Wirtschaft, Demografie und strukturelle Missstände: Die Faktoren hinter dem Erfolg der AfD bei der Europawahl 2024

DIW Wochenbericht 30 / 2024, S. 479-488

Christian Franz, Adelina Garamow, Alexander S. Kritikos, Alexander Kriwoluzky, Marcel Fratzscher

get_appDownload (PDF  1.1 MB)

get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF  3.45 MB - barrierefrei / universal access)

  • Studie untersucht auf Kreisebene, welche ökonomischen, strukturellen und demografischen Faktoren mit Stimmanteilen von AfD und BSW bei der Europawahl 2024 zusammenhängen
  • Populistische Parteien sind im Osten vor allem in überalterten Kreisen stark
  • Im Westen schneiden sie zusätzlich in Regionen mit vielen Beschäftigen in der Industrie besser ab, deren Jobs von zunehmender Automatisierung bedroht sind
  • Auch in westdeutschen Kreisen mit schwacher Wirtschaftslage oder mit hohem Anteil an Menschen ohne deutschen Pass ist die Zustimmung hoch
  • Politik muss Probleme in strukturschwachen und demografisch älteren Kreisen systematischer als bisher angehen

„Seit der Europawahl 2019 hat sich die wirtschaftliche, strukturelle und demografische Situation in vielen Kreisen nicht verbessert. Die Politik muss das ändern, beispielsweise durch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, vor allem in Ostdeutschland.“ Alexander Kriwoluzky

Die Europawahl 2024 hat in Deutschland zu einer Zweiteilung der politischen Landkarte geführt. Während in den westlichen Bundesländern überwiegend die Union zur stärksten Partei gekürt wird, dominiert im Osten die AfD. Dieser Wochenbericht untersucht, welche regionalen Faktoren im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen der AfD und des neu gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) stehen. Dazu analysiert der Bericht Daten auf Kreisebene und teilt diese in vier Dimensionen auf: Wirtschaftslage, strukturelle Faktoren wie Anteil der Handwerksunternehmen und Beschäftigte im Verarbeitenden Gewerbe, Demografie und Zuwanderung. Die Analyse zeigt, dass die beiden populistischen Parteien im Osten vor allem in überalterten Regionen stark sind. Im Westen schneiden sie zusätzlich in Industrieregionen mit vielen Beschäftigen, deren Jobs durch Automatisierung und Digitalisierung bedroht sind, in Regionen mit einem hohen Ausländer*innenanteil, sowie – und das gilt für die AfD mehr noch als für das BSW – in Regionen mit schwacher Wirtschaftslage besser ab. Für die Politik folgt daraus, dass sie die Probleme in strukturschwachen und demografisch älteren Kreisen systematischer als bisher angehen muss.

Bei der Europawahl 2024 sind erstmalig auch in Deutschland populistische Parteien als die größten Gewinner aus einer Wahl hervorgegangen. Die in Teilen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Alternative für Deutschland (AfD) kann sich im Vergleich zur vergangenen Europawahl um knapp fünf Prozentpunkte verbessern, das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erzielt aus dem Stand sechs Prozent. Hingegen haben die im Bund regierenden Ampelparteien elf Prozentpunkte verloren, während die Union ihr Ergebnis von vor fünf Jahren halten kann.

Gleichzeitig hat die Europawahl 2024 in Deutschland eine farblich eindeutige Landkarte zutage gebracht (Abbildung 1): Während in den westlichen Bundesländern mit wenigen Ausnahmen die Union mit durchschnittlich 32,4 Prozent stärkste Kraft wird, dominiert in den ostdeutschen Ländern die AfD. Sie legt dort sogar um acht Prozentpunkte zu, wird in nahezu allen Kreisen zur stärksten Partei und erreicht im Schnitt einen Stimmanteil von 30,1 Prozent.

Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Wochenbericht, in welchem Zusammenhang die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den Kreisen und kreisfreien Städten (im Folgenden kurz Kreise) mit dem Wahlausgang in Zusammenhang stehen. Konkret werden dafür vier Dimensionen in den Blick genommen.

Zum ersten wird die ökonomische Situation in den Kreisen untersucht. Es ist zu erwarten, dass Wählende in wirtschaftlich schwachen Regionen eher populistische Parteien unterstützen.infoDijkstra Lewis, Hugo Poelman und Andrés Rodríguez-Pose (2020): The geography of EU discontent. Regional Studies, 54(6), 737–753; Lawrence McKay (2019): "Left behind” people, or places? The role of local economies in perceived community representation. Electoral Studies 60, 102046. Die Wirtschaftslage wird durch die Höhe der verfügbaren Einkommen und die Jugendarbeitslosenquote gemessen.

Als zweite Dimension dient die Wirtschaftsstruktur einer Region. Diese wird durch die Anzahl der Handwerksunternehmen pro Tausend Einwohner*innen und den Anteil der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe an allen Erwerbstätigen erfasst. Beide weisen in unterschiedlicher Form auf strukturelle Herausforderungen hin. Regionen mit einem hohen Anteil an Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe sind der Globalisierung und somit dem Importwettbewerb stärker ausgesetzt.infoLawrence J. Broz, Jeffry Frieden und Stephen Weymouth (2021): Populism in place: the economic geography of the globalization backlash. International Organization 75(2), 464–494; David H. Autor, David Dorn und Gordon H. Hanson (2016): The China shock: Learning from labor-market adjustment to large changes in trade. Annual Review of Economics, 8(1), 205–240. Besonders diese Arbeitnehmer*innen dürften sich aufgrund zunehmender Automatisierung und Digitalisierung um ihren Job sorgen. Ein hoher Anteil an Handwerksunternehmen weist auf wirtschaftliche Kleinteiligkeit und damit auf eine schwächere wirtschaftliche Entwicklung und auf geringere Beschäftigungsmöglichkeiten hin.infoDaniel Oesch und Line Rennwald (2018): Electoral competition in Europe's new tripolar political space: Class voting for the left, centre-right and radical right. European Journal of Political Research 57(4), 783–807.

Drittens werden soziodemografische Faktoren der Kreise berücksichtigt, welche die Lebensverhältnisse einer Region erfasseninfoKai Arzheimer und Theresa Bernemann (2024): “Place” does matter for populist radical right sentiment, but how? Evidence from Germany, European Political Science Review 16(2), 167–186. und Informationen über soziale Werte, Interessen und Ressourcen enthalten.infoArzheimer und Bernemann (2024), a.a.O. Ein niedriger Bildungsgrad in einer Region ist ein wesentliches Merkmal für schwache Zukunftsperspektiven.infoOesch und Rennwald (2018), a.a.O. Eine ältere Bevölkerung spiegelt dies ebenfalls wider und impliziert das Abwandern junger Menschen.infoSteffen Mau und Lütten Klein (2019): Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp Verlag.

Eine vierte Dimension greift die aktuellen Debatten in Deutschland um Zuwanderung auf. Laut einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) sehen 29 Prozent der Deutschen Migration als die wichtigste aktuelle Herausforderung an.infoIvan Krastev und Mark Leonard (2024): A new political map: Getting the European Parliment election right. European Council on Foreign Relations, Policy Brief (online verfügbar, abgerufen am 17. Juli 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen, sofern nicht anders vermerkt). Dementsprechend betrachtet die Analyse den Anteil der Menschen ohne deutschen Pass an der Gesamtbevölkerung und die Zuwanderung von Schutzbedürftigen.

Im Weiteren werden die Ausprägungen der vier Dimensionen in den einzelnen Regionen unter Berücksichtigung von Ost-West-Unterschieden vorgestellt, um die regional ungleichen Lebensverhältnisse in Deutschland zu beschreiben. Anschließend untersucht der Wochenbericht, wie diese Faktoren in den einzelnen Kreisen mit den Wahlerfolgen der AfD und des BSW zusammenhängen. Dabei steht der Einfluss der zuvor angesprochenen Strukturmerkmale eines Kreises auf die Wahlergebnisse dieses Kreises im Fokus, nicht jedoch die Wahlentscheidungen einzelner Personen. Grundlage der Untersuchung sind neben den Wahlergebnissen in den 400 Kreisen und kreisfreien Städten entsprechende Strukturdaten auf Kreisebene. Diese Daten liegen für nahezu alle Kreise vor, sodass die Analyse auf Basis von 382 Kreisen durchgeführt werden konnte (Kasten 1, Kasten 2).

Die vorliegende Analyse verknüpft die Wahlergebnisse zu Europawahlen in Deutschland (vorläufige Ergebnisse im Fall von 2024, endgültige Ergebnisse für 2019) mit Strukturdaten auf Kreisebene. Die Hauptanalyse umfasst insgesamt acht Variablen (Tabelle 1).

Tabelle 1: Verwendete Variablen

Dimension Variable Beschreibung Quelle
Wirtschaft Verfügbare Einkommen Durchschnittliche verfügbare Einkommen der privaten Haushalte im Jahr 2016 beziehungsweise 2021 (in Euro pro Kopf) Regionaldatenbank Deutschland
Jugendarbeitslosigkeit Arbeitslosenquote der 15- bis unter 25-Jährigen 2017 beziehungsweise im Jahr 2022 (Jahresdurchschnitt in Prozent) Regionaldatenbank Deutschland
Strukturelle Faktoren Dichte Handwerksunternehmen Anzahl der zulassungsfreien und zulassungspflichtigen Handwerksunternehmen je 1000 Einwohner*innen im Jahr 2016 beziehungsweise 2021 Regionaldatenbank Deutschland
Anteil Beschäftigte im Verarbeitenden Gewerbe Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe im Jahr 2018 beziehungsweise 2023 (in Prozent) Bundeswahlleiterin
Demografie Abiturquote Anteil der Abgänger*innen allgemeinbildender Schulen mit allgemeiner und Fachhochschulreife im Jahr 2017 beziehungsweise 2022 (in Prozent) Bundeswahlleiterin
Bevölkerung 60 Jahre und älter Bevölkerung im Alter von 60 Jahren und älter am 31.12.2017 beziehungsweise 2022 (in Prozent der Gesamtbevölkerung) Bundeswahlleiterin
Zuwanderung Anteil Ausländer*innen Anteil der Bevölkerung ohne deutsche Staatsbürgerschaft an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2017 beziehungsweise 2022 (in Prozent) Bundeswahlleiterin
Veränderung Anteil der Schutzsuchenden Anstieg des Anteils der Schutzsuchende an der Gesamtbevölkerung von 2016 bis 2019 beziehungsweise 2019 bis 2022 (in Prozent) Regionaldatenbank Deutschland

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Die 382 Kreise verteilen sich auf 312 Kreise in Westdeutschland und 70 in Ostdeutschland. Berlin wurde für die Hauptanalyse ausgeschlossen, da diese eine Ost/West-Variable beinhaltet und Berlin dabei nicht eindeutig zugeordnet werden kann. 17 weitere Kreise und kreisfreie Städte wurden ausgeschlossen, weil entweder Daten fehlten oder sie seit 2019 mit anderen Kreisen zusammengelegt wurden.infoDie folgenden Kreise und kreisfreien Städte entfallen aufgrund von fehlenden Daten für Abiturquoten und Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe: Kiel, Wolfsburg, Wittmund, Bremen, Bremerhaven, Kaiserslautern, Neustadt (an der Weinstraße), Rosenheim, Hof, Bamberg, Schweinfurt, Cottbus, Frankfurt (Oder), Suhl, Weimar. Des Weiteren wurden der Wartburgkreis und Flensburg ausgeschlossen, da sie nach 2019 zusammengelegt wurden.

Es werden die Stimmanteile der Parteien bei der Europawahl untersucht. Die Berechnung erfolgt auf Grundlage der absoluten Stimmen im jeweiligen Kreis:

Stimmanteil der jew. Partei = (gültige Stimmen für jew.Partei)/(Anzahl aller gültigen Stimmen)

Für die verwendeten Variablen wurden die jeweils zuletzt verfügbaren Beobachtungen verwendet. Bei der Veränderung von Schutzsuchenden wurde die prozentuale Veränderung der letzten vier Jahre berechnet; das heißt, für 2024 wurde die Veränderung von 2019 bis 2022, und für 2019 von 2016 bis 2019 berechnet (Tabelle 2).

Tabelle 2: Statistiken zu den Variablen

Dimension Variable N Durchschnitt Standardabweichung Minimum Maximum Einheit
Wirtschaft Verfügbare Einkommen 382 24243,3 2334,2 17924,0 37515,0 Euro pro Kopf/Jahr
Jugendarbeitslosigkeit 382 4,3 2,1 1,4 11,7 Prozent aller Erwerbspersonen im Alter 15 bis 24 Jahre (Jahresdurchschnitt)
Strukturelle Faktoren Dichte Handwerksunternehmen 382 7,3 1,7 3,7 13,2 Handwerksunternehmen je 1 000 Einwohner*innen
Anteil Beschäftigte im Verarbeitenden Gewerbe 382 31,6 10,2 6,9 61,7 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an allen Erwerbspersonen
Demografie Abiturquote 382 31,1 8,5 9,5 59,3 Prozent aller Absolvent*innen
Bevölkerung 60 Jahre und älter 382 30,7 3,8 21,3 40,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung
Zuwanderung Anteil Ausländer*innen 382 12,8 5,6 3,5 39,0 Prozent an der Gesamtbevölkerung
Veränderung Anteil der Schutzsuchenden 382 1,3 0,6 –5,5 4,2 Differenz in Prozentpunkten

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Die acht Strukturvariablen werden auf den Anteil der Parteistimmen regressiert. Die Analyse wird für die Europawahlen 2019 und 2024 einzeln durchgeführt. Die Hauptregression beinhaltet zusätzlich zu den acht Strukturvariablen eine binäre Variable, die zwischen Ost- und Westdeutschland unterscheidet. Zusätzlich wird die Regression für die ostdeutschen und westdeutschen Kreise separat wiederholt.

Multivariate Regression

Für die Hauptanalyse wird das folgende lineare Regressionsmodell definiert:

Parteiip = β0 + β1Einkommeni + β2Jugendarbeitslosenquotei + β3DichteHandwerksunternehmeni + β4Beschäftigte im produz. Gewerbei + β5Abiturquotei + β6Bevölkerung60plus + β7Ausländeranteili + β8Schutzsuchendei + β9DummyOW + ϵi

Dabei ist die abhängige Variable der Stimmanteil der jeweiligen Partei p im Wahlkreis i bei der Europawahl (2019, 2024) in Prozent.infoUm den Grad der Multikollinearität zu berechnen, wurde der Varianzinflationsfaktor (VIF) berechnet. Sie sind für alle Variablen kleiner als vier, was auf eine moderate Multikollinearität zwischen den Variablen hindeutet. Die erklärenden Variablen sind die oben beschriebenen acht Strukturvariablen, die zusätzlich standardisiert werden. Die Standardisierung wird unten erläutert. Zusätzlich wird eine Dummy-Variable berücksichtigt, die ost- und westdeutsche Wahlkreise unterscheidet (Ost = 1). Der Fehlerterm ϵ erfasst dabei Messfehler sowie nicht berücksichtigte Einflüsse von Drittvariablen.

Standardisierung der Variablen

Um einen Vergleich der Regressionskoeffizienten zu ermöglichen, wurden die Variablen gemäß folgendem Schema standardisiert:

xi^=xi-x¯σx.

Der transformierte Wert von xi^ entspricht dem Ursprungswert xi abzüglich des arithmetischen Mittels der Variable über alle Kreise hinweg, dividiert durch die Standardabweichung der Variable im Datensatz (σx). Die abhängige Variable in den Regressionen (Stimmanteil der jeweiligen Partei in Prozent), die prozentuale Veränderung der Schutzsuchenden sowie die Dummy-Variable zur Unterscheidung von Ost und West wurden nicht transformiert. Der Wert und die Interpretation der geschätzten Koeffizienten verändern sich durch die Transformation (siehe Lesebeispiel unterhalb der Regressionstabellen). Die Konfidenzintervalle ändern sich durch die Transformation nicht.

Deskriptive Statistiken zum Datensatz

Die deskriptive Statistik zeigt die Variablen für die Hauptanalyse. Die Durchschnittswerte sind ungewichtet, die Unterschiede in der Bevölkerungszahl wurden nicht berücksichtigt – jeder Wahlkreis zählt als gleichwertige Beobachtung. Dieses Vorgehen erklärt die Abweichungen von der amtlichen Statistik.

Lebensverhältnisse in den Kreisen unterscheiden sich erheblich

Das durchschnittlich verfügbare Haushaltseinkommen in den Kreisen unterscheidet sich erheblich (Abbildung 2). Der Bundesdurchschnitt liegt im Jahr 2021 bei etwa 24200 Euro pro Kopf. In Gelsenkirchen Stadt sind die Einkommen am niedrigsten (17924 Euro), in Starnberg hingegen mehr als doppelt so hoch (37500 Euro). Insgesamt befinden sich aber die Einkünfte in den ostdeutschen Regionen eher in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung.

Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen im Alter von 15 bis unter 25 weist einen Wert von im Durchschnitt 4,3 Prozent aus. Sie ist sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland in den vergangenen Jahren gefallen, dennoch bleiben Unterschiede bestehen. Vier der fünf Kreise, in denen die Jugendarbeitslosigkeit bei über zehn Prozent ist, sind ostdeutsch (Uckermark, Mansfeld-Südharz, Dessau-Roßlau und Vorpommern-Rügen). Dagegen liegt in bayerischen und baden-württembergischen Kreisen die durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit bei 2,6 Prozent.

Auch die Bevölkerungsstruktur der Kreise in Deutschland unterscheidet sich markant. Obgleich die Bevölkerung in ganz Deutschland älter wird, sind vor allem ostdeutsche Kreise besonders stark betroffen (Abbildung 2). Im Durchschnitt waren im Jahr 2022 knapp 36 Prozent der Menschen in den ostdeutschen Kreisen 60 Jahre oder älter. In westdeutschen Kreisen ist der Durchschnitt rund fünf Prozentpunkte niedriger. Ein zentraler Grund für diese Unterschiede ist die Nettoabwanderung aus Ostdeutschland von über 1,2 Millionen Menschen seit 1990, die nachhaltige Spuren in der Altersstruktur hinterließ: Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung in den ostdeutschen Regionen ist mithin erheblich höher als in den westdeutschen.infoStatistisches Bundesamt, Destatis (2024): Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1990 und 2022: Angleichung oder Verfestigung der Unterschiede? (online verfügbar).

Eine weitere Strukturvariable greift die in Deutschland geführte Debatte rund um Globalisierung und Digitalisierung auf, die vor allem Beschäftigte im Produzierenden Gewerbe trifft. Im Durchschnitt arbeiten etwa 31 Prozent der Beschäftigten in Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes. Besonders im Süden der Bundesrepublik (Tuttlingen oder Dingolfing-Landau), rund um Autostandorte in Niedersachsen (Salzgitter) und Industriezentren in Nordrhein-Westfalen (Olpe)infoNils Wischmeyer (2023): Ople Valley: Droht das Weltmarktführer-Idyll zu bröckeln. WirtschaftsWoche, 6. März 2023 (online verfügbar). haben mehr als die Hälfte der Menschen in diesem Wirtschaftszweig einen Job. In großen Städten (unter anderem Frankfurt am Main, Bonn, Potsdam, Düsseldorf) arbeiten anteilsmäßig wesentlich weniger Menschen im Verarbeitenden Gewerbe.

Zuletzt sei ein Blick auf die Migrationssituation in den Kreisen geworfen. Im Durchschnitt liegt der Anteil der ausländischen Bevölkerung in den Kreisen bei 13 Prozent (Abbildung 2). Insgesamt ist damit der durchschnittliche Anteil der ausländischen Bevölkerung über Kreise hinweg seit 2017 in Deutschland um 2,9 Prozentpunkte angestiegen. In Offenbach am Main besitzen 39 Prozent der Bevölkerung keinen deutschen Pass, in Frankfurt am Main, Pforzheim, Ludwigshafen und Heilbronn um die 30 Prozent. Dagegen sind die Zahlen in den meisten ostdeutschen Regionen wesentlich geringer. In sächsischen Kreisen hatten im Jahr 2022 beispielsweise weniger als sieben Prozent der Einwohner*innen keine deutsche Staatsbürgerschaft.

Regionale Strukturmerkmale hängen mit Erfolg der AfD zusammen

Die Analyse der Strukturdaten und der Wahlergebnisse zeigt: Die AfD schneidet schlechter ab in Kreisen, in denen das durchschnittliche Einkommen und das Bildungsniveau höher sind (Tabelle). Hingegen steigt die Zustimmung zur AfD in den Kreisen, je älter die Bevölkerung, je höher die Jugendarbeitslosigkeit, je höher der Anteil der Handwerksunternehmen und der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe sowie der Anteil der ausländischen Bevölkerung ist.infoÄhnliche Ergebnisse liefern Arzheimer und Bernemann (2024), a.a.O.; Broz, Frieden und Weymouth (2021) a.a.O.; Autor, Dorn und Hanson (2016) a.a.O., sowie Maria Greve, Michael Fritsch und Michael Wyrwich (2023): Long-term decline of regions and the rise of populism: The case of Germany. Journal of Regional Science 63 (2), 409–445. Die AfD ist in Kreisen stark, in denen die ökonomische, strukturelle und demografische Entwicklung schlechter sowie die Zuwanderung höher ist.

Tabelle: Einfluss der Faktoren in den Kreisen auf Stimmanteile der AfD und des BSW

Effekt in Prozentpunkten

AfD BSW
Unabhängige Variable: Stimmanteil Europawahl 2024 Unabhängige Variable: Stimmanteil Europawahl 2019 Unabhängige Variable: Stimmanteil Europawahl 2024
Deutschland Westen Osten Deutschland Westen Osten Deutschland Westen Osten
Verfügbare Einkommen −0,826*** −0,666*** –0,703 –0,419** –0,143 0,988 –0,262*** –0,327*** 0,507
Jugendarbeitslosigkeit 0,861*** 1,049*** –0,921* 0,13 0,623*** –0,615 0,145 0,081 –0,099
Dichte der Handwerksunternehmen 0,632*** 0,133 0,484 0,543*** 0,151 0,886 −0,12 –0,044 –0,527
Anteil der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe 1,559*** 1,505*** 0,787 0,781*** 0,719*** 0,728 0,066 0,094** –0,422
Abiturquote −0,727*** −0,711*** –2,279*** –0,444*** –0,477*** −1,295** –0,053 0,071 –0,676*
Anteil der Menschen im Alter von 60 Jahren und älter 2,219*** 1,613*** 2,805*** 1,682*** 0,888*** 2,875*** 0,750*** 0,592*** 1,274***
Anteil der ausländischen Bevölkerung 1,161*** 0,810*** –1,653 1,525*** 1,023*** 0,222 0,555*** 0,511*** 0,447
Veränderung des Anteils der Schutzsuchenden 0,267 0,224 0,338 0,522* 0,571** 2,816 –0,123 –0,185** 0,319
Ost-West-Dummy 12,382*** 11,285*** 9,325***
Konstante 14,571*** 14,461*** 25,112*** 9,386*** 9,256*** 19,639*** 4,744*** 4,801*** 13,852***
Anzahl Kreise 382 312 70 382 312 70 382 312 70
R2 0,887 0,533 0,846 0,85 0,37 0,622 0,951 0,441 0,378
Adjusted R2 0,884 0,52 0,826 0,847 0,353 0,573 0,95 0,426 0,296
F−Statistik 324,384*** 43,177*** 41,891*** 234,575*** 22,223*** 12,551*** 802,006*** 29,873*** 4,627***

Anmerkungen: Sternchen bezeichnen das Signifikanzniveau, das die statistische Genauigkeit der Schätzung angibt. Je mehr Sternchen, umso geringer die Irrtumswahrscheinlichkeit: ***, ** und * geben die Signifikanz auf dem Ein-, Fünf-, und Zehn-Prozent-Niveau an.

Lesebeispiel: Der Koeffizient von −0,826 bedeutet, dass ein Anstieg der verfügbaren Einkommen um eine Standardabweichung über den Durchschnitt aller Kreise ceteris paribus mit einer Abnahme des Wahlergebnisses der AfD um −0,826 Prozentpunkte einhergeht.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Allerdings macht die Ost-West-Dummy-Variable deutlich, dass es systematische Unterschiede zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern gibt, die jedoch nicht näher erklärt werden können.

Eine nach West- und Ostdeutschland getrennte Analyse zeigt: In Westdeutschland bestehen die gleichen Zusammenhänge wie in Gesamtdeutschland. Im Gegensatz dazu sind in Ostdeutschland lediglich zwei Variablen hoch signifikant: Bildung und Demografie. Die AfD schneidet in den ostdeutschen Kreisen besser ab, in denen das Bildungsniveau niedriger und die Bevölkerung älter ist.infoHier sei nochmals darauf verwiesen, dass der Bericht Strukturmerkmale eines Kreises in einen Zusammenhang mit den Wahlergebnissen setzt, welche nicht die Wahlentscheidungen einzelner Personen erfassen. Dementsprechend ist nicht ausgeschlossen, dass auch in ostdeutschen Kreisen mit einem geringen Anteil von Ausländer*innen das Thema Migration die Wahlentscheidung einzelner Wählender beeinflusst hat.

Der Vergleich der Europawahlergebnisse von 2019 und 2024 zeigt, dass sich die erklärenden Variablen auf einem hohen signifikanten Niveau kaum verändert haben. Interessanterweise ist auch das Bild für die Kreise in Ostdeutschland gleich geblieben. Bei den westdeutschen Kreisen ist das persönliche Einkommen als erklärende Variable hinzugekommen. Mit anderen Worten: Die AfD ist inzwischen auch in westdeutschen Regionen stark, die sich durch ein niedriges Einkommen auszeichnen. Außerdem erfährt die AfD nur in westdeutschen Regionen mit einem hohen Anteil der Menschen ohne deutschen Pass eine hohe Zustimmung (Abbildung 2). Die Zunahme an Schutzbedürftigen hat auf regionaler Ebene hingegen keinen signifikanten Einfluss.

AfD und BSW sind nahezu zwei Seiten der gleichen Medaille

So gegensätzlich sich die AfD und das BSW geben, so einig sind sich beide Parteien, wenn es um zwei zentrale politische Themen der letzten Jahre geht: die Haltung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und die ablehnende Haltung gegenüber Migration. Dementsprechend ähneln sich die Ergebnisse der Regressionen. Beim BSW wie bei der AfD gilt, dass ein höheres Einkommen negativ mit dem Wahlerfolg zusammenhängt. Ebenso sind beide Parteien in Kreisen stark, die eine ältere Bevölkerung und einen höheren Anteil an Menschen ohne deutschen Pass haben. Somit hängen auch die Wahlergebnisse des BSW nicht mit einzelnen Faktoren zusammen. Einen hohen Effekt hat erneut die Konstante, die für die ostdeutschen Kreise positiv ist. Das heißt, dass das BSW grundsätzlich in Ostdeutschland stärker ist. Aber es gibt auch Unterschiede: Die AfD ist in Regionen mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, mit niedrigeren Abiturquoten und mit einer hohen Dichte an Handwerksunternehmen stärker, für das BSW gilt das eher nicht. Das weist darauf hin, dass die AfD in Regionen mit besonders vielen negativen Strukturmerkmalen erfolgreicher ist als das BSW.

Eine Analyse der Kreise getrennt nach ost- und westdeutschen Bundesländern zeigt, dass im Westen der Republik ein höheres Einkommen negativ mit dem Wahlausgang für das BSW in Verbindung steht. Zudem sind eine ältere Bevölkerung sowie ein höherer Anteil an Menschen ohne deutschen Pass mit einem besseren Wahlergebnis für das BSW assoziiert. Hinzu kommt, dass der Anteil der sozialpflichtig Versicherten im Verarbeitenden Gewerbe für Westdeutschland eine erklärende Variable wird: Je höher der Anteil, umso eher hat das BSW Erfolg. Damit bedarfen dessen Gewinne auch in Westdeutschland einer mehrdimensionalen Erklärung selbst wenn nicht alle Variablen, die bei der AfD signifikant sind, auf einen signifikanten Zusammenhang mit dem BSW hinweisen.

Bemerkenswerterweise korrelieren in Ostdeutschland dieselben Variablen auf einem hohen Signifikanzniveau mit dem Erfolg des BSW wie für die AfD: die beiden demografischen Variablen. Ein höherer Bildungsgrad ist mit einem niedrigeren Wahlergebnis des BSW verbunden, eine ältere Bevölkerung mit einem höheren Stimmenanteil.

Schätzmodell erfasst einen hohen Anteil des Wahlerfolgs von AfD und BSW

Die acht Strukturvariablen beschreiben zusammen mit der Dummy-Variable 89 Prozent der Variation der AfD-Stimmanteile bei der Europawahl 2024 (Tabelle), beim BSW sind es 95 Prozent. Ähnlich zur Europawahl 2019 unterschätzt das Modell auch im Jahr 2024 die tatsächlichen Ergebnisse für die AfD im Osten vor allem in Sachsen, etwa in Bautzen, der Sächsischen Schweiz, Meißen, Nordsachsen oder Görlitz (Abbildung 3, linker Teil).infoChristian Franz, Marcel Fratzscher und Alexander S. Kritikos (2019): Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland. DIW Wochenbericht Nr. 34, 591–602 (online verfügbar). Im Westen stechen auch einige Städte hervor, in denen das Modell die Ergebnisse unterschätzt: am stärksten in Pforzheim, aber auch in Pirmasens, Worms, Kaiserslautern, Fulda und Heilbronn. In eher städtisch geprägten Regionen überschätzt das Modell die tatsächlichen Stimmen etwas, im Osten etwa in Dessau, Brandenburg an der Havel, Schwerin, Rostock, Weimar und Jena, im Westen zum Beispiel in Offenbach.

Beim BSW (Abbildung 3, rechter Teil) unterschätzt das Modell die Stimmanteile in manchen östlichen Städten und Kreisen in Thüringen, etwa in Suhl, wo das Bündnis mit 20 Prozent das höchste Ergebnis erzielte, in manchen östlichen Kreisen Mecklenburg-Vorpommerns sowie in manchen westlichen städtischen Gebieten, erneut in Kaiserlautern, aber auch in Emden, Saarlouis und Neunkirchen. Überschätzungen der Ergebnisse des BSW gibt es nur in den östlichen Bundesländern, so in Dresden, Leipzig, Meißen, Görlitz oder Bautzen. In diesen Städten wurden die Ergebnisse der AfD unterschätzt. Unter der Annahme, dass die Variablen und das Modell die ökonomischen, strukturellen, demografischen und migrationsbezogenen Lebenslagen eines Kreises richtig erfassen, bedeuten diese Über- und Unterschätzungen, dass die Wahlentscheidungen in diesen Kreisen von anderen Faktoren bestimmt werden.infoEelco Harteveld et al. (2022): Multiple roots of the populist radical right: Support for the Dutch PVV in cities and the countryside. European Journal of Political Research 61 (2), 440–461; Rahsaan Maxwell (2020): Geographic divides and cosmopolitanism: Evidence from Switzerland. Comparative Political Studies 53 (13), 2061–2090.

Fazit: Alter, Bildung und Einkommen in den Kreisen sind Schlüsselfaktoren für populistische Wahlerfolge

Bei der Europawahl können zwei populistische Parteien, die AfD und der BSW, starke Gewinne einfahren, während die Parteien der Bundesregierung, vor allem die Grünen, starke Verluste verkraften müssen. Dieser Wochenbericht hat unterschiedliche Erklärungsansätze für den Wahlausgang empirisch untersucht.

Die Ergebnisse zeigen, dass für die Erfolge der AfD ebenso wie für das BSW vor allem in Westdeutschland mehrere Faktoren herangezogen werden müssen. Eine negative ökonomische und strukturelle Lage in den Kreisen und kreisfreien Städten spielt für die AfD mehr noch als für das BSW eine Rolle, ebenso wie eine ältere Bevölkerung und ein höherer Anteil an Menschen ohne deutschen Pass. Allerdings bestehen Unterschiede zwischen den west- und ostdeutschen Kreisen. Während für den Erfolg der AfD in Westdeutschland weiterhin mehrere Faktoren in Frage kommen, so ist die AfD in Ostdeutschland vor allem in Kreisen mit einer problematischen demografischen Entwicklung stark.

Das BSW teilt nicht nur einige wichtige politische Standpunkte mit der AfD, auch sein Wahlerfolg hängt mit ähnlichen Faktoren zusammen: Je geringer das Einkommen, je älter die Bevölkerung und je höher der Anteil der Ausländer*innen, umso stärker ist das BSW in einem Kreis. Allerdings ist das BSW nicht überall dort erfolgreich, wo die AfD gute Ergebnisse erzielt: Regionen mit besonders negativen Strukturmerkmalen tendieren eher zur AfD als zum BSW.

Die Ergebnisse des Wochenberichtes führen zu verlorenen Illusionen der demokratischen Mitte. Der Erfolg der populistischen Parteien wird in dieser Europawahl bestätigt: Im Vergleich zu den Europawahlen im Jahr 2019 ist die AfD in Regionen mit sehr ähnlichen Strukturausprägungen noch stärker geworden. Aus Protestwählenden werden sukzessiv systematische AfD-Wählende. Der sehr ähnlich gelagerte Erfolg der anderen populistischen Partei, also des BSW, unterstreicht dies nur. Zum zweiten verstärkt der Wochenbericht die Erkenntnis, dass es keine singuläre Erklärung für den Erfolg der populistischen Parteien gibt. Jenseits der Anzahl der Ausländer*innen sind es vor allem unterschiedliche negative Ausprägungen der ökonomischen, strukturellen und demografischen Faktoren, die für diesen Wahlausgang auf Kreisebene eine Rolle spielen.

Eine Politik, die Lösungsansätze nur in einer Dimension etwa in Richtung der Verringerung der Zuwanderung von Geflüchteten ausbaut, greift daher zu kurz. Stattdessen sind – sicherlich erst mittelfristig wirkende – Zukunftsinvestitionen notwendig, welche die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit strukturschwächerer Regionen helfen zu verbessern. Je nach Region und Problemlagen wird es um ganz unterschiedliche Maßnahmen gehen. In manchen Regionen werden eine Ausweitung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen für von Arbeitsplatzverlusten bedrohte Arbeiter*innen oder mehr Ausbildungsplätze für junge Arbeitslose gefragt sein. In anderen strukturschwächeren und demografisch schnell alternden Regionen wird der Wiederaufbau der öffentlichen Grundversorgung notwendig werden, die in der Vergangenheit wohl infolge der Abwanderung jüngerer Menschen eher abgebaut wurde.infoVgl. Felix Arnold et al. (2015): Große regionale Disparitäten bei den kommunalen Investitionen. DIW Wochenbericht 43, 1031–1040. Um solche Regionen für jüngere Menschen wieder attraktiv zu machen, wird es öffentlicher Investitionen zur Verbesserung der lokalen und regionalen Infrastruktur bedürfen.

Themen: Migration, Europa



JEL-Classification: D72;Z13
Keywords: political parties, elections, Germany, economy, demography, migration, structural data, European elections, Federal elections
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-30-1

keyboard_arrow_up