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Die populistische Debatte um das Bürgergeld

Blog Marcel Fratzscher vom 4. Oktober 2023

Wieder ist ein heftiger Streit über das Bürgergeld entbrannt. Die Erhöhung um zwölf Prozent, oder 61 Euro pro Monat sehen manche als Kardinalfehler, der ein vermeintliches Lohnabstandsgebot verletzt undn die Anzahl der Bezieher des Bürgergeldes erhöhen wird. Andere sehen darin eine notwendige Anpassung in Zeiten hoher Inflation. Das Fatale dieser Diskussion ist, dass sie von populistischen und falschen Argumenten geprägt wird. Es ist höchste Zeit, mit den Mythen aufzuräumen.

Ein erster Mythos ist, Bezieher des Bürgergelds erhielten mehr Geld als einige Menschen mit Arbeit. Manch einer in Politik und Wirtschaft – so der CDU Vorsitzende Friedrich Merz im Bundestag – werden nicht müde, dieses Argument ins Feld zu führen und sich über die Erhöhung um 12 Prozent zu entrüsten – eine Erhöhung, die auf Grundlage eines Berechnungsschlüssels getätigt wurde, der auch die CDU zugestimmt hatte. Diese Behauptung ist falsch, wie eine Berechnung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt. Für jegliche Konstellation eines Haushalts – ob Single, Alleinerziehende oder Ehepaar mit Kindern  – erhalten Haushalte deutlich mehr verfügbares Einkommen, wenn sie arbeiten, als wenn sie nicht arbeiten. Für einen Single, der zum Mindestlohn arbeitet, beträgt die Differenz 532 Euro im Monat. Für Eltern mit zwei Kindern unter sechs Jahren sind es 674 Euro im Monat.

Dieser Text erschien am 4. Oktober 2023 in der WELT.

Zudem ist dieser Unterschied zwischen dem geringsten Arbeitseinkommen und dem Bürgergeld (vorher ALGII oder Hartz IV) über die vergangenen zehn Jahren nicht kleiner geworden: Seit seiner Einführung 2015 ist der Mindestlohn um 46 Prozent gestiegen, das Bürgergeld (oder äquivalent) um 41 Prozent.

Trauriges und falsches Menschenbild

Arbeit und Bürgergeld sei nicht groß genug, so dass sich viele Menschen freiwillig gegen Arbeit und für das Bürgergeld entscheiden. Diesem Argument liegt ein trauriges und auch falsches Menschenbild zu Grunde. Für die allermeisten Menschen ist Arbeit sinnstiftend, sie arbeiten nicht nur, um ein ordentliches finanzielles Auskommen zu haben, sondern auch weil Arbeit für sie Teil eines erfüllenden Lebens ist. Es gibt viele Millionen Menschen in Deutschland, die ehrenamtlich tätig sind oder sich in der Pflege und Betreuung in der Familie engagieren - ohne nennenswerte finanzielle Entlohnung. Die überwältigende Mehrheit der Menschen möchte Teil der Gemeinschaft sein, dazu gehört es, Verantwortung zu übernehmen und einer Tätigkeit nachzugehen.

Gutes Arbeitseinkommen erhöht die Anreize für Arbeit

Richtig in der Diskussion ist sicherlich, dass ein gutes Arbeitseinkommen die Anreize für Arbeit erhöht. Dies betrifft vor allem Menschen, die wenige Stunden und zu geringen Löhnen arbeiten und mehr arbeiten möchten. Der richtige Weg hierfür ist eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Beseitigung der vielen Hürden, so dass eine höhere Arbeitszeit sich auch finanziell lohnt. Dies erfordert eine Reform der Minijobs und des Ehegattensplittings, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Respekt und Anerkennung und eine geringere Transferentzugsrate, so dass mehr Netto vom Brutto bleibt. 

Der dritte Mythos betrifft das, was manche Kritiker das ”Fördern und Fordern” beim Bürgergeld nennen. Manche fordern harte Sanktionen und die Möglichkeit erheblicher Kürzungen des Bürgergelds und eine Pflicht zur Arbeit nach sechs Monaten. Sie suggerieren, Bürgergeldempfänger*innen wollten letztlich nicht arbeiten, und man müsse sie zwingen, sich stärker zu bemühen. Dies mag für einige zutreffen, nicht jedoch für die große Mehrheit. Viel häufiger sind die Gründe eine schlechte Gesundheit, eine fehlende Qualifizierung oder eine unzureichende Betreuungsinfrastruktur für die Kinder. Nicht vergessen sollten wir, dass es über zwei Millionen Erwerbstätige durch ihre Arbeit so wenig Einkommen haben, dass sie zusätzliche soziale Leistungen in Anspruchnehmen müssen, um ihre Familie zu ernähren. Das betrifft überproportional häufig Alleinerziehende.

Eine populistische Debatte für den Stimmenfang

Abgesehen von der Tatsache, dass Sanktionen sich selten als wirksam erweisen, sollte die Lösung in der Befähigung und Unterstützung der Betroffenen sein – durch Qualifizierung, eine bessere Betreuungsinfrastruktur oder eine stufenweise Wiedereingliederung für Langzeitarbeitslose. Das neue Element des Bürgergelds, den Betroffenen in den ersten sechs Monaten mehr Zeit zu geben, um sich zu qualifizieren und nicht die Schnelligkeit des Arbeitseinstiegs zur Priorität zu machen, ist sinnvoll, weil dadurch weniger Menschen später wieder in die Arbeitslosigkeit zurückfallen.

Der Populismus in der Debatte um das Bürgergeld besteht darin, dass viele der Kritiker in Politik und Wirtschaft diese Zahlen und Fakten sehr wohl kennen, aber immer wieder diese falschen Behauptungen tätigen, um auf Stimmenfang zu gehen, indem sie vulnerable Gruppen gegeneinander ausspielen und Bezieher von Bürgergeld stigmatisieren. Es gibt zweifelsohne Menschen, die bei Sozialleistungen betrügen und fast alles tun, um nicht arbeiten zu müssen. Dies ist jedoch eine kleine Minderheit der Bezieher vom Bürgergeld. Die überwältigende Mehrheit möchte arbeiten und sieht dies als sinnstiftend an, weil es ihnen einen Lebensinhalt gibt, eine Aufgabe beinhaltet und Anerkennung bringt.

Wir brauchen dringend eine Versachlichung der Diskussion, um das Bürgergeld und ein Ende des Populismus und der Instrumentalisierung dieser Debatte. Eine politische Positionierung und Abgrenzung zwischen Parteien darf nicht auf dem Rücken der verletzlichsten Menschen unserer Gesellschaft ausgetragen werden. Dies schadet nicht nur den Betroffenen, sondern es verschärft die soziale Polarisierung und erschwert eine erfolgreiche Integration von Arbeitslosen – mit einem erheblichen Schaden für Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes.

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