Das DIW Berlin hat in einem Konsortium mit der Deutschen Bank und anderen Wissenschaftlern die Ukraine seit 1994 auf ihrem Weg zu einer sozialen Marktwirtschaft beraten. Lars Handrich übernahm 2001 die Koordinierung des Beratungsteams in der Ukraine und half ein ukrainisches Wirtschaftsforschungsinstitut zu etablieren. Handrich blickt zurück auf viele Jahre der deutsch-ukrainischen Zusammenarbeit und erklärt, wie sich osteuropäische Staaten wie die Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion reformieren wollten, warum sie dazu die Bundesrepublik um Hilfe baten und was das alles mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu tun hat:
„Wie es zur Beratung in der Ukraine kam, ist leicht zu erklären: Deutschland hatte nach dem Ende der DDR zahlreiche Erfahrungen mit der Transformation einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, die andere Länder nicht hatten. Auch das DIW Berlin hatte sich hier einiges an Expertise erarbeitet. Außerdem hatte sich Deutschland, obwohl es Verlierer des Krieges war, recht schnell wieder zu einer führenden Industrienation mit einem starken Sozialstaat entwickelt. Dieses Vorbild erschien für einige postsowjetische Staaten, darunter die Ukraine, sehr attraktiv.
Um zu verstehen, wo die Ukraine 1991 stand, muss man einen Blick auf ihre Industrie werfen. Die Ukraine gehörte zum industriellen Kern der Sowjetunion und hatte eine große Kohle-, Eisen- und Stahlproduktion. In der Ukraine wurden Lokomotiven, Panzer, Autos, Lastwagen und Flugzeuge gebaut, und das Land war ein wichtiger Teil des Raketenprogramms der Sowjetunion. Mit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine brachen die sowjetischen Lieferketten mit anderen Nachfolgestaaten ab, denn die Zulieferer waren nun im Ausland. Gleichzeitig führte die Liberalisierung des Außenhandels dazu, dass dieser mit harter Währung abgewickelt wurde. Plötzlich mussten die Unternehmen und Verbraucher*innen beispielsweise Elektronik für wertvolle Dollars kaufen. Die Produkte aus ehemaligen Sowjetrepubliken konnten mit denen aus Westeuropa, den USA oder Japan nicht konkurrieren. Auch wurden lieber gebrauchte Autos aus dem Westen importiert als die in der Ukraine produzierten Fahrzeuge.
Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Ukraine zwischen 1991 und 1995 rund die Hälfte ihrer Wirtschaftskraft verloren hat. Nur zum Vergleich: Für uns in Deutschland ist ein Rückgang von 0,2 Prozent schon ein Problem. In der Ukraine kam hinzu, dass es nicht gelungen war, eine eigene Währung einzuführen, so dass die Inflation enorm stieg.
Die Ukraine hatte in gewisser Weise auch ein Personalproblem, was eine Marktwirtschaft angeht: Bisher gab es in den postsowjetischen Staaten zwar Leute, die verwalten konnten, was bisher in Moskau entschieden worden war. Aber eigene Strategien und Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, dafür fehlten sowohl die Kenntnisse als auch die Erfahrung. Gleichzeitig bedeutete Politikberatung damals wie heute nicht, dass die Regierung zwingend das umsetzt, was ihr Beraterinnen und Berater vorschlagen. Was die Kolleginnen und Kollegen taten, war, Ideen und Hilfestellungen anzubieten.