Kaufpreise frisch vom Alexanderplatz

Der Auftrag war klar: Die Durchführung erforderte Schlendern und Stöbern. Ute Figgel sollte für die Abteilung „DDR und östliche Industrieländer“ des DIW die Preise für Radiergummis, Lineale, Bleistifte, Blöcke und andere Schreibwaren in den Geschäften rund um den Ostberliner Alexanderplatz ermitteln. Die DIW-Wissenschaftler*innen brauchten die Daten, um den Kaufkraftvergleich der Menschen in den beiden deutschen Staaten zu berechnen. Jeder von ihnen habe acht bis zehn Produkte zugeteilt bekommen, erinnert sich Ute Figgel, die von 1985 bis 1987 in der DDR-Abteilung arbeitete, bevor sie in die Bibliothek wechselte. Sie und ihre Kolleg*innen fuhren also von West-Berlin mit der S-Bahn zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße oder gingen verteilt über Berlin über einen der anderen Grenzübergänge nach Ost-Berlin. Jede und jeder hatte eine Produktliste im Kopf. Interessant waren sowohl die Preise für Kerzen als auch für Filtertüten, für Seife, Brot, Äpfel, Lebensmittel und Beleuchtungskörper, wie Glühbirnen bei den Wirtschaftswissenschaftlern heißen.  

 

© DIW Berlin

„Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Aber man war schon sensibilisiert.“ Ute Figgel

Aufschreiben wäre zu gefährlich gewesen

Vom Bahnhof Friedrichstraße aus schlenderte Ute Figgel durch die Straßen, stöberte in einem oder zwei Schreibwarengeschäften nach den Produkten auf ihrer inneren Liste und merkte sich die Preise. Aufschreiben wäre zu gefährlich gewesen, denn Besucher*innen aus dem Westen in der Ost-Berliner Innenstadt zogen die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf sich. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich beobachtet werde“, sagt Ute Figgel. „Aber man war schon sensibilisiert.“

 

Eine Konsum Kaufhalle in Dresden Johannstadt in den 1980er Jahren.
© Bundesarchiv

Zurück im Westen, flossen die frischen Preise vom Alexanderplatz in Wochenberichte ein: „Zum Kaufkraftverhältnis zwischen der D-Mark und der Mark der DDR“. Da das DIW seit den 1950er Jahren die Wirtschaft der DDR wissenschaftlich begleitet hat, verfügten die Wissenschaftler*innen über ein immenses Wissen über die DDR. Als die Wirtschaftsexpert*innen für den Bundestag den „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987“ verfassen sollten, konnte das DIW daher aus dem Vollen schöpfen. Auf 400 Seiten legten sie die „Vergleichende Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR seit 1970“ dar. So konnte das DIW aus erster Hand auch über die Preise für Schreibwaren berichten: „Günstiger sind Waren, die dem Grundbedarf dienen, die in einfacher Qualität angeboten oder aus gesellschaftspolitischen Gründen gestützt werden, z. B. bestimmte Druckerzeugnisse (z. B. Zeitschriften, aber auch Bücher), Papierwaren, Artikel der Gesundheitspflege sowie Heizmaterial.“

Die DIW-Expert*innen haben auf ihren Streifzügen rund um den Alexanderplatz auch beobachtet, was in keiner amtlichen Statistik auftauchte: „Einfache Uhren (z. B. Wecker und Küchenuhren) kosten in der DDR schon mehr als doppelt so viel wie im Bundesgebiet, moderne Uhren sind erheblich teurer.“

© DIW Berlin

Arbeitsproduktivität der DDR soll bei 50 Prozent der BRD liegen

Zwei Jahre vor der friedlichen Revolution in der DDR am 9. November 1989 und dem folgenden Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft analysieren die DIW-Wissenschaftler*innen schonungslos die wirtschaftliche Lage in Ost-Deutschland. Sie attestieren eine „verkommene Infrastruktur, restriktiv wirkende Informationspolitik, unzureichend ausgebaute Verkehrs- und Kommunikationswege sowie Ressortegoismus bei Betrieben, Kombinaten und Industrieministerium“. Zusammen mit den „veralteten Anlagen“ erreiche die DDR daher laut Analyse des DIW nur eine Arbeitsproduktivität von etwa 50 Prozent der Bundesrepublik Deutschland und eine Industrieproduktion von „einem Viertel der Erzeugung der BRD“.  Nach der Wiedervereinigung zeigte sich, dass die Arbeitsproduktivität der DDR sogar noch darunter lag.

 

100 JAHRE DIW BERLIN IN FÜNF EPOCHEN

keyboard_arrow_up