DIW-Forschung für das NS-Regime

Bereits 1932 hatte Deutschland die Talsohle der Wirtschaftskrise durchschritten, sodass die Nationalsozialisten den beginnenden Aufschwung für sich reklamieren konnten – zu Unrecht zwar, aber dennoch erfolgreich. Neben strukturellen Rahmenbedingungen sorgte aber auch die NS-Politik dafür, dass Deutschland ein „Wirtschaftswunder“ erlebte und sich rascher als andere Industrienationen erholte. Mit massiven, stark planwirtschaftlichen Investitionen (wie dem berühmten Autobahnbau) befeuerte sie die Wirtschaft und senkte die Arbeitslosenzahlen.

Das NS-Regime brüstete sich zwar damit, mit einer straffen Wirtschaftslenkung die schwankende „Konjunktur“ überwunden zu haben – das aber war nur Propaganda: Trotz aller rücksichtslosen und tiefen Eingriffe in das Wirtschaftsleben (wie die Arisierungen oder Vorgaben zur Rüstungsproduktion) plante die NS-Wirtschaftspolitik zumindest während des Krieges nicht die völlige Abschaffung der freien Wirtschaftsordnung, sondern baute auf die Zusammenarbeit und Kooperation der Wirtschaftslenker – die diese auch willfährig lieferten.

Wagemanns Konjunkturtheorie und die NS-Wirtschaftspolitik

Letztes Ziel aller wirtschaftlichen Maßnahmen waren aber Aufrüstung, Massenmord und Krieg – und am Ende stand ein Zusammenbruch, der jede konjunkturelle Störung weit in den Schatten stellte.infoWehler 2003; Fremdling 2020 Das Interesse der Nationalsozialisten an Wagemanns Ideen ist nicht schwer zu erklären: Die Schnittmengen zwischen seiner Konjunkturtheorie mit ihren Steuerungsplänen und der staatlich-planwirtschaftlichen NS-Wirtschaftspolitik waren relativ groß. Wagemann pries seinerseits den „Gestaltungswillen des Nationalsozialismus“ gegenüber dem „Defaetismus des Liberalismus“, der konjunkturelle Zyklen zuließ. Trotzdem war die Harmonie nicht ungetrübt: Als Wagemann angesichts steigender Staatsverschuldung und sinkender privater Investitionen 1935 auf einer DAF-Tagung öffentlich vor einem bevorstehenden konjunkturellen Abschwung warnte, gerieten er, sein Institut und die Konjunkturforschung an sich ins Visier des NS-Propagandaapparates, der „das Konjunkturschema als liberalistische und mechanistische Verkennung des Primats der Politik verwarf“. In der Folge verabschiedeten sich Wagemann und sein Team vom „liberalistischen“ Blick auf das Wirtschaftsleben. Zudem wurde die Zwangswirtschaft immer offensichtlicher und damit erledigte sich die Idee einer „Konjunktur“ fast von selbst.infoTooze 1993, S.14f.; Tooze 2001; Krengel 1986; Fremdling 2020. Speziell zu den Ereignissen in der zweiten Hälfte des Jahres: Tooze 1993, S.13–15; Tooze 2001, S.182, zudem: Neue Freie Presse 1935, S.1f

Mit seinem breiten Forschungsspektrum blieb das IfK auch nach 1933 das führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitut. Eine wichtige Veränderung des Jahres 1933 lag aber in der Finanzierung, denn mit den Auftragsarbeiten erschloss sich das IfK neue Arbeitsfelder und neue Finanzierungsquellen. Da mit dem Ausbau der staatlichen Wirtschaftslenkung auch der Bedarf an empirischer Wirtschaftsforschung stieg, herrschte kein Mangel an lukrativen Aufträgen. Das erklärt das enorme Wachstum des Institutes in der NS-Zeit. Bereits zuvor hatte das IfK für staatliche Stellen gearbeitet, aber seit 1936, als die Nationalsozialisten die restlose Kontrolle von Staat und Gesellschaft verfolgten und die Wirtschaft radikal auf einen Krieg ausrichteten, intensivierte sich diese Tätigkeit. Ab 1939 dominierten die Aufträge des NS-Regimes die Institutsaktivitäten.

IfK analysiert potenzielle Gegner Deutschlands

Während die Konjunkturberichterstattung wie erwähnt in den Hintergrund trat, untersuchte das IfK in den 1930er-Jahren Arbeitsmarkt und öffentliche Finanzen, Außenhandel und Devisen. Mit Blick auf den geplanten Krieg ging es bald immer mehr um Rüstungswirtschaft, Rohstoffbeschaffung, Lebensmittelversorgung. Das IfK untersuchte die potenziellen Gegner Deutschlands und analysierte deren Lebensmittel-, Rohstoff- und Energieversorgung sowie die Kapazitäten der Rüstungsindustrie. Zudem beschäftigte sich das Institut mit der Kriegsfähigkeit und der „industriellen Mobilmachung“ Deutschlands. Dabei ging es auch um die Rekrutierung von Arbeitskräften, Logistik und Kriegsfinanzierung. Die Auftragsarbeiten des IfK verdeutlichen dessen Engagement für den NS-Staat, das sowohl von Eigeninitiative (SelbstmobilisierunginfoDer Begriff meint die freiwillige Indienststellung für den NS-Staat.) als auch vom Druck des Regimes bestimmt wurde.infoTooze 2001; Tooze 1993; Jahresberichte 1933–1938; Stäglin, Fremdling 2016 a; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966; Fremdling, Stäglin 2024; Wehler 2003

Digitalisierung der DIW Wochenberichte

Im Rahmen des DFG Projektvorhaben „Wochenbericht digital in Wort und Zahl – Digitale Bereitstellung der DIW Wochenberichtsinhalte 1928 bis 1968 (WBdigital)“ erfolgte die Digitalisierung und inhaltliche Erschließung der historischen DIW Wochenberichte 1928 bis 1968.

Der Zugriff erfolgt über das digitale Repositorium WBdigital, das Nutzer*innen den Zugriff auf die historischen DIW Wochenberichte ermöglicht.

Nach dem Anschluss Österreichs, des Sudetenlandes und der „Resttschechei“ 1938/39 erforschte das IfK intensiv die dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse. Und auch die Essener Abteilung schaltete von der Regional- auf die „Raumforschung“ um, und beschäftigte sich u. a. mit den potenziellen Eroberungsgebieten im Westen. Der Krieg kündigte sich an.infoKrengel 1986; Jahresberichte 1933–1938; Stäglin, Fremdling 2016 a; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966; Pierenkemper, Fremdling 2018 Obwohl sich das IfK der verbrecherischen NS-Politik bereitwillig unterwarf, konnte es ein hohes fachliches Niveau halten, und Deutschland verlor in den 1930er-Jahren noch nicht den Anschluss an die internationale Wirtschaftswissenschaft. Im IfK, im StRA und in anderen Einrichtungen wurden – wie in anderen Industrieländern – die noch in den Kinderschuhen steckende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), die Kreislauftheorie und die Verflechtungsanalyse weiterentwickelt: wissenschaftliche Ansätze, die für ganz unterschiedliche politische Ziele genutzt werden konnten.infoTooze 2001; Tooze 1993; Fremdling 2020; Nützenadel 2005

Zu Beginn der NS-Diktatur veröffentlichte das DIW seine Wochenberichte mit Forschung im Sinne der Nazis. In seinen Wochenberichten rechneten die DIW-Wissenschaftler vor, wie gut die Kriegswirtschaft gedeihe, beispielsweise indem sie 1938 aufschrieben, wie die NS-Wirtschaft nach fünf Jahren aussieht.
© DIW Berlin

Expansion im Krieg: Forschung für ein verbrecherisches Regime

Im Zuständigkeitschaos des NS-Systems blieb die Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Krieg zunächst wenig effizient. 1940 reorganisierte das NS-Regime die Planungen: Unter den Ministern Fritz Todt (1891–1942) und Albert Speer (1905–1981) wurde versucht, die Rüstungswirtschaft effizienter zu machen. Tatsächlich gelang trotz widriger Umstände eine deutliche Produktionssteigerung.infoWehler 2003; Tooze 2001 Statistisches Reichsamt, Wirtschaftsforschungsinstitute und akademische Nationalökonomie leisteten ebenfalls ihren Beitrag zum verbrecherischen Krieg. Wissenschaftliche Rationalität und NS-Ideologie verbanden sich, um die Wirtschaft möglichst effizient auf den Krieg auszurichten und die eroberten Gebiete auszubeuten. Dabei kam ein wissenschaftliches, rationales, ökonomisches und statistisches Instrumentarium zum Einsatz, das nicht dem Gemeinwohl diente, sondern die Politik einer menschenverachtenden Ideologie unterstützte. Die „Modernität“ der Mittel machte das NS-Regime so gefährlich.infoWehler 2003; Tooze 2001; Pierenkemper, Fremdling 2018; Take 2019

Statt öffentlicher Publikationen fertigte das IfK/DIW ab 1940 zunehmend vertrauliche und geheime Gutachten an, hier zum japanischen Außenhandel 1939/40. 34 100 Jahre DIW Berlin Dank der engen Kooperation mit dem NS-Regime expandierte das IfK ab 1939 noch stärker als zuvor: Die Zahl der Mitarbeitenden in Berlin stieg von 131 (1940) auf 186 (1942). Die Einnahmen aus der Auftragsforschung stiegen von 995.000 Reichsmark (1939/40) auf fast 1.600.000 Reichsmark (1944/45).infoStäglin, Fremdling 2016 b; Fremdling 2020; Fremdling, Stäglin 2024; Krengel 1986; Stäglin, Fremdling 2016 a

Umbenennung des IfK in DIW

Da sich das Thema „Konjunkturforschung“ durch die NS-Zwangswirtschaft erledigt zu haben schien und um die „nationale Bedeutung“ des Institutes zu betonen, wurde das IfK am 18. Juni 1941 in „Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung“ umbenannt. Damit folgte man auch in einem weltweiten Trend – der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften von der Konjunkturforschung zu einer umfassenderen Analyse der Wirtschaft. Die 23 Mitglieder des Kuratoriums repräsentierten weiterhin staatliche und öffentlich-rechtliche Einrichtungen, Verbände und Unternehmen, die vielfach auch als Auftraggeber agierten. Hinzu kamen Goebbels’ Propagandaministerium und die NSDAP-Parteikanzlei.infoStäglin, Fremdling 2016 b; Fremdling 2020; Fremdling, Stäglin 2024; Krengel 1986; Stäglin, Fremdling 2016 a

Historisches Eingangsschild des DIW Berlin - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
© DIW Berlin

Im Gleichschritt mit der Eroberung Europas gründete das IfK ab Ende der 1930er-Jahre ein Netz von Zweigstellen. Sie sollten ihren Beitrag zur nationalsozialistischen „Großraumpolitik“ leisten, d.h. vor allem die Ausbeutung der eroberten Gebiete unterstützen. Neben den Instituten im alten Reichsgebiet (Breslau, München, Braunschweig, Danzig, Halle, Magdeburg und Hamburg) entstand ein Institut in Reichenberg im 1938 annektierten Sudetenland und eines in Kattowitz im 1939 eroberten OstoberschlesieninfoKattowitz war von 1922 bis 1939 die Hauptstadt der autonomen Woiwodschaft Schlesien. 1939 wurde die Stadt durch die deutsche Wehrmacht besetzt, nachdem sich die polnische Armee zurückgezogen hatte, hinzu kamen Zweigstellen in Hauptstädten besetzter Länder (Paris, Prag, Amsterdam). Zusätzlich übernahm das IfK 1938 die Kontrolle über das „Österreichische Institut für Konjunkturforschung“ (nun „Wiener Institut für Wirtschafts- und Konjunkturforschung“). Formaljuristisch waren diese Zweigstellen zwar unabhängig von Berlin, aber Wagemann fungierte überall als Präsident und meist auch als Leiter von Kuratorium und Verwaltungsausschuss. Um allen Zweigstellen denselben juristischen Status zu geben, wurde 1943 die „Abteilung Westen“ des DIW in Essen in das „Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung“ (RWI) umgestaltet.infoFremdling 2020; Krengel 1986; Pierenkemper, Fremdling 2018

Während des Krieges konzentrierte das DIW seine Arbeit zunehmend auf Forschungen für die nationalsozialistische Eroberungs-, Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik und auf kriegs- und rüstungswirtschaftliche Fragen. Anstelle öffentlicher Publikationen produzierte das IfK/DIW ab 1940 zunehmend vertrauliche und geheime Gutachten für staatliche Stellen oder die Wehrmacht. Die Palette dieser Arbeiten umfasste gemäß der Institutsklassifizierung 14 Bereiche von Industrie über Arbeitseinsatz, Verbrauch, Finanzen, Handel, Ernährung, Verkehr und Russlandforschung bis hin zur Filmforschung.info7 Fremdling, Stäglin 2024; Stäglin, Fremdling 2016 b; Krengel 1986; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966. Die 14 Bereiche waren Industriewirtschaft, Arbeitseinsatz, Volkseinkommen, Verbrauch und volkswirtschaftliche Bilanzen, Öffentliche Finanzen, Geld- und Kreditwirtschaft, Währungswesen, Außenhandel und Auslandswirtschaft, Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft, Verkehrswirtschaft, Post- und Fernmeldewesen, Russlandforschung, Preisbeobachtung und Handel, Filmwirtschaft, Regionalwirtschaft, Sonstige Themenbereiche.

Das IfK/DIW war aktiv handelnder Teil des politisch-wirtschaftlichwissenschaftlichen Apparates und hat an der Umsetzung der Aufträge des Regimes mitgearbeitet. In welchem Umfang das IfK/DIW direkt an Verbrechen des NS-Regimes beteiligt war, ist noch nicht hinreichend erforscht worden. Bei den für das NS-Regime erstellten Gutachten waren mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem zwei Gebiete wichtig: Arbeitseinsatz und Ernährung.

Forschung für die Nazis zu Arbeitseinsatz und Ernährung

So beschäftigte sich das IfK/DIW während des Krieges intensiv mit dem Arbeitseinsatz in Deutschland und anderen Ländern: 1940 untersuchte das IfK Möglichkeiten zur „Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskräfte, der Verwendung der Kriegsgefangenen und der Heranziehung von Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten“.infoBundesarchiv R 11/111 Letztlich wurde das IfK/DIW damit mitverantwortlich für die Ausbeutung und Ermordung von Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlingen.infoFremdling, Stäglin 2024; Quellensammlung, DIW, 2010/2021; Stäglin, Fremdling 2016 b; Krengel 1986; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966

Ernährungswirtschaftliche Fragen bildeten einen weiteren Schwerpunkt.infoFremdling, Stäglin 2024; Quellensammlung, DIW, 2010/2021; Stäglin, Fremdling 2016 b; Krengel 1986; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966. In den Jahren von 1939 bis 1945 erstellte das IfK/DIW vor allem für staatliche Stellen zahlreiche kriegsrelevante Gutachten zu den landwirtschaftlichen Erträgen und zur Lebensmittelversorgung in vielen europäischen Ländern. So wurde im März 1943 auf der Jahressitzung des DIW-Kuratoriums über Auftragsarbeiten für die „Chefgruppe Landwirtschaft“ im „Wirtschaftsstab Ost“ berichtet. Diese Dienststelle hatte seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 das Ziel, die Wirtschaft des besetzten Territoriums auszubeuten und sowjetische Wirtschaftsressourcen für die deutsche Kriegsführung nutzbar zu machen. Der dem Protokoll der Kuratoriumssitzung beigefügte Bericht vermerkt zur Auftragsforschung: „Es handelt sich um die laufende Kontrolle der Agrarstatistik für die besetzten Ostgebiete, die Vorausberechnung der aus den besetzten Ostgebieten zu erwartenden Nahrungsmittellieferungen und die Prüfung der Einsatzmöglichkeiten von Schienen- und Wasserwegen für den Abtransport.“ In dem von Ernst Wagemann im Juli 1944 an das Reichswirtschaftsministerium übersandten DIW-Arbeitsbericht heißt es: „Für den Wirtschaftsstab Ost wurden umfangreiche Zahlenübersichten angefertigt, die einen Überblick über die Anbauflächen, Ernteerträge und Viehbestände in der Ukraine, im Donez-Gebiet [Region Donezk] und im Reichskommissariat Ostland geben.“info„Arbeitsbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (April 1943 bis Juni 1944)«, Quellensammlung, DIW, 2010/2021 bzw. Bundesarchiv R 3101/32126, S. 7. Ebenfalls in diesem Bericht, S. 4: „Im Zusammenhang mit den im Osten anfallenden Transportaufgaben wurden im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums die verkehrswirtschaftlichen Grundlagen für den Ausbau der Eisenbahnverbindungen zwischen den besetzten Ostgebieten und dem Grossdeutschen Reich untersucht. Ähnliche Arbeiten für das Reichsernährungsministerium hatten die Frage der Einsatzmöglichkeiten von Schiene und Wasserstrasse für den Abtransport landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus dem Osten zum Gegenstand.« So trugen die Forschungsergebnisse des DIW zur Vernichtungspolitik der nationalsozialistischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion bei. Dazu zählte der mörderische „Hungerplan“ des NS-Regimes, der den Tod von Millionen Menschen in der Sowjetunion zur Folge hatte.

Zu diesen Aktivitäten liegt bisher nur eine begrenzte Anzahl von Quellen vor, nur wenige Gutachten sind überliefert; insofern kann das Ausmaß des DIW-Engagements für die verbrecherische Ostexpansion NS-Deutschlands zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht genau bestimmt werden. Zu erforschen wäre, ob sich in Archiven weitere landwirtschaftliche DIW-Gutachten erhalten haben, um was es in den Auftragsarbeiten konkret ging und in welchem Maße diese von staatlichen Stellen oder der Wehrmacht für verbrecherische Aktivitäten herangezogen wurden.infoQuellensammlung, DIW, 2010/2021

DIW-Industrieabteilung unterstützt Rüstungsplanung

Den mit Abstand wichtigsten wissenschaftlichen Input für die nationalsozialistische Wirtschafts- und Kriegsplanung verantwortete die 1938 gegründete Industrieabteilung des IfK/DIW. Das Team erstellte bereits früh erste ökonomische Verflechtungsanalysen – eine Vorform der Input-Output-Rechnung. Sein Leiter Rolf Wagenführ (1905–1975) war Volkswirt, Statistiker und nicht zuletzt Kenner der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion. 1940 trat er der NSDAP bei.infoKrengel 1986; Jahresbericht 1937; Fremdling 2020; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966 Um das Kompetenz-Wirrwarr bei der Rüstungsplanung zu überwinden, wurde 1940 das „Reichsministerium für Bewaffnung und Munition“ (ab 1943 Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion) geschaffen. Ergänzende „zivile“ Planungen erfolgten im RWiM. Dort spielte der NS-Wirtschaftsfunktionär und SS-Mann Hans Kehrl (1900–1984) eine zentrale Rolle: 1942 engagierte er für seine Planungen die Industrieabteilung des DIW, die bis Kriegsende eine wichtige Rolle für die NS-Rüstungsplanung spielen sollte.infoTooze 2001; Fremdling 2020 Als Kehrl 1943 vom Wirtschafts- ins Speer’sche Rüstungsministerium wechselte, nahm er die von Wagenführ geleitete Industrieabteilung mit, um so die gesamte Planung der Rüstungsproduktion in einem Ministerium zusammenzufassen. Die Mitarbeitenden blieben allerdings Angestellte des DIW und arbeiteten auch dort.

Kehrl und Wagenführ richteten die Arbeit der Industrieabteilung neu aus: Sie versuchten, die Kapazität der Rüstungsproduktion zu bestimmen, um daraus unterschiedliche Herstellungsszenarien abzuleiten. So entstanden umfangreiche Datentabellen, die in einem Raum des DIW aufgehängt wurden. 21 große Tafeln zeigten ebenso viele ökonomische Lenkungsbereiche, die der Kriegsführung dienstbar gemacht werden sollten. Diese Tafeln bildeten das Herzstück einer Informationszentrale zur Lenkung der deutschen Rüstungswirtschaft.infoTooze 2001; Tooze 1993; Fremdling 2020; Stäglin, Fremdling 2016 b; Fremdling, Stäglin 2024; Krengel 1986; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966; Pierenkemper, Fremdling 2018

In einem Rüstungswerk des faschistischen Deutschlands. Herstellung von Panzerfahrzeugen.
© Bundesarchiv via Wikimedia Commons, Bild 183-L04352 / CC-BY-SA 3.0

Die DIW-Planungsstatistik analysierte die industriellen Produktionsprozesse hinsichtlich Fertigungstiefe und Zulieferung. Entwickelt wurde eine am Wirtschaftskreislauf orientierte Verflechtungsanalyse, die eine frühe Form der Input-Output-Rechnung bildete. Zwar orientierte sich die Arbeit angesichts der kriegsbedingten Planwirtschaft nicht an Preisen, sondern an Mengen, aber sie wies dennoch bemerkenswerte Parallelen zu den Forschungen des russisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und späteren Nobelpreisträgers Wassily Leontief (1905–1999) auf, so das Konzept der „Einsatzschlüssel“ bzw. Input-Output-Koeffizienten, die den Übergang zwischen den Fertigungsstufen markierten.infoTooze 2001; Tooze 1993; Fremdling 2020; Stäglin, Fremdling 2016 b; Fremdling, Stäglin 2024; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966

Mit seinen Arbeiten stützte das DIW den Vernichtungskrieg des NS-Regimes. Dabei erlangte das Institut einen so umfassenden Blick auf die deutsche Wirtschaft, wie es ihn seit der Trennung vom StRA nicht mehr hatte. Mit einer kaum zu überbietenden Skrupellosigkeit erkannten Ökonomen wie Wagemann oder Wagenführ die wissenschaftliche Bedeutung dieser Informationsfülle für die Weiterentwicklung der VGR, der ökonomischen Kreislauf- und Verflechtungsanalyse und der Konjunkturforschung: In einem Ende 1942 verfassten Memorandum erläuterte Wagenführ, dass das DIW mit der Arbeit für Hans Kehrl nicht nur die Kontakte zu den Reichsstellen intensivieren konnte, sondern die Arbeit konkurrierender wissenschaftlicher Einrichtungen kennenlernte, einen profunden Blick auf die ökonomischen Verhältnisse in Deutschland gewann und wichtige Erfahrungen mit der Wirtschaftsplanung sammeln konnte. Ob sich Wagenführ darüber Gedanken machte, dass dieser Erkenntnisgewinn mit seinem Engagement für ein verbrecherisches Regime einherging, ist nicht bekannt.infoTooze 2001; Stäglin, Fremdling 2016 b; Tooze 1993

DIW galt als kriegswichtig

Vielfältig mit dem NS-Regime verflochten und von ihm profitierend, gewann das IfK/DIW im „Dritten Reich“ einen erheblichen Einfluss: Nach der Trennung vom Statistischen Reichsamt gelang dem IfK/DIW später mit 15 Wirtschaftsforschungseinrichtungen und weitreichenden Befugnissen ein bemerkenswerter Wiederaufstieg. Entscheidend dafür war die enge Verzahnung des IfK/DIW unter seinem Leiter Wagemann mit dem NS-Regime, das systemrelevante Forschungen und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit benötigte. Das IfK/DIW galt als unentbehrlich und wurde als kriegswichtig eingestuft.infoStäglin, Fremdling 2016 b; Fremdling 2020; Fremdling, Stäglin 2024; Tooze 2001; Tooze 1993 Das IfK/DIW leistete mit seinen ökonomischen Analysen einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der nationalsozialistischen Kriegs- und Vernichtungspolitik. In den Gremien des Institutes saßen Vertreter des Regimes wie der Wirtschaftswissenschaftler und Staatssekretär im RWiM Otto Ohlendorf (1907–1951), der nach dem Krieg als Befehlshaber der Einsatzgruppe D und als Massenmörder hingerichtet wurde.infoFremdling, Stäglin 2024; Stäglin, Fremdling 2016 b; Krengel 198

Kriegsende in Trümmern

Gegen Ende des Krieges zeigten sich Spannungen zwischen dem DIW und dem NS-Regime. So beschäftigte Wagemann externe Mitarbeiter wie Ulrich von Hassell (1881–1944) oder Ferdinand Friedensburg (1886–1972), die im Sinne der NS-Ideologie als politisch belastet galten. Im Sommer 1944 spitzte sich die Situation zu: Nachdem Ulrich von Hassell als Mitverschwörer des 20. Juli hingerichtet worden war, geriet das DIW ins Visier des nervöser werdenden Regimes. Mitarbeiter wie Ferdinand Friedensburg mussten entlassen werden. Wagemann selbst wurde laut der von Rolf Krengel verfassten DIW-Geschichte zwischen 1940 und 1944 mehrfach von der Gestapo verhört und einmal verhaftet. Heinrich Himmler (1900–1945) wollte Wagemann 1943 aufgrund politischer Unzuverlässigkeit absetzen und ihn für ein halbes Jahr als „Buchhalter oder in einer ähnlichen Beschäftigung“ in einem KZ „unterbringen“. Das Wirtschaftsministerium, das auf Wagemann nicht verzichten wollte, setzte sich aber für ihn ein. Und es fanden sich weitere Unterstützer: Im August 1944 ernannte Hermann Göring (1893–1946) Wagemann zum Leiter der „Arbeitsgemeinschaft für empirische Wirtschaftsforschung im Reichsforschungsrat“.infoKrengel 1986, S. 56f.; Stäglin, Fremdling 2016 b; Stäglin, Fremdling 2016 a; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in der Erinnerung 1966; zu dem Zitat s. Fremdling, Stäglin 2024, S. 253

Aufgrund zunehmender Bombenangriffe auf Berlin war Wagemann im Herbst 1943 mit einigen Mitarbeitenden nach Feldberg in Mecklenburg gezogen. Im Sommer 1944 folgten weitere DIW-Beschäftigte. Immerhin 133 Mitarbeitende waren Anfang Oktober 1944 noch in Berlin. Angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen flüchtete Wagemann im Februar 1945 mit einigen Mitarbeitenden nach Clausthal-Zellerfeld, Rolf Wagenführ wurde Stellvertreter und faktischer Institutsleiter.infoStäglin, Fremdling 2016 b; Krengel 1986; Fremdling 2020.

Am Kriegsende zählte die DIW-Belegschaft 180 bis 200 Frauen und Männer, die in Berlin im Bombenhagel weitermachten. Bei der Eroberung Berlins durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 ging das DIW-Gebäude in Flammen auf. Alle Unterlagen, die nicht zuvor nach Feldberg gebracht worden waren, verbrannten: Gutachten, unveröffentlichte Expertisen und Personalunterlagen. Aus dem Panzerschrank ließen sich lediglich angesengte Geldscheine retten, die immerhin das Startkapital für den Neuanfang nach Kriegsende bildeten. Im April und Mai 1945 wurde das NS-Regime von den Alliierten endgültig besiegt und beseitigt. Die meisten der im DIW-Kuratorium vertretenen Einrichtungen lösten sich auf, das Institut hörte de jure und de facto auf zu existieren.infoKrengel 1986; Friedensburg 1950.

HINWEIS

Die Geschichte des IfK/DIW in der Zeit des Nationalsozialismus ist bislang nicht eingehend erforscht. Das DIW Berlin möchte diese Lücke schließen und fördert daher ein Forschungsvorhaben des Historischen Instituts der Universität Stuttgart, das im Frühjahr 2025 beginnen wird. Dabei werden zunächst das Personal, die Organisation und die Vernetzungen des IfK/DIW von der späten Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik untersucht. Insbesondere sind die personellen Verflechtungen mit Organisationen (Verbände, Behörden, Militär) des „Dritten Reichs“ in den Blick zu nehmen und NS-Belastungen zu rekonstruieren. Darauf aufbauend werden die Themen, Inhalte und Methoden der DIW-Forschung von der Weltwirtschaftskrise über den NS-Wirtschaftsaufschwung und den „Totalen Krieg“ bis hin zur Beratung des Marshallplans in der Nachkriegszeit analysiert. Mit dieser Forschungskooperation verbindet das DIW Berlin eine Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit mit einer übergreifenden Erforschung der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren. Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit nach Abschluss vorgestellt. 

Fremdling, Rainer: Nationalsozialistische Kriegswirtschaft und DDR. Planungsstatistik 1933–1949/50, Stuttgart 2020

Fremdling, Rainer, Stäglin, Reiner: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 65, 2024 a, S. 237–272; Zusatzmaterial: Dokumentation über das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Zweiten Weltkrieg

Friedensburg, Ferdinand: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seit 1945, in: Beiträge zur empirischen Konjunkturforschung. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung), Berlin 1950, S. 9–18

Krengel, Rolf: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung), 1925–1979, Berlin 1986

Nützenadel, Alexander: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005

Pierenkemper, Toni, Fremdling, Rainer: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in Deutschland. 75 Jahre RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. 1943–2018, Berlin, Boston 2018

Stäglin, Reiner, Fremdling, Rainer: Wirtschaftsforschung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Materialien zur Geschichte des Instituts für Konjunkturforschung (IfK) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 1925 bis 1945, MPRA. Munich Personal RePEc Archive, 2016 a

Stäglin, Reiner, Fremdling, Rainer: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im 2. Weltkrieg – Wirtschaftsforschung und wirtschaftspolitische Beratung von 1939 bis 1945, unveröffentlichter Text, Berlin 2016 b

Take, Gunnar: Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin, Boston 2019

Tooze, Adam: Thesen zur Geschichte des IfK/DIW1925–1945, DIW Discussion Papers 82, Berlin 1993

Tooze, J. Adam, Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001

Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München; Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914–1949, 2003; Band 5: Bundesrepublik und DDR, 1949–1990, München 2008

100 JAHRE DIW BERLIN IN FÜNF EPOCHEN

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