Blog Marcel Fratzscher vom 19. September 2023
Deutschland muss aufpassen, dass es seine Stärken nicht verspielt. Dem Pessimismus sollte man etwas entgegenhalten. Denn das Land hat drei Standortvorteile zu bieten.
"Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise."
Was wie eine präzise Beschreibung der aktuellen Lage in Deutschland klingt, ist tatsächlich ein Zitat aus dem Jahr 1997 und stammt aus der sogenannten Ruck-Rede von Bundespräsident Roman Herzog. Es dauerte damals noch fünf weitere Jahre, bis die Bundesregierung mutige Reformen auf den Weg brachte, und drei weitere, bis Deutschland wirtschaftlich und sozial den Tiefpunkt mit über fünf Millionen Arbeitslosen erreichte, bevor es wieder aufwärtsging. Die Geschichte wiederholt sich häufig. Sie muss es aber nicht, wenn Wirtschaft und Gesellschaft – statt in eine unglaubliche mentale Depression zu verfallen – sich auf ihre Stärken fokussieren und vor allem eines tun: die Grundlage für Vertrauen und Zuversicht schaffen.
Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 15. September 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Das bedeutet nicht, die Probleme kleinzureden. Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik heute ist offensichtlich. Deutschland hat die schwächste wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Die Exporte brechen weg, die Investitionen sind enttäuschend, der private Konsum schrumpft als Folge des Kaufkraftverlusts durch die Inflation und Zukunftsängste. Die deutsche Industrie hinkt bei wichtigen Zukunftstechnologien – bei digitalen Plattformen ebenso wie bei künstlicher Intelligenz und grünen Technologien – im globalen Wettbewerb hinterher. Ziele beim Klimaschutz, beim Ausbau der digitalen Infrastruktur oder des Bildungssystems werden verfehlt – und wenig passiert, um den Kurs zu korrigieren. Die heute schon beachtliche Fachkräftelücke wird sich vergrößern und die Existenz vieler kleiner und mittelständischer Unternehmen gefährden. Eine überbordende Bürokratie, Unsicherheit bei der Regulierung und eine unzureichende Infrastruktur sind eine erhebliche Bremse für die Zukunftsplanungen von Unternehmen.
Kein Wunder also, dass viele Menschen in diesem Land pessimistisch in die Zukunft schauen. Die Gesellschaft erstarrt in ihrer Angst, wie es Roman Herzog schon vor 25 Jahren analysiert hatte. Gleichzeitig ist die Gesellschaft sehr stark polarisiert. Kaum jemals in den vergangenen 75 Jahren saßen die gesellschaftlichen Konflikte so tief. Die Leidtragenden sind insbesondere die verletzlichsten Gruppen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leiden noch immer enorm unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie. Jeder dritte junge Mensch bräuchte psychologische und andere gesundheitliche Hilfe, nur jeder zehnte erhält sie.
Stattdessen streitet sich die Bundesregierung über so wichtige Stellschrauben, etwa die Bekämpfung der Kinderarmut und das Klimageld. Die Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland ist mit die höchste in den Industrieländern und nimmt durch Pandemie und Inflation weiter zu. Wohnen wird gerade für junge Familien in Städten immer unerschwinglicher, was zu einer immer gentrifizierteren Gesellschaft führt. Soziale Leistungen werden beschnitten und der Widerstand der FDP gegen einen höheren Mindestlohn, die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld wächst.
Das Resultat ist ein Verteilungskampf, bei dem die Menschen sich immer öfter selbst am nächsten sind. Nicht wenige machen Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchtete zum Sündenbock. Und der Bundesfinanzminister erklärt das Ende sozialer Reformen und kündigt Kürzungen bei sozialen Leistungen an, was mehr als kontraproduktiv ist.
In dieser Situation ist es nicht schwer zu verstehen, wieso Menschen und Unternehmen in eine mentale Depression fallen und zutiefst pessimistisch in die Zukunft schauen.
"Die Deutschen haben die Kraft und den Leistungswillen, sich am eigenen Schopf aus der Krise herauszuziehen – wenn sie es sich nur zutrauen." Auch dies sagte Bundespräsident Herzog in seiner Berliner Rede 1997 und betonte die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiche Veränderungen: Vertrauen und Zuversicht in die eigenen Stärken und Fähigkeiten.
Und Deutschland kann Veränderung: Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg musste es sich wirtschaftlich und gesellschaftlich neu erfinden und gleichzeitig riesige Herausforderungen bestehen: die Integration von vielen Millionen Geflüchteten, den Wiederaufbau einer gesamten Infrastruktur und Wirtschaft, einen Kalten Krieg in einem gespaltenen Land, später eine Wiedervereinigung mit großen sozialen Umwälzungen, Finanz- und Wirtschaftskrisen und zuletzt eine Pandemie sowie eine Energiekrise.
Diese Herausforderungen haben nichts daran ändern können, dass Deutschland heute zu einem der reichsten Länder der Welt gehört, mit großem Wohlstand und hoher Stabilität. Deutschland hat diese Krisen so erfolgreich bewältigt, weil es drei große Stärken hatte – und noch immer hat.
Die erste sind exzellente staatliche Institutionen und ein starker Rechtsstaat, mit hoher Kompetenz und großer Unabhängigkeit. Die Reformstarre und eine überbordende Bürokratie sind nicht den Institutionen, sondern dem fehlenden politischen Willen, den mächtigen Lobbyinteressen und einer starken Besitzstandswahrung geschuldet.
Die zweite große Stärke Deutschlands ist seine Wirtschaftsstruktur mit einem starken Fundament von kleinen und mittelständischen Familienunternehmen, die nicht auf den kurzfristigen Gewinn schielen, sondern langfristig denken und viel Verantwortung für ihre Beschäftigten übernehmen. Dies macht Unternehmen widerstandsfähig und ausreichend flexibel, um Krisen und Veränderungen erfolgreich zu bewältigen. Kaum eine Volkswirtschaft der Welt hat so viele Hidden Champions, hochinnovative Unternehmen, ohne deren Produkte made in Germany die Weltwirtschaft kaum funktionieren könnte.
Die dritte und vielleicht wichtigste Stärke ist jedoch eine andere: die Solidarität als zentrales Element der sozialen Marktwirtschaft. Der russische Philosoph und Naturforscher Pjotr Kropotkin argumentierte vor mehr als 100 Jahren – und unzählige wissenschaftliche Studien bestätigten ihn –, dass hochsolidarische Gesellschaften sehr viel erfolgreicher als individualisierte Gesellschaften sind, um große Krisen und Herausforderungen zu bewältigen. Meist gehen sie auch stärker aus ihnen wieder hervor. Solidarität schafft Sicherheit und Vertrauen, sie bündelt Kräfte und baut Brücken – wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Deutschlands Wirtschaft und Sozialsysteme basieren auf diesem solidarischen Gedanken, aber er muss auch in unserer Gesellschaft gelebt werden. Die Polarisierung sorgt gerade dafür, dass dieses Fundament verloren geht – wenn wir nichts dagegen unternehmen.
Deswegen brauchen wir vor allem Vertrauen, wie Bundespräsident Herzog betonte, um unsere Stärken zu mobilisieren. Das bedeutet nicht, die genannten Probleme und Schwächen zu ignorieren. Deutschland läuft gerade Gefahr, dass Ängste und Sorgen einen Teufelskreis anstoßen und der weitverbreitete Pessimismus die wirtschaftliche und soziale Lage weiter verschlechtert. Wirtschaft ist zu einem großen Teil Psychologie. Unternehmen werden nicht investieren, sondern sich zurückziehen oder ins Ausland abwandern, wenn sie kein Vertrauen in den Standort Deutschland haben. Menschen werden sich aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, sich weniger gesellschaftlich engagieren und weniger in sich selbst investieren, wenn sie ihre Zuversicht verlieren.
"Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzständen." Der Appell von Bundespräsident Herzog ist heute nicht weniger dringend als vor einem Vierteljahrhundert. Deutschland steht heute wirtschaftlich und finanziell gut da. Unser Land ist nicht der kranke Mann Europas und wird dies auch nicht wieder sein, sofern es die eigenen Stärken mobilisiert.
Die Bundesregierung macht mehr richtig, als viele realisieren. Aber ihr fehlt ein klarer Kompass und der Mut für Zukunftsinvestitionen und sozialen Ausgleich. Die Unternehmen tragen nicht weniger Verantwortung für die Probleme als die Politik. Sie sollten ehrlicher ihre eigenen Fehler eingestehen und in die ökologische und digitale Transformation investieren, statt die Politik zum Sündenbock zu stempeln und laut nach weiteren finanziellen Hilfen zu rufen. Nur so kann Vertrauen entstehen und Deutschland den Teufelskreis von wirtschaftlicher Stagnation, Wohlstandsverlust und gesellschaftlicher Polarisierung durchbrechen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Familie , Migration , Öffentliche Finanzen