Blog Marcel Fratzscher vom 17. November 2023
Die Politik versucht, sogenannte Pull-Faktoren für Migration zu schwächen, Sozialleistungen zu verringern. Ein Irrweg! Zuwanderung ist überlebenswichtig für Deutschland.
Deutschland hat zu viel Zuwanderung, heißt es in jüngster Zeit immer häufiger. Und es kämen auch noch die "falschen" Menschen. Schuld daran seien sogenannte Pull-Faktoren, sprich: Deutschland sei zu attraktiv für Asylsuchende und Wirtschaftsmigranten. Doch diese Erzählung ist in jeglicher Hinsicht falsch. Das Gegenteil trifft zu: Deutschland hat zu wenig Zuwanderung und es kommen auch nicht die "falschen" Menschen. Eine Schwächung der Pull-Faktoren hätte katastrophale wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland.
Dieser Text erschien am 17. November 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Wie würde die Zuwanderung nach Deutschland aussehen, wenn wir diese frei gestalten könnten? Drei Elemente würden wohl auf einen großen gesellschaftlichen Konsens stoßen:
Erstens braucht Deutschland in den kommenden 20 Jahren eine massive Zuwanderung, um wirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Es gibt heute 1,8 Millionen offene Stellen, bis 2035 werden infolge der demografischen Entwicklung Deutschlands fünf Millionen Beschäftigte mehr in Rente gehen, als junge Beschäftigte nachkommen. Deutschland benötigt selbst bei einer konservativen Rechnung mindestens 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland und eine Zuwanderung von knapp einer Million Menschen pro Jahr, um die Lücke, die die Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen werden, zu füllen. Selbst wenn die Schutzsuchenden, die bereits heute in Deutschland leben und noch nicht in Arbeit sind, alle in Arbeit kämen, würden sie nur einen kleinen Teil der heute bestehenden Arbeitskräftelücke schließen.
Dies zeigt: Die Zuwanderung mag in Schüben kommen, was die Kommunen und die Infrastruktur vor große Herausforderungen stellt, aber es kommen nicht zu viele Menschen nach Deutschland. Bei dem riesigen Arbeitskräftemangel brauchen wir nicht nur die 3,3 Millionen Menschen, die bereits heute als Geflüchtete oder Geduldete in Deutschland sind, sondern wir werden dreimal so viele Menschen aus dem Ausland in den kommenden zehn Jahren benötigen, um die Arbeitskräftelücke auch nur halbwegs zu füllen.
Es kann nicht stark genug betont werden, wie groß der wirtschaftliche Schaden des Arbeitskräftemangels in Deutschland sein wird. Viele Unternehmen sind durch diesen in ihrer Existenz bedroht. Deutschland wird als Wirtschaftsstandort stark an Attraktivität verlieren, viele der Stärken unseres Wirtschaftsmodells werden verloren gehen. Der Arbeitskräftemangel ist das größte wirtschaftliche Problem, eine starke Zuwanderung wirtschaftlich überlebensnotwendig für Deutschland.
Zweitens gibt es keine "falschen" Menschen. Alle nach Deutschland Zugewanderten werden hierzulande benötigt und können auf dem Arbeitsmarkt für alle gewinnbringend unterkommen. Nun heißt es, die meisten Geflüchteten hätten zu geringe Qualifikationen und wir bräuchten stattdessen hoch qualifizierte Menschen. Es ist richtig, dass Deutschland dringend deutlich mehr hoch qualifizierte Fachkräfte benötigt – das ist genau das Ziel des Fachkräftezuwanderungsgesetzes. Es soll junge, gut qualifizierte Menschen von außerhalb der EU nach Deutschland bringen, bisher allerdings geschieht das mit sehr geringem Erfolg.
Gleichzeitig trifft es jedoch auch zu, dass Deutschland einen riesigen Arbeitskräftemangel auch in Branchen hat, in denen Menschen mit vergleichsweise geringen Qualifikationen benötigt werden, beispielsweise in der Baubranche, der Gastronomie und vielen anderen Dienstleistungsbereichen. Deutschland braucht also nicht weniger Zuwanderung von gering qualifizierten Menschen, sondern mehr Zuwanderung sowohl von gering qualifizierten als auch und vor allem von hoch qualifizierten Menschen.
Hinzu kommt, dass die meisten zugewanderten Menschen in Deutschland jung sind, also noch alle Chancen und Möglichkeiten haben, sich zu qualifizieren und zu Ärztinnen, Ingenieuren oder IT-Fachkräften zu werden. Zudem brauchen wir einen ehrlicheren Diskurs darüber, was wir mit dem Begriff hoch qualifiziert meinen. Die meisten verstehen hoch qualifizierte Beschäftigte als solche, die hohe Gehälter haben. Dies ist jedoch die falsche Definition. So hat Deutschland beispielsweise einen riesigen Fachkräftemangel in der Pflege, also einem Beruf, der für Wirtschaft und Gesellschaft enorm wichtig ist, gute Qualifikationen erfordert, aber gleichzeitig vergleichsweise schlecht bezahlt wird. Schon heute kommt die Mehrheit der neuen Fachkräfte in der Pflege aus dem Ausland, um die schnell wachsende Fachkräftelücke in der Pflege zu schließen.
Drittens wünschen sich viele hauptsächlich eine stärkere Zuwanderung aus der Europäischen Union. Manche vergessen, dass Deutschland in den vergangenen 25 Jahren der größte Profiteur der offenen Grenzen in Europa war und viele Millionen junge, hoch qualifizierte und hoch motivierte Menschen aus Europa angezogen hat. Ohne diese Zuwanderung wäre der Wirtschaftsboom der Zehnerjahre in Deutschland nicht möglich gewesen. Bereits Anfang der Zehnerjahre kamen jedes Jahr mehr als 400.000 Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland. Ohne diese Zuwanderung hätte die demografische Schwäche Deutschlands schon längst gegriffen und die Wirtschaft und den Wohlstand empfindlich geschwächt.
Leidtragende dieses Vorteils für Deutschland sind vor allem die wirtschaftlich weniger reichen Länder wie Polen, Bulgarien und Rumänien, die viele ihrer Ärztinnen und Ärzte und andere hoch qualifizierte Menschen an Deutschland verloren haben – und zwar genau wegen der Pull-Faktoren, die heute von den Gegnerinnen und Gegnern der Zuwanderung so vehement kritisiert werden: gute Jobs mit exzellenter Bezahlung, eine klare berufliche wie auch private Perspektive, in Deutschland ein dauerhaftes neues Zuhause zu finden und möglicherweise auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Und ja, ein wichtiger Grund für die Attraktivität Deutschlands für viele dieser hoch qualifizierten Beschäftigten aus dem Ausland ist auch das deutsche Sozialsystem: ein vergleichsweise gutes Bildungssystem, eine starke soziale und finanzielle Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit und ein hohes Maß an Sicherheit.
Genau hier liegt das Perfide des heutigen Diskurses zur Zuwanderung. Die Politik versucht genau diese Pull-Faktoren für Menschen aus dem Ausland, die so entscheidend für den heutigen Wohlstand und Erfolg Deutschlands sind, auszuhöhlen, damit Deutschland bloß nicht zu attraktiv als Zielland ist. Deshalb ist der eingeschlagene Kurs der Politik in der Migrationsfrage ein Irrweg, der genau zum Gegenteil von dem führen wird, was beabsichtigt ist. Er wird die Zuwanderung hoch qualifizierter Menschen nach Deutschland noch unattraktiver machen, gleichzeitig die Zuwanderung von Schutzsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen aus den ärmsten der armen Länder nicht merklich reduzieren.
In anderen Worten: Deutschlands soziale Marktwirtschaft mit ihren starken Sozialsystemen ist von großer Bedeutung, um hoch qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland möglich zu machen. Die Schwächung der sozialen Leistungen für Menschen aus dem Ausland wird Deutschland vor allem für solche Menschen unattraktiver machen, die eine wirkliche Wahl haben, nämlich für hoch qualifizierte Ingenieurinnen aus Indien oder Pflegekräfte aus Mexiko.
Deutschlands Pull-Faktoren für Zuwanderung sind nicht zu stark, sondern sie sind noch immer zu schwach. Deutschland muss dringend attraktiver werden, um im globalen Wettbewerb um Fachkräfte bestehen zu können und sein riesiges demografisches Problem zu lindern. Deutschland muss seine Offenheit und Willkommenskultur verbessern. Welcher hoch qualifizierte junge Mensch wird freiwillig in ein Land gehen wollen, in dem er oder sie wegen der eigenen Hautfarbe, Religion oder Herkunft nicht willkommen ist? Zur Stärkung der Pull-Faktoren gehört auch eine dauerhafte Perspektive in Deutschland, wozu die Aussicht auf die deutsche Staatsbürgerschaft gehört, ein gutes Bildungssystem für die Kinder, Zugang zur Gesundheitsversorgung und auch eine Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit.
Was wird passieren, wenn Deutschland seine Pull-Faktoren jetzt weiter schwächt? Geflüchtete werden weiterhin fast ungemindert nach Deutschland kommen, denn sie haben meist wenige Alternativen. Hoch qualifizierte Menschen dagegen haben viele Alternativen und werden einen weiten Bogen um Deutschland machen. Der Irrweg der Migrationspolitik in Deutschland heute liegt im Glauben, wir könnten die Pull-Faktoren für manche Personengruppen unattraktiver machen und gleichzeitig für hoch qualifizierte Menschen attraktiver gestalten.
Der ungleich bessere Weg der Migrationspolitik wäre, die Pull-Faktoren insgesamt zu stärken und Deutschland attraktiver vor allem für die Zuwanderung hoch qualifizierter Menschen zu machen. Es ist höchste Zeit, dass die Politik die Fehler ihrer Migrationspolitik erkennt und den eingeschlagenen Kurs korrigiert. Sonst wird der wirtschaftliche Schaden für Deutschland um ein Vielfaches höher sein als der, der jetzt durch Deindustrialisierung und verschlafene Transformation droht.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Migration