15 Euro pro Stunde – und der Niedriglohnsektor wäre passé

Blog Marcel Fratzscher vom 27. Mai 2024

Den Mindestlohn auf 15 Euro anheben? Das wäre gut für die Wirtschaft – trotz mancher Nachteile.

Sollte der Mindestlohn auf 15 Euro erhöht werden? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich hier klar positioniert, auch SPD-Chef Lars Klingbeil hat sich für eine Anhebung ausgesprochen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt dies ab. Manche sehen die Wirtschaft als Leidtragende einer solchen Erhöhung. Aber stimmt das? Wären 15 Euro Mindestlohn zu viel?

Eine differenzierte Analyse zeigt, dass die Gesamtwirtschaft und die Unternehmen von einem Mindestlohn in Höhe von 15 Euro profitieren könnten.

Diese Kolumne erschien am 24. Mai 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Aber der Reihe nach: Der Mindestlohn ist seit jeher umstritten. Vor der Einführung 2015 mit 8,50 Euro monierten einige Ökonom*innen, der Eingriff würde die Wirtschaft schwächen und zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Das ist aber nicht passiert. Im Gegenteil: Die Beschäftigung in Deutschland stieg weiter an. Der Mindestlohn wurde schrittweise erhöht. Nach der Bundestagswahl 2021 ignorierte die Bundesregierung zum ersten Mal die Mindestlohnkommission, die eine Empfehlung für die Anpassung aussprechen soll, und setzte einen Mindestlohn von zwölf Euro durch. Und nun steht erneut die Frage einer politischen Intervention und einer Anhebung auf 15 Euro zur Diskussion.

Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,41 Euro. Eine Erhöhung auf 15 Euro hätte positive wie negative Effekte. Die Beschäftigten würden am meisten profitieren. Durch die Einführung des Mindestlohns ist der Niedriglohnsektor in Deutschland von über 21 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2014 auf heute knapp 16 Prozent geschrumpft. Höhere Löhne bedeuten bessere Einkommen, was wiederum zu einer höheren Kaufkraft führt und auch den privaten Konsum erhöht. Das wiederum erhöht die Nachfrage und sorgt für mehr Umsatz für die Unternehmen.

Die Kehrseite einer Erhöhung auf 15 Euro

Aber die Lohnspreizung würde durch eine starke Anhebung des Mindestlohns reduziert werden. Denn von der Erhöhung des Mindestlohns von 12,41 Euro auf 15 Euro werden nicht nur alle Beschäftigten betroffen sein, die jetzt geringere Löhne erhalten. Als Folge wird sich die gesamte Lohnkurve nach oben verschieben, da Unternehmen auch Beschäftigte mit etwas über dem Mindestlohn besser bezahlen werden müssen. Nur mag die Lohnsteigerung der Beschäftigten nicht so stark ausfallen wie die für die Beschäftigten mit Mindestlohn. Es gibt bisher jedoch keine systematischen Erkenntnisse, dass eine geringere Lohnspreizung die Anreize für Arbeit oder zusätzliche Arbeit signifikant reduziert.

Dagegen liegt die Vermutung nahe, dass viele Unternehmen die Leidtragenden einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns wären, denn sie müssten für die höheren Löhne zahlen. Die Konsequenz könnte sein, dass ihre Gewinne schrumpfen und sie somit weniger investieren. Dies muss jedoch nicht so sein, denn viele Unternehmen werden zumindest einen Teil der gestiegenen Löhne in der Form von höheren Preisen an die Verbraucher weitergeben.

Die produktiven Unternehmen gewinnen

Zudem könnten einige Unternehmen gezwungen sein, Beschäftigte zu entlassen, da sie die höheren Löhne nicht zahlen und diese nicht durch gestiegene Preise an die Verbraucher*innen weitergeben können. Dies haben wir nach der Einführung des Mindestlohns 2015 bei einzelnen, vor allem kleinen Unternehmen gesehen. Der wichtigste Punkt ist jedoch: Obwohl eine Erhöhung des Mindestlohns einzelne Unternehmen negativ treffen kann, dürften die positiven Aspekte für die Wirtschaft und Unternehmen als Ganzes überwiegen. Denn so zeigt eine Studie des Ökonomen Christian Dustmann und seiner Co-Autoren, dass die Einführung und Erhöhung des Mindestlohns zu einer Verlagerung der Beschäftigung von weniger produktiven zu produktiveren Unternehmen geführt hat. Mit anderen Worten, der Mindestlohn hat die gesamte Wirtschaft leistungsfähiger gemacht, weil er zu einer Verlagerung der Arbeitsplätze hin zu produktiveren Jobs geführt hat.

Zudem ist der Arbeitskräftemangel in praktisch allen Branchen so groß, dass selbst eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen dürfte.

Und es gibt einen zweiten positiven Aspekt eines höheren Mindestlohns. Studien für die USA zeigen, dass ein Mindestlohn und eine generell gute Bezahlung die Loyalität und die Motivation der Beschäftigten erhöhen und somit die Kosten für Unternehmen reduzieren. Ein höherer Mindestlohn dürfte sich also zumindest zu einem kleinen Teil über eine dadurch gewonnene Produktivität finanzieren.

In einem Punkt haben die Kritiker*innen jedoch recht: Ein Mindestlohn von 15 Euro dürfte manche Produkte teurer machen. Die Bäckerei, der Supermarkt oder das Café könnten gezwungen sein, die Preise erhöhen zu müssen. Dieser Nachteil aus Sicht der Konsument*innen dürfte jedoch deutlich geringer sein als die Vorteile durch höhere Löhne und Einkommen, insbesondere für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, die direkt oder indirekt vom höheren Mindestlohn profitieren. Zudem sollten höhere Preise nicht mit einem Anstieg der Inflation verwechselt werden: Der Sprung des Mindestlohns auf 15 Euro würde die Preise einmalig erhöhen und nicht zu einer dauerhaft höheren Teuerung führen.

Und was ist mit der Mindestlohnkommission?

Ein weiterer Kritikpunkt ist, diese politische Intervention schädige die Marktwirtschaft, weil sie die Tarifautonomie unterminiere und die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission gefährde. Die Argumente zeugen jedoch von einem grundlegenden Missverständnis: Der Mindestlohn wurde vor allem deshalb eingeführt, weil Beschäftigte im Niedriglohnbereich so gut wie nie über Tarifverträge abgedeckt sind. Der Mindestlohn dient also als Ersatz für eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Und die Mindestlohnkommission ist nicht unabhängig, sondern hochpolitisch, weil dort Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen und nicht Expert*innen über die Sinnhaftigkeit einer Anpassung des Mindestlohns entscheiden.

Der Staat wird einer der größten Gewinner eines höheren Mindestlohns sein. Dies wird die Steuereinnahmen erheblich erhöhen, sowohl über die Einkommen- und Lohnsteuer als auch über die Mehrwertsteuer dank eines gesteigerten privaten Konsums.

Zudem werden auch die Sozialausgaben des Staats sinken. Denn durch einen höheren Mindestlohn muss der Staat weniger soziale Leistungen für sogenannte Aufstocker zahlen, die zwar arbeiten, aber so wenig verdienen, dass sie auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Höhere Löhne bedeuten zudem mehr Einnahmen bei den Sozialversicherungen und eine bessere Absicherung fürs Alter, weniger Altersarmut und damit auch weniger Ausgaben für die Grundsicherung.

Wenn der Bundesfinanzminister dem Bundeskanzler nun vorwirft, einen Mindestlohn von 15 Euro zu befürworten, sei lediglich ein Manöver für den Bundestagswahlkampf, dann mag das vielleicht zutreffen. Aber Fakt ist, dass die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro die Nachteile für einzelne Unternehmen überwiegen. Viele Menschen wären zufriedener, das ist gut für den sozialen Frieden und würde unserem höchst verunsicherten Land guttun.

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