Neuanfang mit Ferdinand Friedensburg

1945 erlebte das DIW einen Neustart: Das Kuratorium hatte sich aufgelöst, der Präsident war abgetaucht. Die Initiative, das Institut wiederzubeleben, ging von den Mitarbeitenden aus. Wenige Tage nach Kriegsende trugen Rolf Wagenführ und einige der in Berlin verbliebenen Mitarbeitenden dem politisch unbelasteten ehemaligen Institutsmitarbeiter Ferdinand Friedensburg die DIW-Leitung an. Friedensburg nahm an und sorgte auf Anweisung der sowjetischen Militärverwaltung, die bis Juli 1945 ganz Berlin kontrollierte, für die Entnazifizierung: Von den etwa 100 in der Stadt verbliebenen DIW-Mitarbeitenden mussten zwei Drittel das Institut verlassen.

Eine Stadt im Wiederaufbau: Das Foto zeigt den Alexanderplatz 1951 – eine Zeit, als auch das DIW mit Ferdinand Friedensburg an einem Neubeginn arbeitete.
© Bundesarchiv, Bild 183-11500-1944, via Wikimedia Commons

Dieser Neustart sicherte wahrscheinlich die Zukunft der Einrichtung. Trotzdem stellte Friedensburg später wieder NS-belastete Personen ein: so etwa Bruno Kiesewetter (1892–1968), der nach dem Krieg die Osteuropa-Forschung am DIW leitete und Professor an der Freien Universität wurde. Er war schon seit 1932 NSDAP-Mitglied und hatte als Wirtschaftswissenschaftler für verschiedene Institutionen der Partei gearbeitet.infoKrengel 1986; Friedensburg 1950 Nachdem das DIW anfangs verschiedene Unterkünfte nutzte, konnte es im September 1945 einen dauerhaften Sitz in der Cecilienallee 6 (ab 1949 Pacelliallee) in Dahlem beziehen.

Am 14. Juli 1945 hatte sich bereits ein provisorisches Kuratorium konstituiert, im November wurde ein neuer DIW-Verein gegründet, dem die Berliner Magistratsverwaltung, Parteien und Gewerkschaften sowie verschiedene Persönlichkeiten angehörten. Hinzu kamen später westdeutsche Länder, Handelskammern und Unternehmen. Mit der Institutsleitung betraute das Kuratorium einen dreiköpfigen Vorstand mit Friedensburg an der Spitze, die Stadt Berlin übernahm die Finanzierung. Ende 1945 hatte das Institut wieder festen Boden unter den Füßen.infoFriedensburg 1950; Krengel 1986

Übernahme durch Sowjetische Militäradministration droht

Allerdings drohte nun eine Übernahme durch die neuen Machthaber in Ost-Berlin, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und die KPD/SED: Die Sowjetunion zog sich zwar im Sommer 1945 aus den Westsektoren Berlins und damit auch aus Dahlem zurück, aber solange die Teilung der Stadt noch nicht vollständig vollzogen war, versuchten KPD bzw. die 1946 gegründete SED im Kuratorium die Kontrolle über das DIW zu erlangen. SMAD und KPD/SED maßen der Frage große Bedeutung bei und schickten mit Jürgen Kuczynski (1904–1997) ein Schwergewicht marxistisch-leninistischer Wirtschaftswissenschaft ins Rennen, um das Dahlemer Institut zu leiten. Seine Wahl zum Präsidenten scheiterte allerdings im April 1946 am Widerstand Friedensburgs, auch weitere Versuche einer Einflussnahme auf das DIW misslangen. Angesichts der fortschreitenden Teilung Berlins gab die SED dann 1947 ihr Vorhaben auf.infoKrengel 1986

Mit dem Kriegsende hatte sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland grundlegend verändert: Ein Geldüberhang ging einher mit einer Festschreibung von Löhnen, Gehältern und Preisen, sodass der Schwarzmarkt blühte. Das DIW befasste sich mit dieser neuen Realität und präsentierte bereits ab 1945 mit hektografierten »Einzelschriften« wissenschaftliche Ergebnisse zu verschiedenen Bereichen und Aspekten der deutschen Zusammenbruchs- und Mangelwirtschaft. Einen wichtigen Meilenstein bildete 1947 die erste Nachkriegspublikation mit dem Titel »Die deutsche Wirtschaft zwei Jahre nach dem Zusammenbruch. Tatsachen und Probleme«. 1948 rezensierte es der deutsch-amerikanische Finanzfachmann Adolphe J. Warner (1917–2002).infoKrengel 1986; Friedensburg 1950

Umzug in den US-amerikanischen Sektor

Mit dem Umzug nach Dahlem im Sommer 1945 lag das DIW im US-amerikanischen Sektor Berlins, der Westteil der Stadt bildete fortan ein eingeschlossenes Gebiet. Angesichts dieser Umstände rückte nun die Wirtschaft West-Berlins in den Fokus des Interesses. Allerdings sahen Friedensburg und sein Team auch frühzeitig die Gefahr, dass das DIW zu einem Institut für Regionalforschung werden könnte. Man wollte aber unbedingt die breite Ausrichtung aufrechterhalten. Daher war es ein wichtiger Schritt, dass das DIW mit seiner »konkurrenzlosen Sonderstellung« (Ferdinand Friedensburg) – unbeeinflusst von der sowjetischen Militäradministration – auch die Wirtschaft der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in den Blick nahm.infoKrengel 1986; Friedensburg 1950

Am 28. Mai 1956 wurde der Neubau des DIW in Berlin-Dahlem fertiggestellt und eingeweiht. Bei der Feierlichkeit waren der damalige Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses Willy Brandt (vorne 2.v.l.) und Bundespräsident Theodor Heuss (vorne 2.v.r) zugegen.
© DIW Berlin

Dass das DIW 1945 wiederbelebt wurde, lag nicht zuletzt an Ferdinand Friedensburg (1886–1972), der politisch nicht belastet war und so den Neustart ermöglichte. Er wollte die Institutsleitung ursprünglich nur für eine befristete Zeit übernehmen, prägte dann aber die Entwicklung des Hauses bis 1968 für mehr als 22 Jahre und formte es zu einer leistungsfähigen Forschungseinrichtung. Friedensburg stammte aus einer großbürgerlichen, liberal-konservativ geprägten und politisch engagierten Familie in Schlesien. Er war kein Ökonom, sondern studierte Jura und Montanwissenschaft. Nach Referendarprüfung und Promotion in Geologie machte er 1914 sein Bergassessor-Examen. Im Ersten Weltkrieg von den Briten interniert, trat er 1920 der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, begann eine Verwaltungslaufbahn, wurde Landrat in Westpreußen, 1925 Polizeivizepräsident in Berlin (wo er sich mit seiner liberalen Haltung viele Feinde machte) und 1927 Regierungspräsident in Kassel. Als unbeugsamer Anhänger der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung Weimars erlangte er eine gewisse Bekanntheit, sodass die Nationalsozialisten Friedensburg bereits 1933 in den Ruhestand schickten. Zwei Verfahren des NS-Regimes gegen ihn verliefen glimpflich, immerhin fünf Monate war er inhaftiert. Für seinen Lebensunterhalt forschte Friedensburg auf dem Gebiet des Bergbaus. Seit dem 1. Februar 1939 arbeitete er als auswärtiger Mitarbeiter für das IfK (später DIW), bis ihm die Gestapo im Oktober 1944 diese Arbeit verbot.

Ab 1945 leitete Friedensburg das DIW, zudem war er als Hochschullehrer tätig. Da er unbelastet war, ernannte Marschall Schukow ihn am 1. August 1945 zum Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung für Brennstoffindustrie in der sowjetischen Besatzungszone. 1945 bis 1952 engagierte sich Friedensburg zudem stark in der Berliner Politik: Er war Mitbegründer der CDU für Groß-Berlin und die SBZ, wurde 1946 Abgeordneter in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, die ihn 1946 zum 1. Bürgermeister von Groß-Berlin und damit zum Stellvertreter des SPD-Oberbürgermeisters wählte.

Ferdinand Friedensburg (3.v.r.) 1949 im Gespräch mit Ludwig Erhard (Mitte), der damals noch Direktor der Wirtschaftsverwaltung der US-amerikanischen und britischen Bizone war. Später wurde Erhard Bundeswirtschaftsminister.
© DIW Berlin

Während der Berlin-Blockade führte er die Amtsgeschäfte der erkrankten Oberbürgermeisterin. Von 1952 bis 1965 gehörte Friedensburg für Berlin dem Bundestag an, von 1954 bis 1965 war er Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bzw. des daraus hervorgegangenen Europäischen Parlaments. So verfügte der DIW-Präsident in Berlin, Bonn und Europa über vielfältige politische Beziehungen, die der finanziellen und institutionellen Entwicklung seines Institutes zugutekamen. Friedensburg starb 1972.info Friedensburg, Ferdinand, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, www.kulturstiftung.org/biographien/friedensburg-ferdinand-4; Friedensburg 1950.

Autor: Dr. Markus Schreiber, Geschichtsbüro Reder, Roeseling & Prüfer, Köln

HINWEIS

Die Geschichte des IfK/DIW in der Zeit des Nationalsozialismus ist bislang nicht eingehend erforscht. Das DIW Berlin möchte diese Lücke schließen und fördert daher ein Forschungsvorhaben des Historischen Instituts der Universität Stuttgart, das im Frühjahr 2025 beginnen wird. Dabei werden zunächst das Personal, die Organisation und die Vernetzungen des IfK/DIW von der späten Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik untersucht. Insbesondere sind die personellen Verflechtungen mit Organisationen (Verbände, Behörden, Militär) des „Dritten Reichs“ in den Blick zu nehmen und NS-Belastungen zu rekonstruieren. Darauf aufbauend werden die Themen, Inhalte und Methoden der DIW-Forschung von der Weltwirtschaftskrise über den NS-Wirtschaftsaufschwung und den „Totalen Krieg“ bis hin zur Beratung des Marshallplans in der Nachkriegszeit analysiert. Mit dieser Forschungskooperation verbindet das DIW Berlin eine Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit mit einer übergreifenden Erforschung der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren. Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit nach Abschluss vorgestellt. 

Friedensburg, Ferdinand: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seit 1945, in: Beiträge zur empirischen Konjunkturforschung. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung), Berlin 1950, S. 9–18

Krengel, Rolf: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung), 1925–1979, Berlin 1986

100 JAHRE DIW BERLIN IN FÜNF EPOCHEN

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