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Der Diskurs zu Migration löst keines der wichtigen Probleme

Blog Marcel Fratzscher vom 20. Oktober 2023

In Deutschland gibt seit kurzem einen erstaunlichen politischen Konsens: Sämtliche Parteien betrachten die Aufnahme von Geflüchteten als ein großes Problem. Dieser Fokus auf Einwanderung wird jedoch keines der wirklich drängenden Probleme des Landes lösen, sondern diese eher vergrößern. Der Versuch, Positionen der AfD zu kopieren, dürfte sich als kontraproduktiv erweisen und wichtige Zeit kosten.

Dass CDU und FDP dem Thema Flucht und Migration einen hohen Stellenwert einräumen, ist seit einigen Jahren bekannt. Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die CDU durch 16 Jahre Kanzlerschaft die Hauptverantwortung für die heutigen Strukturen trägt. Überraschend ist jedoch der plötzliche Sinneswandel bei SPD und den Grünen, bei denen nun viele auf den Debattenzug aufgesprungen sind.

Dieser Text erschien am 20. Oktober 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Versorgung und Integration von so vielen Migrant*innen in so kurzer Zeit ist zweifelsfrei eine große Herausforderung. In vielen Kommunen fehlt es an Wohnungen, Schulplätzen, Sprachkursen und an Geld. Die Politik ist in diesem Jahr schon zwei Mal kläglich gescheitert, Kommunen finanziell auskömmlich und dauerhaft besser auszustatten. Bürokratie und Verwaltung scheinen vielerorts unvorbereitet, obwohl sie im Jahr 2015 ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Das Perfide des öffentlichen Diskurses ist, dass er sich von einer konstruktiven Debatte um die besten Integrationslösungen hin zu einem Ideenwettstreit darüber entwickelt hat, wie Migrant*innen aus dem Land rausgehalten oder rausgeworfen werden können. 

Doch warum wird uns diese Verlagerung der Debatte um Migration und Flucht nicht weiterbringen? Zuallererst ist festzustellen, dass der aktuelle Hype ums Thema Migration keines der wirklichen Probleme unserer Gesellschaft lösen wird. Deutschland befindet sich in einer wirtschaftlichen Schwächephase mit hoher Inflation und großen Zukunftssorgen, unter der vor allem Menschen mit geringen und mittleren Einkommen leiden. Politik und Wirtschaft müssen die ökologische, die digitale und die wirtschaftliche Transformation auf den Weg bringen, um langfristig Wohlstand und gute Arbeitsplätze in Deutschland sichern zu können und künftigen Generationen eine intakte Umwelt und sozialen Frieden zu hinterlassen.

Forderungen nach einer Obergrenze sind reinster Populismus

Dazu müsste die Politik dringend die Bürokratie verbessern, massive Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung tätigen und das Fachkräfteproblem lösen. Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit und der Mobilisierung von politischem Kapital für die Debatte um Flucht und Migration, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese Bundesregierung in anderen Bereichen noch weniger reformfähig sein wird.

Nun lässt sich einwenden, die demokratischen Parteien müssten auf die Stärke der AfD reagieren und sich aus diesem Grund ebenfalls mehr mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigen. Das mag sein, aber die Art und Weise des Umgangs mit dem Thema wird der AfD in die Hände spielen. Forderungen nach einer Obergrenze sind reinster Populismus. Die damit verbundene Aushöhlung von Demokratie und Grundgesetz wird viele Menschen von den demokratischen Parteien weiter entfremden. Die unsäglichen Unterstellungen Richtung Geflüchtete und Ausländer*innen, etwa in Form der Behauptung, dass es diesen lediglich um das Abgreifen von Sozialleistungen gehe, werden die Gesellschaft noch stärker polarisieren und anti-demokratischen Kräften Auftrieb geben. Dies dürfte die AfD bei den kommenden Landtags- und Bundestagswahlen eher stärken als schwächen.

Ebenso ist zu erwarten, dass sich die Herausforderungen der Zuwanderung durch die jetzt kolportieren Maßnahmen nicht lösen lassen. Grenzschließungen sind wenig effektiv, richten einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden für die Grenzregionen an und höhlen den europäischen Binnenmarkt weiter aus. Die Versuche, das Recht auf Asyl im Grundgesetz zu beschneiden, werden das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie weiter schwächen. Und die Forderungen, Unterstützung auf Sachleistungen zu beschränken und Finanztransfers von Geflüchteten an ihre Familien in den Ursprungsländern zu verbieten, sind schlichtweg populistischer Unsinn.

 

Der deutsche Arbeitsmarkt braucht mehr Zuwanderung

Die Herausforderung liegt nicht darin, dass zu viele Menschen nach Deutschland kommen, sondern darin, die Ankommenden gut in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren. Die Vorschläge, die Arbeitsminister Hubertus Heil und die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, am Mittwoch vorgelegt haben, gehen in die richtige Richtung. Deutschland wird in Zukunft deutlich mehr Zuwanderung benötigen, wenn es nicht einen Großteil seines Wohlstands verlieren will. Bereits heute sind 1,8 Million Stellen im Arbeitsmarkt unbesetzt, fünf Millionen weitere Stellen werden in den kommenden zehn Jahren dazukommen.

Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass viele Geflüchtete und andere Migrant*innen erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden. Eine aktuelle Studie des DIW Berlin zeigt, dass ein Viertel aller Unternehmen in Deutschland mittlerweile Geflüchtete eingestellt haben und diese damit überwiegend sehr zufrieden sind. Die große Mehrheit der Mitarbeitenden in den Unternehmen befürworten diese Einstellungen, es verbessert ihre Zufriedenheit und Motivation und reduziert einen auch für den Arbeitgeber teuren Arbeitsplatzwechsel.

Migrant*innen in kurzer Zeit Sprachkenntnisse zu vermitteln, ihnen ein neues Zuhause zu geben und Chancen im Arbeitsmarkt zu eröffnen, ist enorm herausfordernd und schwierig. Aber Deutschland hat seit 2015 wichtige Lehren gezogen und gezeigt, dass diese Herausforderungen zu schaffen sind. Politik und Verwaltung müssen noch mehr darin investieren, bürokratische Hürden abzubauen. Verfahren müssen deutlich beschleunigt werden, Migrant*innen sofort Zugang zu Sprachkursen und zu Jobs im Arbeitsmarkt erhalten, nicht erst nach einem Jahr oder nach sechs Monaten.

Die Politik muss die Komunen besser unterstützen

Manche wünschen sich, dass mehr hochqualifizierte Migrant*innen nach Deutschland kommen. Dieser Wunsch ist verständlich, aber der Arbeitskräftemangel betrifft eben nicht nur hochqualifizierte Ingenieur*innen und IT-Expert*innen, sondern alle Sektoren und Qualifikationsniveaus. Der Bundestag hat erst vor kurzem ein neues Fachkräftezuwanderungsgesetz beschlossen und weitere Hürden abgebaut. Vor allem aber muss die Politik die Kommunen dringend finanziell besser unterstützen, damit diese die Kosten der Versorgung und Integration schultern können. Dies ist bisher nicht gelungen. Hier liegt das Scheitern bei der Politik und nicht bei den Kommunen oder gar den betroffenen Menschen.

Die Zuwanderung von so vielen Menschen nach Deutschland ist eine große Herausforderung. Jedoch hat Deutschland alle Möglichkeiten, diese erfolgreich zu bewältigen. Wir müssen endlich beginnen, Zuwanderung nicht als Bedrohung, sondern vor allem als Chance zu begreifen. Deutschland täte gut daran, diese Chance zu nutzen, um seinem riesigen demographischen Problem zu begegnen. Ein Land kann sich seine Menschen nicht aussuchen, dies gilt zu einem großen Teil auch für Migrant*innen und vor allem für Geflüchtete. Anstelle über die Zahl, Hautfarbe, Religion oder Qualifizierung der Menschen zu klagen, brauchen wir Offenheit und Pragmatismus. Deutschland hat die Möglichkeiten, Migration für alle Seiten gewinnbringend zu gestalten und sollte sich deshalb nicht in populistische Debatten verlieren, die am Ende lediglich der AfD helfen.

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