Von den Brüningschen Notverordnungen bis zum Sondervermögen

In wirtschaftlichen Krisenzeiten stellt sich immer wieder die Frage: Sparen oder investieren? Der Ökonom Alexander Kriwoluzky hat sich intensiv mit den Folgen der Sparpolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning in den Jahren 1930 bis 1932 beschäftigt – und zieht Parallelen zur heutigen Finanzpolitik. Im Interview spricht er über die verheerenden wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der Austeritätspolitik, den Einfluss auf den Aufstieg der NSDAP und warum Investitionen gerade in Krisenzeiten essenziell sind. Zudem ordnet er aktuelle Entwicklungen ein und erklärt, aus welchen Fehlern der Vergangenheit Deutschland hätte lernen können – und müssen.

Im Mai 2022 haben Sie und Ihre Kolleg*innen Berechnungen vorgestellt, die erstmals die Folgen der Brüningschen Notverordnungen aus den Jahren 1930 bis 1932 quantifizieren. Wiese haben Sie sich mit dieser Frage beschäftigt? Warum war das für Sie als Wirtschaftswissenschaftler interessant?

Alexander Kriwoluzky: Wenn man sich fragt, aus welchen Episoden der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands die Gesellschaft und Politik Lehren ziehen können, dann fällt vielen Menschen häufig zuerst die Hyperinflation in der Weimarer Republik ein - und die damit verbundene Angst der Deutschen vor der Inflation.  Das kommt in politischen Debatten immer wieder vor, beispielsweise in der Finanzkrise 2008. Da haben viele Ökonomen – das brauche ich nicht gendern, das waren alles Männer – diese Angst instrumentalisiert. Diese Ökonomen liefen umher und haben gesagt, die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) würden zu einer Hyperinflation führen. Sie haben ganz konkret Ressentiments gegen die Eurozone geschürt. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die AfD ursprünglich von Ökonomen gegründet wurde, um sich gegen die Geldpolitik der EZB einzusetzen. Allerdings sollte es nicht die Hyperinflation sein, von der wir aus der der deutschen Geschichte am meisten lernen, denn die Zeit nach 1933 und deren Folgen für Deutschland waren wesentlicher verheerender - kurz vorher gab es die Brüningsche Austeritätspolitik. Deswegen ist es wichtig, die Folgen dieser Politik zu verstehen, um nicht den gleichen Fehler ein zweites Mal zu begehen. Dabei hängen die Brüningschen Notverordnungen sehr wahrscheinlich mit dem Aufstieg Hitlers zusammen. In der Eurokrise dann haben das alle wieder vergessen – oder den Zusammenhang nie verstanden. Auf einmal zwang man die Länder im Süden Europas, genau solche Sparmaßnahmen zu betreiben. Und dann wunderte man sich, dass dort radikale Parteien gewählt wurden. Deshalb dachten wir: Das, was Brüning in 1930er Jahren gemacht hat, hat viel mehr mit uns heute zu tun, als man denkt, und das wollten wir uns genauer anschauen.

Was waren denn die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihren Berechnungen?

Kriwoluzky: Es hat sich ganz klar gezeigt, dass die Brüningsche Notverordnungen und die Sparpläne, die Wirtschaftsleistung stark gesenkt haben und die Arbeitslosigkeit erhöht haben.

Heinrich Brüning, Reichskanzler vom 30. März 1930 bis zum 30. Mai 1932
© Bundesarchiv via Wikimedia Commons

Die Brüningschen Notverordnungen haben die Menschen enorm belastet. Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Dienst haben immer weniger Gehalt bekommen, es gab eine zusätzliche Einkommenssteuer für sie und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurden erhöht – während die Bezüge für arbeitslose Menschen gekürzt wurden. Wenn Menschen weniger Geld haben, geben sie weniger aus und das schadet der Wirtschaft. Wie kam man (oder Brüning) denn trotzdem darauf, dass es gut sein könnte, wenn Menschen in der Krise noch weniger Geld haben?

Kriwoluzky: Die historische Forschung liefert uns dafür einen Erklärungsansatz. Deutschland hat nach dem Ersten Weltkrieg, wie im Vertrag von Versailles festgelegt, enorme Reparationsforderungen auferlegt bekommen. Brünings Ziel war es, den USA, Großbritannien und Frankreich zu zeigen, dass Deutschland diese Zahlungen nicht leisten könne und dass diese gesenkt werden müssten. Er hat diese Austeritätspolitik umgesetzt in dem Wissen, dass sie zu einer wirtschaftlichen Verschlechterung führen wird. Er hat den anderen Ländern gegenüber so argumentiert: Ihr seht doch, wir tun unser allerbestes hier, um diese Reparationszahlungen zu zahlen, aber das führt dazu, dass es Deutschland sehr schlecht geht, und wir können auf gar keinen Fall noch mehr zahlen. Die Ironie der Geschichte ist, dass die Reparationszahlungen Deutschland ja Tatsache erlassen wurden – allerdings im Juni 1932, als Brüning nicht mehr im Amt war. Nutznießer waren die Nazis, die 1933 an die Macht kamen und dann Geld zum Ausgeben hatten.

Sie bezeichnen die Brüningsche Austeritätspolitik im Wochenbericht 24/2022 als „fatalen Brandbeschleuniger“ und stellen einen direkten Zusammenhang zum Erfolg der NDSAP her. Wie hing diese Entwicklungen Ihrer Einschätzung nach zusammen?

Kriwoluzky: Um diesen Zusammenhang muss ich auf eine Studie verweisen, die nicht wir gemacht haben. Die Kolleg*innen haben darin gezeigt, dass in den Wahlkreisen, in denen die Austeritätspolitik stärker gewirkt hat, die Leute tatsächlich eher die Nazis gewählt haben. Die Sparmaßnahmen haben zu einer geringeren Wirtschaftsleistung und zu mehr Arbeitslosigkeit geführt. Das war ein großer Grund, warum die Menschen die Nazis gewählt haben. Wir können nicht genau quantifizieren, wie viel Menschen weniger die Nazis gewählt hätten, wenn es die Brüningsche Austeritätspolitik nicht gegeben hätte, aber wir wissen, dass es diesen Zusammenhang gibt.

© DIW Berlin

Sehen Sie auch heute die Gefahr, dass die wirtschaftliche Krise den rechten Kräften in Deutschland noch mehr Rückenwind verleiht?

Kriwoluzky:  Genau wie in der Weimarer Republik haben wir heute nicht nur den rechten Rand, wir haben auch den linken Rand. Wir haben gerade zwei sehr starke Krisen hinter uns: Die Corona-Pandemie und die Energie-Preis-Krise. Wir haben seit drei Jahren eine Rezession und wir sehen wenig Licht am Ende des Tunnels. Wie damals, erleben auch heute viele Menschen, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Viele Menschen machen sich Sorgen und fragen sich etwa, inwieweit unsere Sozialversicherungssysteme in Deutschland tragfähig sind, ob ihre Rente zum Leben reicht. Auf solche Fragen fehlen Antworten. Und das spielt sicher eine Rolle für die Erfolge der AfD, des Bündnisses Sahra Wagenknecht und der Linken. In einem Wochenbericht zeigen wir, dass es einen Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen  Einkommen der Haushalte in einem Wahlkreis und dem Anteil der Stimmen für die AfD geht.  Wenn wir jetzt zurückkommen auf die Frage nach den Folgen einer Austeritätspolitik, müssen wir uns auch die Regierungen unter Merkel anschauen, in denen ja nicht nur andere Länder zur Austeritätspolitik gedrängt worden sind, sondern auch für Deutschland die Schwarze Null ganz wichtig war. Das hat dazu geführt, dass wir zwar viel konsumiert haben, aber nicht mehr investiert haben. All diese Jahre hätte investiert werden müssen, in Straßen, Schienen, Brücken. Und weil das so lange nicht getan worden ist, muss jetzt das Sondervermögen her.

In Deutschland ist im letzten Jahr eine Regierung an der Frage gescheitert, ob wir neue Schulden aufnehmen dürfen oder nicht. Auch die neue Bundesregierung musste etwas tricksen, um die Mehrheit zu finden, die Schuldenbremse zu lockern und in der aktuellen Krisen Investitionen zu ermöglichen. Warum ist es in Deutschland so schwer, Mehrheiten für Investitionen in Krisenzeiten zu bekommen? Haben wir eine Tradition des Sparens in der Krise in unserem Land – ganz im Sinne Brünings? Ist die schwarze Null Teil unserer deutschen DNA?

Kriwoluzky: Wenn wir uns die Schuldenstände in anderen Ländern anschauen und diese mit den Schulden Deutschlands vergleichen, wird deutlich, dass wir wesentlich weniger verschuldet sind. Das gilt beispielsweise für die USA, für Japan, für Frankreich. Das hat natürlich auch Vorteile: Wir sind jetzt in der Krise in der Lage, solch große Schuldenpakete aufzunehmen, weil wir bisher nicht so viele Schulden gemacht haben. Wenn Sie mich fragen, ob die Politik der letzten zehn Jahre verantwortungslos war, dann sage ich Ihnen: Ja. Wenn Sie mich fragen, ob Christian Lindner und Olaf Scholz verantwortungslos waren, eine Koalition über diese Frage zerbrechen zu lassen und Neuwahlen zu haben, die dann praktisch mit einem Stimmenanteil von fast 30% für populistische Parteien Weimarer Verhältnisse geschaffen hat? Ich sage Ihnen: Ja. Da kann man Geschichtsbücher aufschlagen und feststellen: Es wurden in den Jahren vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler  sehr ähnliche Fehler gemacht.

Die schwarze Null – hier so wie sie die KI zeichnet - hat in Deutschland hat Tradition.
© Adobe/edojob

Jahrzehntelang wurde in Deutschland zu wenig investiert, die DIW-Studie zu Investitionen zeigte den Bedarf schon 2013. Jetzt soll ganz viel auf einmal investiert werden. Wäre es nicht besser gewesen, das früher und laufend zu machen?

Kriwoluzky: Es wurde viel unterlassen, gerade was Investitionen in Brücken, Straßen, Schulen, Internet und Digitalisierung angeht. Das kann man auch nicht von heute auf morgen aufholen. Die Unternehmen, die diese Arbeit machen, sind begrenzt und es wäre besser gewesen, das über zehn Jahre zu machen als jetzt auf einmal. Das Sondervermögen und die kurzfristigen Ausgaben für das Militär werden natürlich dazu führen, dass eine sehr hohe Nachfrage auf ein relativ fixes Angebot trifft, was inflationär wirken wird. Trotzdem ist es richtig, das jetzt zu machen. Es werden sukzessive neue Kapazitäten entstehen. Das ist die große Stärke der Marktwirtschaft, dass sie auf solche Entwicklungen reagieren kann.

Wenn wir in die USA schauen, sehen wir nicht nur Beamte, die weniger Gehalt bekommen, sie werden gleich reihenweise gefeuert. Ist das, was gerade in den USA passiert, eine Austeritätspolitik 2.0?

Kriwoluzky: Das lässt sich nur schwer vergleichen. Natürlich senken die USA ihre Staatsausgaben gerade drastisch, aber bei Brüning lässt sich das eher nachvollziehen. Man kann bei den Beamten am einfachsten kürzen und deshalb hat Brüning das gemacht, mit dem Ziel, die Reparationszahlungen erlassen zu bekommen. Die Beamten haben darunter gelitten, das erklärt unter anderem auch, warum es für die Nazis so einfach war, die öffentliche Infrastruktur und Verwaltung so schnell gleichzuschalten. Die Menschen in den öffentlichen Ämtern waren offensichtlich willig, mit den Nazis zusammenzuarbeiten. Sie waren von den vorherigen Regierungen stark enttäuscht. Immerhin wurde ihnen mehrmals drastisch das Gehalt gekürzt.

Ganz grundsätzlich gefragt: Warum ist es denn so wichtig, gerade in Zeiten von Krisen und Rezession, neue Schulden aufzunehmen und zu investieren? Was bringt das?

Kriwoluzky: Dazu gibt es unterschiedliche Theorien, die bekannteste ist sicherlich die, die nach der Großen Depression 1929 und Anfang der 30er-Jahre von John Maynard Keynes entwickelt wurde. Keynes meinte, dass in der Krise, wenn Menschen arbeitslos werden, der private Konsum zurückgeht. In dieser Rezession sollte der Staat antizyklisch mehr konsumieren und so dafür sorgen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter stabil bleibt, Firmen weiter produzieren und wieder Menschen einstellen. Das ist aber nicht das, was bei uns gerade passiert. Es ist viel mehr so, dass in den letzten Jahren bei uns so wenig investiert worden ist, dass wir auf eine zerfallene Infrastruktur schauen. Es gibt kaum einen Monat, in dem nicht irgendwo in Deutschland eine Brücke kaputt geht und ein weiterer Verkehrsweg geschlossen wird. Und jetzt ist klar: Wir können unser Wirtschaftsleben nicht mehr aufrechterhalten, wenn wir nicht investieren. Wir müssen uns dringend für die Zukunft wappnen, in Digitalisierung und Infrastruktur investieren. Der Bedarf ist so groß, dass das aus dem laufenden Haushalt nicht geht – und deshalb braucht es jetzt das Sondervermögen.

Mit einem Sondervermögen sollen Investitionen ermöglicht werden.
© Adobe/Janet Worg

Brüning hat also genau das Gegenteil dessen gemacht, was Keynes empfohlen hätte?

Kriwoluzky: Fairerweise muss man sagen, dass es die Keynesianische Theorie 1930 noch nicht gab. Aber es gab jemanden, der es besser wusste. Institutsgründer Ernst Wagemann hat seinen Wagemann-Plan vorgelegt. Darin hat er genau das Gegenteil von dem vorgeschlagen, was Brüning gemacht hat. Wagemann hat gesagt: Wir müssen jetzt investieren, wir müssen Schulden aufnehmen, wir können mit dieser Austeritätspolitik nicht weitermachen. Man hat nicht auf ihn gehört. Wir wissen nicht, ob der Wagemann-Plan die Machtergreifung Hitlers verhindert hätte, aber er hat einen sinnvollen politischen Vorschlag unterbreitet. Eine der Datengrundlagen unserer Berechnungen zu den Folgen der Brüningschen Notverordnungen kam im Übrigen auch von Ernst Wagemann.  Er hat in seinem konjunkturstatistischen Handbuch, das 1935 erschienen ist, monatliche Zeitreihen für Produktion, nach unterschiedlichen Sektoren und ähnliches zusammengetragen. Das konnten wir für unsere Berechnungen nutzen.

Und gibt es auch Situationen, in denen Investitionen keinen Sinn machen? Welche wären das? Wann ist die schwarze Null erstrebenswert?

Kriwoluzky: Eine schwarze Null im Staatshaushalt ist überhaupt nicht verwerflich, solange diese schwarze Null nicht zulasten der Investitionen geht. Das war aber das Problem der Merkel-Regierung: Die konsumtiven Ausgaben beizubehalten, also für die Renten, Sozialausgaben und für verschiedene Geschenke an Wählerinnen und Wähler und gleichzeitig die Investitionsausgaben des Staates runterzufahren. In normalen Zeiten eine schwarze Null zu haben, ist in Ordnung, solange weiter investiert wird – in Brücken, Straßen, Schulen und digitale Infrastruktur.

Das Interview führte Lena Högemann.

Der Interviewpartner

100 JAHRE DIW BERLIN IN FÜNF EPOCHEN

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