auslösen, wird immer kleiner.

In bestimmten Bereichen wie Fast-Fashion oder der Fleischindustrie wird eine Schrumpf- und Fastenkur nötig sein, um wieder gesund zu werden. Ein globaler „Degrowth“-Ansatz, der Wachstum völlig überwinden will, ist aber eine dystopische Übertreibung, die nur dazu führt, dass sich die Fronten weiter verhärten.

Wachstum ist nämlich nicht verwerflich, sondern etwas Wunderbares – nicht nur in der Kindheit wachsen wir, sondern unser ganzes Leben lang. Menschen, Tiere und Pflanzen sind Teil eines ewigen Kreislaufs aus Werden und Vergehen. Leben ist Wachstum. Die Erde ist über Milliarden Jahre zu dem gewachsen, was sie heute ist. Und sie dreht sich immer weiter. Wäre das Wirtschaftswachstum ähnlich organisiert, würden wir uns darüber freuen.

Umweltschädliches bestrafen, Umweltfreundliches belohnen

Problematisch ist ein ungezügeltes Wirtschaftswachstum, das den Planeten zerstört, statt ihn zu beleben. Wachsender Umweltschutz, wachsende Gesundheit, wachsender Zugang zu sauberem Trinkwasser und sauberer Energie hingegen sind wünschenswert. Der wachsende Einsatz von erneuerbaren Energien, klimaschonender Mobilität, steigender Gesundheitsvorsorge und Techniken zur Herstellung von sauberem Trinkwasser kann für wachsenden Wohlstand sorgen. Dann  wäre Wirtschaftswachstum nicht die Ursache eines globalen Klimawandels, sondern dessen Lösung. Es geht darum, eine Balance zu finden, nämlich zwischen Wachsen in  wohlfahrtsstiftenden und Schrumpfen in schädlichen Bereichen.

Fossile Subventionen abzuschaffen, wäre dabei der erste Schritt. In Deutschland reden wir immerhin von  65 Milliarden Euro Budget jährlich, mit dem wir statt Diesel, Kerosin oder Erdgas zum Beispiel Bildung, Pflege oder den Aufbau ökologisch nachhaltiger Industrien  finanzieren könnten. Dafür wäre eine grundsätzliche Steuer- und Abgabenreform nötig, die umweltschädliches Wirtschaften bestraft und umweltfreundliches belohnt.

Es stellt sich die Frage, wie gesellschaftliches Wohlergehen innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht werden kann. Ideal wäre dafür das Modell einer  „vorsorgeorientierten Postwachstums-Ökonomie“, die Verschwendung vermeidet, soziale Gerechtigkeit schafft und die Umwelt durch eine Kreislaufwirtschaft schonend  und erhaltend in den Produktionslauf einbezieht.

Dafür müsste man drei Dinge tun: Zentrale Bereiche wie Gesundheitswesen, Sozialhilfe oder Bildungseinrichtungen so umgestalten, dass sie auch unabhängig vom Wirtschaftswachstum funktionieren. Gleichzeitig müssen die ökonomischen Rahmenbedingungen so gesetzt werden, etwa durch den konsequenten Einsatz von marktbasierten Instrumenten, dass umweltschädliche externe Effekte nicht mehr der Gemeinschaft aufgebürdet, sondern in die Produktionskosten der Verursacher einfließen. Und drittens müssen durch partizipative Suchprozesse, Experimentierräume und neue innovations- und  forschungspolitische Ansätze neue Pfade der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt, entwickelt und erprobt werden. 

Gemeinwohl statt Einzelgewinn

Zum ethisch-ökonomischen Gradmesser wird folgender Leitgedanke: An die Stelle des Gewinnstrebens Einzelner auf Kosten aller anderen tritt eine Gemeinwohl-Ökonomie, von der alle profitieren. Und damit auch jeder und jede Einzelne. Dafür gibt es zwei unbedingt einzuhaltende Grenzen: das soziale Minimum und das ökologische Maximum. Dazwischen muss und kann alles getan werden, was soziale Spaltung vermeidet und gleichzeitig die Einhaltung der planetaren Grenzen garantiert. Dafür brauchen wir verbindliche und verpflichtende Nachhaltigkeits-, Umwelt- und Klimaziele, nachhaltige Finanzanlagen und nachhaltige Sozialverträge.

Privateigentum und individueller Profit darf nicht zum Fetisch werden, dem wir unseren Planeten, unsere Lebensgrundlage opfern. Wir brauchen mehr soziales Unternehmertum, mehr Unternehmensethik, mehr Verantwortung für das große Ganze. Dazu gehören auch neue wissenschaftliche Messinstrumente. Das herkömmliche Bruttoinlands-Produkt (BIP) ist als gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsmaß ungeeignet. Nach dem BIP wäre es wertvoller, wenn mir der Nachbarssohn beim Ballspiel die Fensterscheibe kaputtschießt, als wenn ich ihm bei den Mathehausaufgaben helfe. Das ist widersinnig.

Deswegen benötigen wir ein neues gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsmaß, das ökonomische, ökologische und soziale Komponenten gleichgewichtig ausweist. Es gibt eine Fülle von Vorschlägen zu alternativen Wohlfahrtsmaßen, etwa der vom Umweltbundesamt ausgewiesene Nationale Wohlfahrt Index. Wir sollten sie endlich nutzen!

Mein Berliner Gesprächspartner zeigte sich am Ende des Abends beeindruckt. „Meiner Frau wird das ganz sicher gefallen“, sagt er nachdenklich. „Die findet nämlich auch, dass ihr Beitrag zur Betreuung und Erziehung unserer Kinder nicht ausreichend wertgeschätzt wird.“ Interessiert fragte ich zurück: „Und? Finden Sie das auch?“ Er  gesteht: „Nach dem heutigen Abend werde ich jedenfalls darüber nachdenken.“ – „Aber nicht zu lange!“, antworte ich ihm lächelnd. Denn viel Zeit bleibt nicht mehr.

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