DIW Wochenbericht 11 / 2024, S. 167-174
Kerstin Bernoth, Sara Dietz, Rosa Lastra, Atanas Pekanov
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„Die Europäische Zentralbank ist heute und in naher Zukunft mit vielen komplexen Herausforderungen konfrontiert. Zu deren Bewältigung braucht die Zentralbank auch die Unterstützung der Regierungen der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission; gleichzeitig muss sie ihre Unabhängigkeit wahren.“ Kerstin Bernoth
Im Jahr 2024 feiert der Euro sein 25-jähriges Bestehen. Die Stabilität des Euroraums und damit der europäischen Gemeinschaftswährung wurde seit dem Jahr 1999 mehrfach auf die Probe gestellt, insbesondere während der weltweiten Finanzkrise 2008/09 und der sich anschließenden europäischen Schuldenkrise. Aber der Euroraum hat diese Herausforderungen erfolgreich gemeistert. Ihr Mandat, Preisstabilität zu gewährleisten, konnte die Europäische Zentralbank als Hüterin des Euro weitestgehend erfüllen. Die hohe Inflation der letzten zwei Jahre scheint die EZB in den Griff zu bekommen. Nun stellen der Klimawandel, die Digitalisierung, die steigende Ungleichheit und die Staatsverschuldung sowie zunehmende geopolitische Spannungen die EZB vor neue Herausforderungen. Der vorliegende Wochenbericht analysiert diese Herausforderungen und mögliche Handlungsoptionen. Deutlich wird, dass die EZB diesen Themen gemeinsam mit den nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission begegnen muss, um den Euro als starke Währung beizubehalten.
In diesem Jahr feiert der Euro sein 25-jähriges Bestehen. Im Januar 1999 wurde die europäische Gemeinschaftswährung als Buchgeld ins Leben gerufen. Drei Jahre später wurde der Euro als Bargeld in zwölf Ländern eingeführt. Inzwischen gehören 20 Länder der Europäischen Union zum Euroraum.
Dieses Jubiläum ist eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, aber auch einen genaueren Blick auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu werfen.Dieser Wochenbericht basiert auf einer Studie, die die Autor*innen auf Ersuchen des Ausschusses für Economics and Monetary Affairs (ECON) des Europäischen Parlaments im Vorfeld des monetären Dialogs mit der EZB-Präsidentin am 15.02.2024 erstellt haben. Kerstin Bernoth et al. (2024): ECB Monetary Policy: Past, Present and Future. Publication for the committee on Economic and Monetary Affairs, Policy Department for Economic, Scientific and Quality of Life Policies, European Parliament, Luxemburg (online verfügbar, abgerufen am 15. Februar 2024). Insbesondere der Klimawandel, die zunehmende Digitalisierung, die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, geopolitische Spannungen und eine hohe Staatsverschuldung dürften die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und deren Transmission in den kommenden Jahren beeinflussen. Die richtigen strategischen Entscheidungen sowohl aus rechtlicher als auch aus wirtschaftlicher Sicht zu treffen, wird entscheidend sein, um den Erfolg des Euro fortzuführen.
Von der Einführung des Euro und damit der Gründung der Europäischen Währungsunion im Jahr 1999 bis zum Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 hat die EZB ihr Inflationsziel mit großem Erfolg erreicht (Abbildung 1). Die Inflationsrate des Euroraums schwankte stets knapp um das angepeilte Ziel von zwei Prozent. Aus deutscher Sicht ist es bemerkenswert, dass die Volatilität der Preisänderung nach Einführung des Euro abgenommen hat, die Inflation schwankte wesentlich weniger als zu DM-Zeiten.
Nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 und der europäischen Staatsschuldenkrise im Jahr 2010/11 wurde es für die EZB jedoch schwieriger, ihr Inflationsziel einzuhalten. Trotz der Umsetzung einer Vielzahl unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen ging die Gesamtinflation zurück und lag bis Anfang 2017 häufig unter dem Inflationsziel. Zwischen 2014 und 2016 sowie im Jahr 2020 war die Inflation sogar kurzzeitig negativ. Im März 2020 verursachte die Corona-Pandemie einen weltweiten wirtschaftlichen Stillstand. Mit Hilfe expansiver geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen konnte die Gefahr einer länger anhaltenden Deflation im Europäischen Währungsraum erfolgreich abgewendet werden.
Ab Mitte 2021 schlug das Pendel dann jedoch in die andere Richtung aus: Die Gesamtinflation im Euroraum begann deutlich über das Inflationsziel hinaus zu steigen. Dieser Anstieg war maßgeblich auf coronabedingte globale Angebotsengpässe und steigende Energiepreise zurückzuführen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 trieb die Energiepreise schlagartig in die Höhe. Im Oktober 2022 erreichte die Gesamtinflation einen Rekordwert von 10,6 Prozent und lag damit fünfmal so hoch wie das Inflationsziel der EZB. Seitdem ist die Inflation kontinuierlich zurückgegangen und lag im Euroraum im Februar 2024 bei 2,6 Prozent.
Bemerkenswert ist, dass insbesondere in Krisenzeiten auch die Heterogenität der Inflationsraten zwischen den Euro-Mitgliedstaaten zunahm, was eine einheitliche Geldpolitik erschwert (schattierte Fläche in Abbildung 1). Neben abweichendem Verbraucherverhalten und unterschiedlichen Energieversorgungsquellen dürfte ein wichtiger Grund dafür unterschiedliche staatliche Kriseninterventionsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten sein. Dies unterstreicht, wie wichtig ein gewisses Maß an wirtschaftspolitischer Koordinierung und Homogenität insbesondere in einer Währungsunion ist. Die EZB wird auch in den nächsten Monaten intensiv darauf hinarbeiten müssen, die derzeitige Inflationsrate weiterhin wieder näher an ihr Ziel von zwei Prozent heranzuführen.
Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, dem Rat und der EZB hat die Europäische Kommission wiederholt die Bedeutung einer robusten internationalen Rolle des Euro betont.Europäische Kommission (2018): Towards a stronger international role of the euro (online verfügbar, abgerufen am 14. Februar 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt); European Commission (2021): The European economic and financial system: fostering openness, strength and resilience (online verfügbar). Nicht nur genießt der Emittent einer starken internationalen Währung Vorteile wie etwa geringere Kapitalkosten oder einen stabilen Zugang zu Finanzmitteln. Er hat auch bessere Möglichkeiten, währungsbezogene Instrumente politisch zielführend einzusetzen, um die Reichweite von Sanktionen zu erhöhen. Ein Beispiel sind etwa die US-Sanktionen gegen den Iran oder Russland.Für eine Übersicht über den Einsatz von währungsbezogenen Sanktionen als politisches Instrument vgl. Daniel McDowell (2023): Financial Sanctions and Political Risk in the International Currency System. In: Bucking the Buck: US Financial Sanctions and the International Backlash against the Dollar. New York, Oxford Academic. Eine starke internationale Rolle des Euro ist daher ein Schlüsselfaktor, um die Autonomie europäischer Unternehmen und Regierungen zu erhöhen und den EU-Sanktionsrahmen zu stärken.
Legt man anerkannte Indikatoren für die internationale Verwendung von Währungen zu Grunde, wie beispielsweise die Bestände an Devisenreserven, die internationale Verschuldung und Kredite, die globale Zahlungswährung (SWIFT) oder den Devisenumsatz, zeigt sich, dass der Euro seit seinem Bestehen beständig die zweitwichtigste Währung nach dem US-Dollar ist.Europäische Zentralbank (2023): A stocktake on the digital euro. Summary report on the investigation phase and outlook on the next phase (online verfügbar). Über die eigentlichen 20 Euro-Länder hinaus haben sich gut 40 Länder dafür entschieden, den Euro als eigene Währung zu verwenden (beispielsweise Andorra, Monaco oder Montenegro) oder ihre Währung an den Euro zu binden (beispielsweise Dänemark).
Will sich der Euro als Erfolgswährung auch weiterhin beweisen, muss sich die EZB in den kommenden Jahren bedeutenden Herausforderungen stellen. Im Folgenden sollen fünf Herausforderungen analysiert werden, die Einfluss auf die Preis- und Finanzstabilität haben können und damit unweigerlich in der Konzeption der geldpolitischen Strategie für die künftigen Jahre berücksichtigt werden sollten: die Ungleichheit, der Klimawandel, der digitale Euro, die hohen öffentlichen Schuldenstände und geopolitische Spannungen, die sich auf den Stellenwert des Euro im internationalen Währungssystem auswirken könnten.
Die Geldpolitik, angefangen bei der Zinspolitik bis zu unkonventionellen Maßnahmen, kann erhebliche Verteilungseffekte auf Einkommen und Vermögen haben. Diese verteilungspolitische Dimension geldpolitischer Entscheidungen stellt die EZB – als Institution, die über eine nur beschränkt demokratische Legitimation und ein begrenztes Mandat verfügt – vor Herausforderungen.
Die EZB ist verpflichtet, die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen zu prüfen und sicherzustellen, dass die Nebenwirkungen geldpolitischer Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den geldpolitischen Zielen stehen (Art. 5 Abs. 4 EUV). Auch wenn die EZB bei der Durchführung ihrer Geldpolitik über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, muss sie daher ihre Maßnahmen insbesondere im Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Auswirkungen und Verteilungseffekte erläutern und rechtfertigen, gerade auch, weil die EZB nicht ermächtigt ist, selbst wirtschaftspolitische Ziele zu verfolgen. Die Wirtschaftspolitik verbleibt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Aus dieser Begründungspflicht ergibt sich die Verpflichtung, gerade wenn erhebliche wirtschaftspolitische Effekte in Rede stehen, dass die EZB erläutert, wieso ihre Maßnahmen zum Erhalt von Preisstabilität erforderlich und verhältnismäßig sind.
Geldpolitik und wirtschaftliche Heterogenität zeigen eine Wechselwirkung auf: Nicht nur wirken sich geldpolitische Maßnahmen auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen aus, sondern heterogene Einkommen und Vermögen beeinträchtigen wiederum ihrerseits die geldpolitische Transmission und damit die geldpolitische Zielerreichung.Wenn die Haushalte unterschiedlich sind, werden die Auswirkungen der Geldpolitik auf den Konsum weitgehend durch die indirekten Auswirkungen von Zinsänderungen auf Einkommen, Steuern und Arbeitsangebot bestimmt, zeigt die Studie von Greg Kaplan et al. (2018): Monetary Policy According to HANK. American Economic Review 108 (3), 697–743. Darüber hinaus zeigt Adrien Auclert (2019): Monetary Policy and the Redistribution Channel. American Economic Review 109 (6), 2333–2367, dass es nach einer geldpolitischen Änderung implizite Umverteilungskanäle zwischen den Haushalten entlang ihrer unterschiedlichen Einkommen, nominalen Vermögenswerte und Zinsengagements gibt. Dabei reicht die wirtschaftliche Heterogenität von der Ebene der Mitgliedstaaten bis zu den Einkommens- und Vermögensverhältnisse einzelner Haushalte.
Neueste Entwicklungen ermöglichen es der EZB inzwischen, die Dynamik zu beschreiben, mit der die einzelnen Akteure auf Schocks und politische Veränderungen reagieren. Dazu zählen neue makroökonomische Modelle (Heterogeneous Agents New Keynesian, HANK) und die Kombination aus wachsenden Rechenkapazitäten und der Bereitstellung detaillierter mikroökonomischer Daten, zum Beispiel durch die Erhebung über die Finanzen und den Konsum der privaten Haushalte (Household Finance and Consumption Survey). Es ist wichtig, dass die EZB die Entwicklungen in diesen Bereichen weiter vorantreibt und die neuen Erkenntnisse darüber, wie sich eine heterogene Vermögensverteilung auf die Übertragung ihrer geldpolitischen Maßnahmen auswirkt, in ihre Entscheidungen einbezieht.
Der Klimawandel kann schwerwiegende makroökonomische Auswirkungen haben, die für geldpolitische Entscheidungsträger und den Euroraum als Ganzes wichtig sind. Vor allem die physischen Auswirkungen extremer Witterungsbedingungen können sich negativ auf die Wirtschaftsleistung und das Wachstum und damit auch auf die Preisentwicklung auswirken.
Die EU hat ein Maßnahmenpaket in Gang gesetzt, um klimabedingten Risiken zu begegnen und sie zu minimieren. Auch diese Maßnahmen haben realwirtschaftliche und letztlich inflationäre Auswirkungen, die die EZB bei der Betrachtung der Folgen des Klimawandels für die Preisstabilität berücksichtigen muss. So ist beispielsweise die Bepreisung von Kohlendioxid (CO2) eines der wichtigsten Instrumente zur Verringerung der Treibhausgasemissionen. CO2-Preise beeinflussen aber auch ihrerseits die Wirtschaftstätigkeit und die Inflation durch erhöhte Energiekosten.
Der im Juli 2021 veröffentlichte Aktionsplan der EZB zum Klimawandel zielt darauf ab, Klimaüberlegungen in die geldpolitischen Operationen einzubeziehen. Zu den Maßnahmen gehört unter anderem die Umstrukturierung ihres Programms zum Ankauf von Unternehmensanleihen (Corporate Sector Purchase Programme, CSPP), um die Bestände an Unternehmensanleihen schrittweise zu dekarbonisieren. Beim Sicherheitenrahmen des Eurosystems, der die Zulassungskriterien für die von Banken zu stellenden Sicherheiten für die Gewährung von Zentralbankkrediten definiert, wurden klimabezogene Offenlegungspflichten für Sicherheiten aufgenommen. Zudem hat die EZB ihre Risikobewertungsinstrumente in Bezug auf Klimarisiken gestärkt.Pressemitteilung der Europäischen Zentralbank vom 8. Juli 2021: ECB’s governing council approves its new monetary policy strategy (online verfügbar); Pressemitteilung der Europäischen Zentralbank vom 4. Juli 2022: ECB takes further steps to incorporate climate change into its monetary policy operations (online verfügbar). Darüber hinaus müssen Rating-Agenturen künftig Klimarisiken in ihre Ratings einbeziehen.Rosa Lastra und Sara Dietz (2024): Accountability of Greening the ECB. Maastricht Journal of European and Comparative Law (im Erscheinen).
So wichtig der Beitrag der EZB zur grünen Transformation auch sein mag, wird die Institution jedoch nicht von ihren Mandatsgrenzen freigestellt. Die Einbeziehung klimabezogener Risiken ist Bestandteil des Mandats der EZB zur Gewährleistung der Preisstabilität (Artikel 127 AEUV), sofern diese Risiken sich auf das Preisniveau auswirken und daher berücksichtigt werden müssen. Maßnahmen zur Förderung von Nachhaltigkeitszielen stehen aber nur im Einklang mit dem Mandat der EZB, solange sie einzelne Marktteilnehmer oder Finanzinstrumente, die als weniger nachhaltig gelten, nicht diskriminieren.Vgl. Sara Dietz (2022): Green Monetary Policy between Market Neutrality and Market Efficiency. Common Market Law Review 59 (2), 395–432. Die Verbesserung der Offenlegung des CO2-Fußabdrucks von Finanzanlagen ist eine nützliche Maßnahme, um umweltfreundliche Finanzinstrumente zu unterstützen und den Marktteilnehmern einen Anreiz zu geben, bewusster mit ihrem CO2-Fußabdruck umzugehen.Chiara Zilioli und Michael Ioannidis (2021): Klimawandel und das Mandat der EZB. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 32 (24), 1061–1071.; Jens van’t Klooster und Nik de Boer (2022): What to do with the ECB‘s Secondary Mandate. Journal of Common Market Studies 61 (3), 730–746; Dietz (2022), a.a.O.
Ob die EZB aber den grünen Wandel direkter unterstützen darf, indem sie im Rahmen ihrer Ankäufe von Unternehmensanleihen „grüne“ Anleiheemittenten und Unternehmen bevorzugt behandelt, ist dagegen kritisch zu sehen.Vgl. Dietz (2022), a. a. O., Bisher hatte die EZB betont, dass sie bei der Durchführung ihrer Anleihekäufe dem Grundsatz der Marktneutralität folge und daher Anleihen proportional zur Marktkapitalisierung kaufe. Davon will sie nun abweichen und vermehrt Anleihen von umweltfreundlichen Emittenten ankaufen. Das könnte jedoch das Mandat der EZB überfordern. Das Mandat der EZB ist vom Primat der Preisstabilität geprägt; wirtschaftspolitische Zielsetzung, einschließlich klimapolitischer Anliegen, darf die EZB nicht primär verfolgen. Daher wird die Geldpolitik nur insoweit auf den Klimawandel und die grüne Transformation reagieren dürfen, aber auch müssen, als sie die Inflation mittelfristig über das Inflationsziel hinaustreiben und daher eine geldpolitische Reaktion erfordern oder im Sinne von mehr Transparenz Offenlegungsmaßnahmen verlangen.
Im Juni 2023 stellte die EU-Kommission ein umfassendes Legislativpaket vor, das einen Entwurf für eine Einführung des digitalen Euro als Ergänzung zum physischen Bargeld enthält.Vgl. die Website der Europäischen Zentralbank zum digitalen Euro. Sollte das Europäische Parlament und der Rat den Vorschlag annehmen, obliegt es der EZB zu entscheiden, ob und in welcher Form der digitale Euro eingeführt wird (Art. 128 AEUV). Dementsprechend hat die EZB im November 2023 offiziell die Vorbereitungsphase für die Einführung eines digitalen Euro eingeleitet.Vgl. die Website der Europäischen Zentralbank zum Zeitplan des digitalen Euro.
Die EZB argumentiert, dass ein digitaler Euro als Währungsanker dienen würde. Er würde der europäischen Bevölkerung auch im digitalen Zeitalter ein sicheres Zahlungsmittel ohne Verlustrisiko bei Zahlungsunfähigkeit eines Geschäftspartners bieten, die Abhängigkeit von außereuropäischen Zahlungsinfrastrukturen verringern und so dazu beitragen, die Währungssouveränität des Euroraums zu sichern.Europäische Zentralbank (2023), a.a.O. Es wird aber auch argumentiert, dass die Einführung eines digitalen Euro verhindern soll, dass der Euro im internationalen Währungsgefüge an Boden verliert, falls andere Länder eine digitale Währung einführen.Jan Greitens (2023): Der digitale Euro aus einer historischen Perspektive. Wirtschaftsdienst 103 (12), 807–810.
Die Einführung von digitalem Zentralbankgeld wirft jedoch auch Bedenken auf. Ein digitaler Euro könnte Sparer*innen dazu veranlassen, ihr Geld von Bankeinlagen abzuziehen und es auf sichereren, von der Zentralbank gedeckten digitalen Euro-Konten zu deponieren. Damit einher geht das Risiko eines Bank-Runs, wenn solche Vermögensabzüge in großer Höhe und kurzer Zeit erfolgen. Daher sollte der digitale Euro in erster Linie als Zahlungsmittel und nicht als Wertaufbewahrungsmittel verwendet werden.
Um den Abzug von Einlagen zu verhindern, wird über mengenmäßige Haltegrenzen für Privatpersonen und Unternehmen diskutiert.Vgl. EZB (2023), a.a.O. Die Verwendung von Mengenbeschränkungen macht den digitalen Euro jedoch komplex und begrenzt technische Innovationen.Vgl. Greitens (2023), a.a.O.; Stefan Schäfer (2023): Digitales Zentralbankgeld: Dabei sein ist nicht alles. Wirtschaftsdienst 103 (12), 818–821. Der digitale Euro würde nicht als vollständiges Transaktionsmedium dienen, da Zahlungen nur mit automatischem Zugriff auf Bankguthaben durchgeführt werden könnten.
Zudem wird kritisiert, dass die vermeintlichen Probleme und die konkreten Ziele, die mit der Einführung eines digitalen Euro erreicht werden sollen, noch immer nicht deutlich sind. Alternative Ansätze, wie die European Payments Initiative, könnten effektiver sein, um eine größere strategische Autonomie Europas im internationalen Währungsgefüge zu erreichen.Die European Payments Initiative ist ein Zusammenschluss von europäischen Zahlungsdienstleistern und Banken mit dem Ziel, ein standardisiertes europäisches Zahlungsverfahren mit eigener Infrastruktur zu etablieren, das die Abhängigkeit von den großen US-Unternehmen VISA und Mastercard reduzieren soll.
Geld- und Finanzpolitik sind eng miteinander verbunden. Dies gilt umso mehr in einer Währungsunion, in der eine einzige Zentralbank für einen Währungsraum verschiedener, wirtschaftlich mitunter stark heterogener, Mitgliedstaaten eine einheitliche Geldpolitik betreibt, während die nationalen Regierungen für die Finanzpolitik zuständig sind. So kann die Fiskalpolitik etwa die Fähigkeit einer Zentralbank beeinflussen, Preisstabilität zu erreichen. Grund ist, dass gemäß der „Fiskaltheorie des Preisniveaus“ die Trendinflation maßgeblich von der Glaubwürdigkeit der Regierung abhängt, inwieweit sie eine hohe Staatsverschuldung stabilisieren kann.Eric Leeper (1991): Equilibria Under Active and Passive Monetary and Fiscal Policies. Journal of Monetary Economics 27, 129–147; Michael Woodford (1994): Monetary Policy and Price Level Determinacy in a Cash-in-Advance Economy. Economic Theory 4, 345–389. Zudem können hohe öffentliche Schuldenstände zu schwerwiegenden Störungen auf den Märkten für Staatsanleihen führen, die den Wirkungsmechanismus geldpolitischer Maßnahmen behindern können. Im Euroraum sind die Verschuldungsgrade seit der Einführung des Euro in vielen Mitgliedstaaten deutlich gestiegen. Häufig liegen sie über der vorgegebenen Verschuldungsgrenze von 60 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (Abbildung 2).
Umgekehrt kann die Geldpolitik auch einen erheblichen Einfluss auf die finanzpolitische Situation haben, beispielsweise durch Programme zum Ankauf von Vermögenswerten. Die Vertragsbestimmungen (insbesondere Artikel 123 und 125 AEUV) setzen klare Grenzen für das Ausmaß, in dem die EZB einzelne Mitgliedstaaten in schwierigen Haushaltssituationen etwa durch Ankaufprogramme unterstützen kann. Die EZB muss bei der Aktivierung von Wertpapierkaufprogrammen stets sicherstellen, dass sie ihr Mandat (gemäß Artikel 127 AEUV) nicht überschreitet.
Die starken wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Geld- und Finanzpolitik können zu Spannungen bei der Risiko- und Kostenteilung führen, die letztlich den politischen und öffentlichen Willen für ein gemeinsames Europa untergraben könnten. Gerät die EZB zunehmend in die Rolle, fiskalpolitische Bedürfnisse von Mitgliedstaaten mittels geldpolitischer Maßnahmen zu bedienen – eine Situation, die man als „fiskalische Dominanz“ beschreibt – läuft sie Gefahr, dieses Vertrauen und ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ohne diese ist eine wirksame Preisstabilitätspolitik nur schwer möglich.Kerstin Bernoth et al. (2023): Monetary-fiscal interaction: Achieving the right monetary-fiscal policy mix in the euro area. Monetary Dialogue Papers (online verfügbar).
Für die Sicherstellung der erforderlichen fiskalpolitischen Solidität der Mitgliedstaaten ist ein rechtlich verbindliches Regelwerk, das wirksam Grenzen für die Staatsverschuldung setzt und in dem die Mitgliedstaaten dennoch einen ausreichenden Handlungsspielraum behalten, essenziell. Die derzeit diskutierte Reform des europäischen Finanzrahmens ist daher von großer Bedeutung für den Zusammenhalt des Währungsraums. Sie muss sich der grundlegenden Frage stellen, wie die hohe Staatsverschuldung im Euroraum reduziert werden kann, ohne die Ausgaben zu kürzen, die zur Deckung der steigenden Kosten im Zusammenhang mit der digitalen Transformation, dem Klimawandel und der alternden Bevölkerungsstruktur erforderlich sind.
Bislang genießt der Euroraum einige der makroökonomischen Privilegien, die mit der Bereitstellung einer bedeutenden internationalen Währung einhergehen, ohne dass er sich den Verpflichtungen stellen muss, die die US-Notenbank mit der Bereitstellung der weltweit dominierenden Währung zu erfüllen hat.Zu den Vorteilen einer globalen oder internationalen Währung gehören geringere Kapitalkosten, ein stabiler Zugang zu Finanzmitteln für Unternehmen und Regierungen, geringere Kosten und Risiken im Zusammenhang mit dem internationalen Handel sowie Einnahmen aus der Geldschöpfung und aus der Spanne zwischen den Erträgen ausländischer Vermögenswerte und den Kosten ausländischer Verbindlichkeiten. Das Halten der vorherrschenden Währung ist mit Risiken und Pflichten verbunden, zum Beispiel einer Währungsaufwertung in Zeiten globaler Spannungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte beeinträchtigen kann. Darüber hinaus kann die weltweite Nachfrage nach der Leitwährung Anreize für einen übermäßigen Konsum und Leistungsbilanzdefizite schaffen, was Risiken für inländische und globale Ungleichgewichte birgt. Dies ist eine recht günstige Position, und jede Überlegung, wie man die Vorherrschaft des US-Dollar anfechten könnte, sollte zunächst die Frage beantworten, ob dies aus wirtschaftlicher und politischer Sicht überhaupt ratsam ist. Ganz zu schweigen davon, ob dieses Projekt angesichts der Beharrungskraft und der Netzwerkexternalitäten internationaler Währungen überhaupt realisiert werden könnte.Eine positive Netzwerkexternalität bedeutet, dass der Nutzen eines Produktes für einzelne Nutzer*innen mit der Gesamtzahl der Nutzer*innen steigt (Beispiel: Telefonanschlüsse). Wichtig ist aber in jedem Fall, den hohen Internationalisierungsgrad des Euro zu erhalten.
Studien zeigen, dass die Wahl der Reservewährung(en) maßgeblich durch strategische, diplomatische und militärische Macht bestimmt wird.Barry Eichengreen, Arnaud Mehl und Livia Chitu (2019): Mars or Mercury? The geopolitics of international currency choice. Economic Policy 34 (98), 315–363. Wenn ein Land über eine solche Macht verfügt, werden ausländische Regierungen es als in ihrem geopolitischen Interesse betrachten, ihre grenzüberschreitenden Transaktionen tendenziell in dessen Währung abzuwickeln. Je mehr die Sicherheit eines Landes von den US-Streitkräften abhängt, desto mehr Dollar-Reserven wird es halten. Das bedeutet, dass die Durchsetzungskraft der EU auf der internationalen Bühne im Ukraine-Konflikt auch zu einer weiteren Stärkung des Euro im internationalen Währungsgefüge beitragen könnte. Voraussetzung dafür wäre, dass sich die EU in verteidigungs- und sicherheitspolitischer Hinsicht unabhängiger von den USA positioniert.
Darüber hinaus ist die Attraktivität einer Währung weitgehend eine Frage der Präferenz des privaten Sektors. Folglich tragen verstärkte Handels- und Finanzbeziehungen mit dem Euroraum zur weltweiten Akzeptanz des Euro bei. Ein hart umkämpfter Markt ist derzeit der für grüne und nachhaltige Technologien. Es ist wichtig, dass die europäischen Regierungen und die EU-Kommission die notwendige Infrastruktur und den finanziellen Rahmen bereitstellen, um in diesem relativ jungen Sektor mit hoher globaler Nachfrage international wettbewerbsfähig zu werden. Es ist strategisch ratsam, Produktionsanlagen in der EU zu halten und eine Abwanderung in die USA oder China zu vermeiden, um damit auch eine Nominierung in Euro zu erschließen.Kerstin Bernoth und Josefin Meyer (2023): US-Investitionspaket Inflation Reduction Act erfordert schnelles strategisches Handeln der EU. DIW Wochenbericht Nr. 6, 53–60 (online verfügbar).
Die Attraktivität des Euro als internationale Reservewährung steigt auch mit der Verfügbarkeit von sicheren auf Euro lautenden Vermögenswerten. Die quantitative Straffung der EZB wird die Gesamtzahl der sicheren Euro-Vermögenswerte, die für Anlagezwecke auf den Finanzmärkten zur Verfügung stehen, erhöhen. Noch wichtiger ist jedoch, dass die derzeit diskutierten Reformen des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung darauf abzielen, in allen Mitgliedstaaten ein tragfähiges Verschuldungsniveau zu erreichen.
Zudem sollte der Euroraum bestrebt sein, seine Abhängigkeit von der US-Finanzinfrastruktur, einschließlich der Zahlungskartensysteme und der Zahlungskoordinierung über das Clearing House Interbank Payment System (CHIPS), zu verringern. Diese Abhängigkeit ist derzeit so groß, dass ein Ausschluss von dieser Infrastruktur gleichbedeutend mit einem Ausschluss vom Welthandel wäre. Daher ist es wichtig, europäische Alternativen weiter zu prüfen und zu entwickeln.Für einen Überblick vgl. Andreas Nölke (2022): The weaponization of global payment infrastructures: A strategic dilemma. SAFE White Paper Nr. 89.
Auch im Hinblick auf die für 2025 geplante Überprüfung ihrer Strategie ist es für die EZB wichtig, Antworten auf die Herausforderungen zu finden, mit denen sie bereits heute und in naher Zukunft konfrontiert ist. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen braucht die Zentralbank jedoch auch die Unterstützung der Regierungen der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission.
Um zu vermeiden, dass die fiskalische und makroökonomische Heterogenität mittel- und langfristig eine geldpolitische Stabilitätspolitik beeinträchtigt, ist eine wirksame wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten und eine Reform des fiskalischen Regelwerks in der Europäischen Währungsunion dringend notwendig. Die fiskalische Disziplin muss erhöht werden und fiskalische Grundbedingungen müssen sich stärker angleichen. Darüber hinaus ist es wichtig, die Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Bevölkerung bei geldpolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen.
Die Geldpolitik kann und sollte ihren Teil dazu beitragen, Anreize für die Finanzmärkte zu setzen, um den wichtigen und notwendigen grünen Wandel zu unterstützen. Allerdings muss die EZB die Grenzen ihres Mandats achten – nicht nur, weil Rechtsstaatlichkeit per se ein Wert ist, sondern weil die EZB andernfalls langfristig ihre besondere Stellung als unabhängige Institution einbüßen wird.
Weitere Studien sind erforderlich, um die möglichen Auswirkungen der Einführung eines digitalen Euro auf die Finanzstabilität, die Privatsphäre und verschiedene Aspekte des öffentlichen und privaten Rechts vollständig zu verstehen. Bevor die EZB den Schritt zur Einführung eines digitalen Euro geht, müssen die Kosten und Risiken eines solchen Großprojekts sorgfältig gegen seine Vorteile abgewogen werden.
Um den hohen Stellenwert des Euro auf den Weltwährungsmärkten zu erhalten, ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Wert des Euro stabil bleibt und die EU auf der internationalen Bühne der Diplomatie, der Handels- und Industriepolitik und der Sicherheitspolitik selbstbewusst und durchsetzungsfähig auftritt.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Geldpolitik, Finanzmärkte, Europa, Digitalisierung
JEL-Classification: D63;E31;E52;E58;E42;E63
Keywords: European Central Bank, monetary policy, digital central bank currency, green monetary policy, income inequality, wealth inequality, monetary-fiscalinteraction
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-11-1