DIW Wochenbericht 34 / 2019, S. 591-602
Christian Franz, Marcel Fratzscher, Alexander S. Kritikos
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„Die Europawahl hat eine Verschiebung in der deutschen Parteienlandschaft offenbart: Abkehr von der Großen Koalition, hin vor allem zu den Grünen bei gleichzeitiger Konsolidierung der AfD. Die hier durchgeführten Analysen machen deutlich, dass diese beiden Parteien in Regionen mit entgegengesetzten wirtschaftlichen, strukturellen und demografischen Merkmalen erfolgreich sind.“ Alexander S. Kritikos
Die Europawahl 2019 hat in Deutschland markante regionale Unterschiede im Wahlverhalten aufgezeigt. Im Vergleich zur Bundestagswahl verzeichnen vor allem die Grünen starke Stimmengewinne in westdeutschen Kreisen, während die AfD ihren Erfolg in den ostdeutschen Kreisen konsolidieren kann. Dieser Wochenbericht untersucht auf Kreisebene, welche strukturellen Faktoren das Abschneiden der beiden Parteien bei der Europawahl erklären. Der Zuspruch für die Grünen ist in wirtschaftlich starken, demografisch jungen und dynamischen sowie wirtschaftsstrukturell soliden Kreisen hoch. Dagegen schneidet die AfD in Kreisen gut ab, die wirtschaftlich schwächer und verwundbarer sind und unter Abwanderung leiden. Die Stärke sowohl von Grünen als auch AfD ist dabei weniger durch aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen, sondern mehr durch strukturelle und demografische Faktoren geprägt. Grüne und AfD stellen somit nicht nur auf der politischen Bühne Gegenpole dar, ihre Ergebnisse bei der Europawahl spiegeln auch die gesellschaftliche Spaltung Deutschlands auf regionaler Ebene wider.
Seit 2005 regiert in Deutschland – abgesehen von einer vierjährigen Unterbrechung – eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Diese nehmen viele Wählerinnen und Wähler vermutlich als sehr konsensorientiert wahr. Nichtsdestotrotz sind neue Konfliktlinien, von Zuwanderung bis Klimafragen, entstanden, die die politische Agenda seit längerem dominieren. Gleichzeitig rücken die zunehmend unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Deutschland in den Vordergrund der öffentlichen Debatte. Der kürzlich veröffentlichte Bericht einer von der Bundesregierung gemäß Koalitionsvertrag eingesetzten Kommission hat diese Unterschiede erneut bestätigt.Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (2019): Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige Lebensverhältnisse überall – Schlussfolgerungen von Bundesminister Horst Seehofer als Vorsitzendem sowie Bundesministerin Julia Klöckner und Bundesministerin Dr. Franziska Giffey als Co-Vorsitzende zur Arbeit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ (online verfügbar, abgerufen am 23. Juli 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit es den beiden Gewinnern der letzten Wahlen gelungen ist, die unterschiedlichen Wählerschaften anzusprechen, die sich hinter dieser zunehmenden Kluft in den Lebensverhältnissen verbergen.
Bei der Europawahl vom 26. Mai 2019 konnten zwei Parteien, nämlich Bündnis 90/Die Grünen und die Alternative für Deutschland (AfD), die sich auf Bundesebene derzeit in der Opposition befinden und bei vielen Themen wie der Globalisierungs-, Migrations- und Klimapolitik gegensätzliche Positionen vertreten, die Wahlkampfthemen bestimmen. Die Grünen wurden zweitstärkste Kraft in Deutschland und haben im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 ihren Stimmanteil mit 20,5 Prozent mehr als verdoppelt (Abbildung 1).Vgl. dazu auch Martin Kroh und Jürgen Schupp (2011): Bündnis90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?. DIW Wochenbericht Nr. 12 (online verfügbar). Bereits dort haben die Autoren auf das Potential der Grünen, eine Volkspartei zu werden, hingewiesen. Vor allem ihr Ergebnis im Westen der Republik sticht mit 22,2 Prozent hervor, während sie im Osten (ohne Berlin) mit 10,3 Prozent nur fünftstärkste Partei wurden. Die AfD verlor ihrerseits zwar im Vergleich zur Bundestagswahl mit einem Ergebnis von elf Prozent der Stimmen etwa 1,6 Prozentpunkte, zieht aber vor allem im Osten mit einem Stimmanteil von 22 Prozent (spiegelverkehrt zu den Grünen) nahezu mit der CDU gleich, während sie im Westen mit 8,8 Prozent nur auf Rang vier rangiert.
Die Wählerschaft der Grünen besteht, das haben frühere Untersuchungen am DIW Berlin gezeigt,Vgl. Karl Brenke und Alexander S. Kritikos (2017): Wählerstruktur im Wandel. DIW Wochenbericht Nr. 29 (online verfügbar). traditionell zum großen Teil aus Menschen in Großstädten, gut ausgebildeten, jüngeren Personen (vor allem solchen mit einem Hochschulabschluss); der Anteil von Angestellten und Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist zudem hoch. Dagegen gelang es den Grünen bisher kaum, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten anzusprechen. Genau diese beiden Gruppen machen einen überproportional hohen Anteil der AfD-Wählerschaft aus. Diese ist außerdem eher in kleineren Gemeinden anzutreffen, gleichzeitig dominieren Personen mit einem mittleren Abschluss. Auch Selbständige finden sich verglichen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt überproportional häufig unter der AfD-Wählerschaft, Angestellte und Hochschulabsolventinnen und -absolventen dagegen seltener.Zum Profil der AfD-Wählerschaft siehe auch Martin Kroh und Karolina Fetz (2016): Das Profil der AfD-AnhängerInnen hat sich seit Gründung der Partei deutlich verändert. DIW Wochenbericht Nr. 34 (online verfügbar).
Dieser Wochenbericht geht der Frage nach, inwieweit sich die aus den unterschiedlichen Lebensverhältnissen resultierenden gesellschaftlichen Gegensätze in diesen beiden Parteien widerspiegelnDer Einfluss von gesellschaftlichen Änderungen auf sich wandelnde Parteipräferenzen wurde bereits von Rainer Schnell und Ulrich Kohler (1995): Empirische Untersuchung einer Individualisierungsthese am Beispiel der Parteipräferenz von 1953−1992. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 634–657 für Deutschland diskutiert; vgl. auch Walter Müller (1998): Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahlverhalten. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 3–46. und analysiert dafür drei Dimensionen. Erstens die ökonomische Situation beziehungsweise Stärke bestimmter Regionen, gemessen an der unterschiedlichen Partizipation der Menschen an den Einkommenszuwächsen der letzten Jahre, an der Höhe der verfügbaren Einkommen und an den lokalen Arbeitslosenquoten.Zum Einfluss ökonomischer Variablen auf das Wahlverhalten siehe bereits Anthony Downs (1957): An Economic Theory of Democracy. Harper & Row. New York. Die zweite Dimension ist die strukturelle Verwundbarkeit der Wirtschaft: Die Automatisierung vieler Prozesse (zum Beispiel durch die voranschreitende Digitalisierung) schafft Gewinner, für die sich neue berufliche Chancen ergeben. Gleichzeitig gibt es auch viele potentielle Verlierer, etwa Arbeiterinnen und Arbeiter, die fürchten, ihren Job zu verlieren (oder ihn schon verloren haben).Die Beobachtungen des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien in Europa, der Wahlsieg Donald Trumps in den USA sowie der Erfolg der Brexit-Kampagne warfen erneut die Frage auf, ob diese Entwicklungen mit einer neuen politisch-normativen Spaltung (engl. „Cleavage“) zusammenhängen. Für eine Diskussion der „Cleavage theory“ siehe: Liesbet Hooghe und Gary Marks (2018): Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage. Journal of European Public Policy, 25(1), 109–135. Für Deutschland identifiziert Michael Zürn entlang der Frage nach Gewinnern und Verlierern der Globalisierung die Grünen als die idealtypischen Vertreter des Kosmopolitismus und die AfD als Vertreter des Kommunitarismus. Zum Konzept vgl. Michael Zürn und Pieter de Wilde (2016): Debating globalization: cosmopolitanism and communitarianism as political ideologies. Journal of Political Ideologies, 21:3, 280–301. Drittens werden demografische Entwicklungen analysiert: Manche Regionen in Deutschland sind von starker, auch innerdeutscher Zuwanderung geprägt, andere sehen sich mit Abwanderung konfrontiert. Das wird langfristig massive Auswirkungen für deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven haben, die bereits jetzt die Wahlergebnisse beeinflussen dürften.Neben diesen drei Dimensionen gibt es zweifelsohne weitere Einflüsse auf das Wählerverhalten, etwa sozial-psychologische, historische und politisch-kulturelle Einflüsse. Siehe dazu etwa vor dem Hintergrund bestehender Ost-West-Unterschiede Felix Arnold, Ronny Freier und Martin Kroh (2015): Geteilte politische Kultur auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung?. DIW Wochenbericht Nr. 37 (online verfügbar).
Entsprechend wird diskutiert, in welchem Zusammenhang diese ökonomischen, strukturellen und demografischen Ausprägungen der einzelnen Kreise und kreisfreien Städte (im Folgenden kurz Kreise) mit den Wahlerfolgen der Grünen und der AfD stehen. Mit der Analyse werden nicht Wahlentscheidungen einzelner Menschen untersucht, sondern der Einfluss von Strukturmerkmalen eines Kreises auf die Wahlergebnisse im gesamten Kreis. Grundlage der Untersuchung sind neben den Wahlergebnissen in den 401 Kreisen entsprechende Strukturdaten auf Kreisebene. Diese Daten liegen für nahezu alle Kreise vor, sodass die Analysen auf Basis von 398 Kreisen durchgeführt werden konnten (Kasten). Vorab wird anhand mehrerer markanter Beispiele veranschaulicht, welche Unterschiede in den Lebensverhältnissen zwischen den Kreisen in Deutschland bestehen.
Die vorliegende Analyse verknüpft die endgültigen Wahlergebnisse aus den Wahlen 2019 (Europaparlament) und 2017 (Bundestag) mit Strukturdaten auf Ebene der 401 Kreise und kreisfreien Städten (im Folgenden „Kreise“). Die verwendeten Strukturdaten der Kreise umfassen insgesamt acht Variablen (Tabelle 1).
Die 401 Kreise verteilen sich auf 324 Kreise in Westdeutschland und 76 in Ostdeutschland – Berlin wurde in den späteren Analysen ausgeschlossen. In jedem Kreis lebten zum 31. Dezember 2017 durchschnittlich etwa 207 000 Menschen (Minimum: 34 300, Maximum: 3,6 Millionen), von denen durchschnittlich etwa 154 000 wahlberechtigt waren (Minimum: 26 396, Maximum: 2,5 Millionen).
Es werden die Stimmanteile der Parteien bei der Europawahl untersucht; für die Bundestagswahl 2017 werden die Zweitstimmen analysiert – im weiteren Text auch „Stimmanteile“ genannt. Die Berechnung erfolgt auf Grundlage der absoluten Stimmen im jeweiligen Kreis:
Die für die Analyse verwendeten „Strukturvariablen“ sind für fast alle Kreise für die gegebenen Zeitpunkte beziehungsweise Zeiträume verfügbar. Da die Werte für die Abiturquote für Bamberg und Schweinfurt nicht vorhanden sind, wurden diese Kreise bei der Analyse ausgeschlossen. Für die verwendeten Strukturvariablen wurden die jeweils zuletzt verfügbaren Beobachtungen verwendet. Bei den Variablen, die Veränderungen darstellen – also „durchschnittlicher Wanderungssaldo“ und „Durchschnittliche Veränderung der verfügbaren Haushaltseinkommen“ –, wurden jeweils plausible Zeithorizonte ausgewählt.
In der Analyse werden die acht Strukturvariablen in drei Kategorien eingeteilt:
Ökonomische Situation: (a) verfügbare Einkommen der Haushalte im Jahr 2016, (b) durchschnittliche jährliche Veränderung der verfügbaren Einkommen der Haushalte seit 2005 und (c) Arbeitslosigkeit im Januar 2019.
Strukturelle Verwundbarkeit: (a) Dichte von Handwerksunternehmen im Jahr 2016 und (b) Substituierbarkeitspotential bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.Das Substituierbarkeitspotential gibt an, inwiefern Berufe beziehungsweise berufliche Tätigkeiten gegenwärtig durch den Einsatz von Computern oder computergesteuerten Maschinen ersetzt werden könnten, vgl. Katharina Dengler (2019): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen und Veränderbarkeit von Berufsbildern. IAB-Stellungnahme 2/2019 (online verfügbar).
Demografische Entwicklung: (a) Bevölkerungsanteil der Menschen im Alter von 60 Jahren oder älter im Jahr 2017, (b) Durchschnittlicher Wanderungssaldo in den Jahren 2000 bis 2017 und (c) Abiturquote im Jahr 2017.
Die verwendeten Strukturvariablen werden mittels einer Hauptkomponentenanalyse zu drei Faktoren aggregiert. Diese Methode extrahiert die statistische Varianz, die den einzelnen Variablen gemein ist, und produziert Komponenten, die gemeinsam die gesamte Varianz abbilden. In der Analyse wird davon ausgegangen, dass die erste Hauptkomponente den maßgeblichen Teil der Varianz einfängt und damit eine geeignete Repräsentierung der zugrundeliegenden Variablen darstellt.
Um eine einheitliche Interpretation der Variablen zu ermöglichen, wurden die stetigen Variablen gemäß folgendem Schema standardisiert: Der transformierte Wert von x̂i entspricht dem Ursprungswert xi abzüglich des arithmetischen Mittels der Variable über alle Kreise hinweg, dividiert durch die Standardabweichung der Variable im Datensatz (σx). Die abhängige Variable in den Regressionen (Stimmanteil der jeweiligen Partei in Prozent) sowie die Dummyvariable zur Unterscheidung von Ost und West wurden nicht transformiert. Der Wert und die Interpretation der geschätzten Koeffizienten verändern sich durch die Transformation. Die Konfidenzintervalle ändern sich durch die Transformation nicht.
Nach der oben beschriebenen Ermittlung der ersten Hauptkomponenten werden diese Komponenten in einer multivariaten Regressionsanalyse verwendet (OLS), um mithilfe von diesen drei Variablen sowie einer Ost-West-Dummyvariable Einflüsse auf die Wahlergebnisse in den Kreisen abzuschätzen. Die Modelle folgen der Funktion:
Dabei ist die zu erklärende Variable der Stimmanteil der jeweiligen Partei p im Kreis i bei der Europawahl 2019 in Prozent. Die erklärenden Variablen sind (1) ökonomische Situation [hoher Wert = ökonomisch attraktiver, niedriger Wert = ökonomisch weniger attraktiv], (2) strukturelle Verwundbarkeit [hoher Wert = ökonomisch verwundbarer, niedriger Wert = ökonomisch weniger verwundbar], (3) demografische Entwicklung [hoher Wert = demografisch attraktiver, niedriger Wert = demografisch weniger attraktiv] und (4) eine Dummyvariable, die ost- und westdeutsche Kreise unterscheidet (Ost = 1). Der Fehlerterm ϵ erfasst dabei Messfehler sowie nicht berücksichtigte Einflüsse von Drittvariablen.
Für die hier verwendeten Variablen wurden deskriptive Statistiken verwendet (Tabelle 2). Dabei wurden ungewichtete Durchschnitte verwendet, sprich Unterschiede in der Bevölkerungszahl nicht berücksichtigt – jeder Kreis zählt als gleichwertige Beobachtung. Dieses Vorgehen erklärt die Abweichungen von den amtlichen Statistiken.
Tabelle 1
Name | Beschreibung | Quelle |
---|---|---|
Ökonomische Situation | ||
Arbeitslosigkeit | Arbeitslosenquote Januar 2019 – insgesamt | Bundeswahlleiter, Rohdaten Bundesagentur für Arbeit |
Verfügbare Einkommen | Verfügbares Einkommen der privaten Haushalte 2016 (Euro je EinwohnerIn) | Bundeswahlleiter, Rohdaten Regionaldatenbank Deutschland |
Entwicklung der verfügbaren Einkommen | Durchschnittliche, jährliche Veränderungsrate der verfügbaren Einkommen 2005 bis 2016 | Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“ (online verfügbar) |
Strukturelle Verwundbarkeit | ||
Dichte der Handwerksunternehmen | Anzahl der zulassungsfreien und zulassungspflichtigen Handwerksunternehmen je 1 000 EinwohnerInnen im Jahr 2016 | Regionaldatenbank Deutschland für die Anzahl der Unternehmen und Bevölkerung 2016 |
Substituierbarkeitspotential | Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotential im Jahr 2016 (Prozent) | Dengler, Matthes und Wydra-Somaggio (2018) (online verfügbar) |
Demografische Entwicklung | ||
Abiturquote | AbsolventInnen/AbgängerInnen allgemeinbildender Schulen 2017 – mit allgemeiner und Fachhochschulreife (Prozent) | Bundeswahlleiter, Rohdaten Regionaldatenbank Deutschland |
Durchschnittliches Wanderungssaldo | Zu- (+) bzw. Abnahme (-) der (je 1 000 EinwohnerInnen), Werte von 2000 bis 2017 gemittelt | INKAR, Regionaldatenbank Deutschland für 2016 (online verfügbar) |
Anteil der Menschen im Alter von 60+ | Bevölkerung im Alter von 60 Jahren und älter am 31.12.2017 (Prozent der Gesamtbevölkerung) | Bundeswahlleiter, Rohdaten Regionaldatenbank Deutschland |
Tabelle 2
Variable | Durchschnitt | Standardabweichung | Minimum | Maximum | Einheit |
---|---|---|---|---|---|
Verfügbare Einkommen | 21 717,5 | 2 494,1 | 16 203,0 | 34 987,0 | Euro / Jahr |
Veränderung verfügbare Einkommen | 2,0 | 0,5 | −0,1 | 3,3 | Prozent gegenüber dem Vorjahr |
Arbeitslosigkeit | 5,1 | 2,2 | 1,5 | 12,8 | Prozent |
Bevölkerung 60 Jahre und älter | 28,9 | 3,5 | 20,5 | 26,8 | Prozent an der Gesamtbevölkerung |
Wanderungssaldo | 2,7 | 3,9 | −10,3 | 13,5 | Zunahme (+)/Abnahme (–) / 1 000 EinwohnerInnen |
Abiturquote | 32,7 | 8,6 | 11,1 | 57,9 | Prozent aller Absolventen |
Dichte Handwerksunternehmen | 7,2 | 1,8 | 3,0 | 12,8 | Handwerksunternehmen / 1 000 EinwohnerInnen |
Substituierungsrisiko | 27,4 | 6,0 | 14,0 | 52,0 | Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten |
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Das im Jahr 2016 verfügbare durchschnittliche Haushaltseinkommen in einem Kreis schwankt bei einem bundesweiten Durchschnitt von rund 21 700 Euro zwischen etwas über 16 200 Euro in Gelsenkirchen und knapp 35 000 Euro in Starnberg (Abbildung 2).Das verfügbare Haushaltseinkommen, das die Kaufkraft der Bevölkerung in einem Kreis widerspiegelt, dürfte für die Analyse von Wahlentscheidungen aus ökonomischer Sicht wichtiger sein als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, das eher Auskunft über den wirtschaftlichen Output in einem Kreis gibt. Zu Disparitäten im Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem siehe auch BMI (2019), a. a. O. Selbst wenn die Arbeitslosenquote im gesamten Bundesgebiet sehr niedrig ist (5,1 Prozent im Januar 2019), fallen auch hier erhebliche Unterschiede auf: Während die Kreise Eichstätt und Donau-Ries (Bayern) Arbeitslosenquoten von unter zwei Prozent aufweisen, sind in Bremerhaven und Gelsenkirchen rund 13 Prozent der Erwerbspersonen arbeitslos gemeldet.
Auch in der demografischen Entwicklung gibt es massive Unterschiede: Es gibt Kreise, in denen nur jede fünfte Person 60 Jahre oder älter ist (etwa in Frankfurt am Main oder Heidelberg-Stadt). In anderen Kreisen sind es fast doppelt so viele (etwa Suhl, Dessau-Roßlau, Altenburger Land, allesamt in Ostdeutschland, Abbildung 3). Mit diesem Befund eng verbunden sind die Wanderungsbewegungen, die aber erst im Laufe der Zeit hervortreten. Die Salden der Gesamtwanderung (also die Differenz aus Zuzügen und Fortzügen je 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner) in den Jahren 2000 bis 2017 ergeben ein zur Altersstruktur passendes Bild (Abbildung 4). In der kreisfreien Stadt Suhl sind zum Beispiel durchschnittlich zehn Menschen je 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr fort- als hinzugezogen. Bei der in Deutschland niedrigen Fertilitätsrate führt dies zu einem dramatischen Bevölkerungsschwund. In Suhl lebten Ende 2017 knapp 13 000 weniger Menschen als Ende des Jahres 2000.
Ähnliche Unterschiede zeigen sich beim Vergleich der Unternehmensstruktur. Zieht man zum Beispiel die Dichte der Handwerksunternehmen in den einzelnen Kreisen als Maßstab für wirtschaftliche Kleinteiligkeit heran, gibt es in manchen Kreisen weniger als drei Handwerksunternehmen je 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner (Wolfsburg), in anderen sind es knapp 13 (Bad Tölz).Zwischen der Dichte der Handwerksunternehmen und der Wirtschaftsleistung im Kreis – gemessen am Bruttoinlandsprodukt je EinwohnerIn – lässt sich ein negativer Zusammenhang feststellen. In Kreisen mit hoher Dichte an Handwerkunternehmen ist die Wirtschaftsleistung also tendenziell niedriger.
Eine weitere Strukturvariable greift die in Deutschland geführte Debatte rund um Globalisierung und Digitalisierung auf (Stichwort „Industrie 4.0“). Vor allem im produzierenden Gewerbe beschäftigte Arbeiterinnen und Arbeiter fürchten aufgrund zunehmender Automatisierung um ihre Jobs. Diese Gefahr betrifft nicht alle Kreise im gleichen Maße. Es gibt Kreise, in denen gerade einmal acht Prozent aller abhängig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe tätig sind (zum Beispiel Potsdam oder Bonn), in anderen Kreisen sind es bis zu 63 Prozent (beispielsweise Tuttlingen). Um die Gefahr weiterer Automatisierungswellen abzubilden, wird ein vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) entwickelter Indikator verwendet. Das sogenannte „Substituierbarkeitspotential“ erfasst, inwieweit Berufe beziehungsweise berufliche Tätigkeiten durch den Einsatz von Computern oder computergesteuerten Maschinen ersetzt werden könnten (Abbildung 5).Vgl. Katharina Dengler, Britta Matthes und Gabriele Wydra-Somaggio (2018): Digitalisierung in den Bundesländern: Regionale Branchen- und Berufsstrukturen prägen die Substituierbarkeitspotenziale. IAB-Kurzbericht 22/2018 (online verfügbar); sowie Katharina Dengler und Britta Matthes (2018): The impacts of digital transformation on the labour market. Substitution potentials of occupations in Germany. In: Technological Forecasting and Social Change, Vol. 137, December, 304-316. Beide Indikatoren – Beschäftigte im produzierenden Gewerbe und Substituierungspotential – sind hochgradig korreliert.
Insgesamt erlauben diese Daten auf Kreisebene eine Beschreibung der unterschiedlichen Umstände der dort lebenden Menschen. Ein West-Ost-Gefälle zeichnet sich nach wie vor ab, insbesondere wenn es um die Demografie geht. Aber auch zwischen den ostdeutschen Kreisen gibt es markante Unterschiede, sodass beim Osten nicht unisono von einer Problemregion gesprochen werden darf. Die Streuung des verfügbaren Haushaltseinkommens oder der Arbeitslosenquoten macht zudem deutlich, dass Westdeutschland im Hinblick auf die gesellschaftliche Kluft zwischen seinen Kreisen einer größeren Schwankungsbreite ausgesetzt ist als Ostdeutschland.
Die oben beschriebenen Strukturdaten wurden in drei thematischen Indizes zusammengefasst (Kasten), die für 398 Kreise die „ökonomische Situation“, die „strukturelle Verwundbarkeit“ und die „demografische Entwicklung“ umreißen. Es wurde dann untersucht, inwieweit diese Variablen mit den Stimmanteilen der Parteien bei der Europawahl 2019 korrelieren (Tabelle). Der Fokus liegt dabei auf den Grünen sowie der AfD.
Regressionstabelle
Unabhängige Variable: Stimmanteil Europawahl | |||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
Erklärende Variablen | Union | SPD | Grüne | AfD | Linke | FDP | |
Ökonomische Situation/Stärke | Koeffizient | 1,538** | −1,727*** | 0,612*** | −0,443*** | −0,455*** | 0,202*** |
(0,224) | (0,270) | (0,203) | (0,203) | (0,129) | (0,071) | ||
Demografische Stärke | Koeffizient | −0,223 | −1,520*** | 1,840*** | −0,820*** | 0,000* | −0,116*** |
(0,279) | (0,319) | (0,295) | (0,205) | (0,138) | (0,098) | ||
Wirtschaftliche Struktur/Verwundbarkeit | Koeffizient | 4,239*** | −1,846*** | −2,915*** | 0,820*** | −0,605*** | −0,507*** |
(0,315) | (0,420) | (0,269) | (0,239) | (0,139) | (0,098) | ||
Ost-West-Dummy | Koeffizient | −10,002*** | −8,221*** | −5,088*** | 10,037*** | 9,427*** | −0,445** |
(0,814) | (0,874) | (0,909) | (0,514) | (0,502) | (0,248) | ||
Konstante | Koeffizient | 33,095*** | 17,069*** | 19,215*** | 9,712*** | 3,448*** | 5,111*** |
(0,262) | (0,346) | (0,271) | (0,220) | (0,123) | (0,056) | ||
F-Statistik | 151,723 | 70,532 | 301,877 | 478,315 | 1 377,09 | 12,772 | |
R2 | 0,607 | 0,418 | 0,753 | 0,83 | 0,935 | 0,117 | |
Adjusted R2 | 0,603 | 0,412 | 0,752 | 0,828 | 0,934 | 0,108 | |
Anzahl Kreise | 398 | 398 | 398 | 398 | 398 | 398 |
1 Ökonomische Situation, strukturelle Verwundbarkeit der Wirtschaft, demografische Entwicklung.
Anmerkung: Standardfehler sind in Klammern angegeben. Signifikanzniveaus: *=10 Prozent, **= 5 Prozent, ***=1 Prozent.
Lesebeispiel: Der Koeffizient von 0,612 (Zeile 1 / Spalte Grüne) bedeutet, dass ein Anstieg der Variable „Ökonomische Situation“ um eine Standardabweichung über den Bundesdurchschnitt ceteris paribus mit einem Anstieg des Wahlergebnisses der Grünen um 0,612 Prozentpunkte einhergeht.
Quelle: Eigene Berechnungen.
Die Zustimmung zu den Grünen steigt umso mehr, je besser die ökonomische Situation in einem Kreis ist, also je niedriger die Arbeitslosenquote, je höher das verfügbare Jahreseinkommen der Haushalte und je stärker dieses Einkommen in den letzten zehn Jahren gestiegen ist. Auch sind die Grünen in Kreisen mit positiver demografischer Entwicklung besonders stark, also in Regionen mit vergleichsweise weniger alten Menschen und höherer Zuwanderung. Die Grünen sind die einzige Partei, für die der Zusammenhang zwischen positiver Zusammensetzung der demografischen Komponente in den Kreisen und höherer Zustimmung gilt. Dagegen schneiden die Grünen im Durchschnitt schlechter ab in Kreisen, in denen das Risiko für Arbeitsplatzverluste aufgrund der fortschreitenden Automatisierung hoch und die Wirtschaft tendenziell kleinteiliger ist. Entsprechend scheinen die Grünen insbesondere in Kreisen attraktiv zu sein, in denen das produzierende Gewerbe weniger vertreten ist, dafür aber die mittlerweile sehr wachstumsstarken wissensintensiven Dienstleistungen.
Auch die Größe der Effekte ist informativ: Die ökonomische Situation (also hohe Einkommen oder geringe Arbeitslosigkeit) spielt zwar eine Rolle, fällt im Vergleich zur demografischen Stärke und wirtschaftlichen Struktur aber weniger ins Gewicht. Mit anderen Worten: Die Grünen haben vor allem in solchen Kreisen viele Stimmen erhalten, die demografisch jung und dynamisch sowie strukturell solide und zukunftsorientiert sind.
Ganz anders die AfD. Die Partei erzielte bei der Europawahl im Durchschnitt bessere Ergebnisse, je größer die strukturellen Auffälligkeiten sind, also vor allem dort, wo einerseits besonders vielen Menschen ein Arbeitsplatzverlust droht und andererseits die Dichte von Handwerksunternehmen hoch ist. Gleichermaßen ist die AfD in Kreisen stark, die mit Abwanderung zu kämpfen haben und in denen überdurchschnittlich viele ältere Menschen leben. Auch in Kreisen, in denen die ökonomische Situation weniger gut ist, lagen die Stimmanteile der AfD durchschnittlich höher.Diese Ergebnisse korrespondieren auch mit einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die entlang der Bereiche Wirtschaft, Demografie und Infrastruktur 19 „gefährdete“ Regionen identifiziert – allerdings auf Ebene der sogenannten Raumordnungsregionen. Obgleich sich insbesondere die strukturelle Variable erheblich von der hier verwendeten Zusammensetzung unterscheidet, gibt es erhebliche Überschneidungen. Bringt man die Wahlergebnisse auf Kreisebene mit den als „gefährdet“ kategorisierten Regionen zusammen, so erhält man ein stimmiges Bild. Innerhalb der jeweiligen Bundesländer haben Kreise in diesen „gefährdeten“ Regionen tendenziell einen durchschnittlich höheren Stimmanteil der AfD als in den „nicht gefährdeten“ Regionen des Bundeslandes. Vgl. Christian A. Oberst, Hanno Kempermann und Christoph Schröder (2019): Räumliche Entwicklung in Deutschland. In: Michael Hüther, Jens Südekum und Michael Voigtländer (Hrsg.): Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit. IW-Studien - Schriften zur Wirtschaftspolitik aus dem Institut der deutschen Wirtschaft (online verfügbar). Wie bei den Grünen hat auch für die AfD diese ökonomische Komponente einen geringeren Einfluss als die beiden anderen Faktoren.
Die Signifikanz der Koeffizienten der Ost-West-Dummies bestätigen weiterhin die Stärke der AfD in Ostdeutschland und der Grünen in Westdeutschland, die zu einem signifikanten Anteil nicht durch die Variablen im Modell erklärt werden können.Durch die Aufnahme eines solchen Dummy werden die Resultate nicht durch systematische Unterschiede zwischen Ost und West erklärt, sondern durch die Variationen innerhalb Westdeutschlands und innerhalb Ostdeutschlands.
Die drei Strukturfaktoren beschreiben zusammen mit der Dummy-Variable 83 Prozent der Variation der AfD-Stimmanteile bei der Europawahl 2019 (Tabelle, Zeile 13). Bei den Grünen erklärt das Modell mit rund 75 Prozent zwar etwas weniger der Variation, aber die drei Strukturfaktoren erfassen einen hohen Anteil der Variation in den Ergebnissen der beiden Parteien.
Für bestimmte Kreise kann das Modell die Wahlergebnisse weniger gut erklären. Bei der AfD trifft das auf alle sächsischen Kreise – mit Ausnahme der Stadt Leipzig – zu: Dort unterschätzt das Modell das tatsächliche AfD-Ergebnis (Abbildung 6, linker Teil). In Mecklenburg-Vorpommern dagegen überschätzt das Modell die tatsächlichen Stimmanteile der AfD. Unter der Annahme, dass die gewählten Variablen und das Modell in der Lage sind, die ökonomische, strukturelle und demografische Situation eines Kreises richtig zu erfassen, bedeuten diese Über- und Unterschätzungen, dass die Wahlentscheidung in diesen Kreisen zu einem entsprechenden Teil von anderen Faktoren, etwa der regionalen Bekanntheit und Popularität bestimmter Kandidatinnen und Kandidaten, bestimmt wurde. Bei den Grünen unterschätzt das Modell die Stimmanteile in vielen Kreisen in Schleswig-Holstein (Abbildung 6, rechter Teil), in Flensburg etwa fielen die Ergebnisse um über zehn Prozentpunkte höher aus als die Schätzung ergab. Im Saarland und in Rheinland-Pfalz dagegen fuhr die Partei niedrigere Ergebnisse ein, als die Schätzung es erwarten ließ. In den drei bayerischen Kreisen Straubing, Straubing-Bogen und Eichstätt wurden die Ergebnisse der Grünen am meisten überschätzt: Die gute wirtschaftliche Situation und eine attraktive demografische Entwicklung hätten einen um acht bis neun Prozentpunkte höheren Stimmanteil für die Grünen erwarten lassen.
Im letzten Schritt der Analyse wird untersucht, inwiefern sich die herausgestellten Muster gegenüber der Bundestagswahl 2017 verändert haben. Dazu werden die drei Variablen aus der obigen Schätzung verwendet, um das Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl 2017 zu erklären.
Man kann sich fragen, ob der Vergleich zwischen einer Europawahl und einer Bundestagswahl angebracht ist. Für viele Wählerinnen und Wähler nimmt die Europawahl einen geringeren Stellenwert ein, was sich nicht zuletzt an der Wahlbeteiligung zeigt: Bei der Bundestagswahl 2017 stimmten fast 9,2 Millionen Menschen mehr ab als bei der Europawahl, auch schneiden kleine und Oppositionsparteien tendenziell besser ab als in nationalen Wahlen.Unter anderem deshalb wurde die Europawahl seit jeher als „Nebenwahl“ („second-order national election“) bezeichnet. Gleichzeitig dominieren aber auch bei der Europawahl nationale Themen die Wahlentscheidung. Mit Blick auf die AfD lässt sich die diesjährige Europawahl zudem schwer mit der des Jahres 2014 vergleichen, da die Partei im Jahr 2014 inhaltlich wie personell eine ganz andere war. Bei aller Vorsicht kann der Vergleich der Wahlergebnisse von 2019 und 2017 also informativ sein.
Die AfD konnte im Jahr 2019 nur in 40 der 401 Kreisen und kreisfreien Städten höhere Stimmanteile erzielen als bei der Bundestagswahl; 36 dieser Kreise lagen in ostdeutschen Bundesländern (Abbildung 7, linker Teil).Lediglich vier westdeutsche Kreise verzeichneten einen höheren AfD-Stimmanteil, in jedem lag der Zugewinn gegenüber 2017 bei weniger als einem Prozentpunkt. Bemerkenswert ist der Verlust der AfD in den beiden süddeutschen Bundesländern, insbesondere im östlichen Bayern.
Die Grünen haben dagegen in jedem der 401 Kreise Deutschlands einen höheren Stimmanteil erzielen können als 2017 (Abbildung 7, rechter Teil). In den westdeutschen Bundesländern war der durchschnittliche Zugewinn deutlich höher als in den ostdeutschen – mit Ausnahme Berlins. Es bestätigte sich, dass die Grünen in größeren Städten deutlich stärker gewinnen konnten.In der Liste der zehn Kreise mit dem größten Zugewinnen befinden sich dabei neun kreisfreie Städte in Schleswig-Holstein (Kiel, Flensburg, Lübeck), Niedersachsen (Oldenburg, Osnabrück) und Nordrhein-Westfalen (Münster, Düsseldorf, Köln, Bonn). Obgleich die Zugewinne in den ostdeutschen Kreisen im Durchschnitt niedriger waren, gibt es auch hier Kreise mit zweistelligen Veränderungen (Potsdam, Leipzig, Rostock, Jena).
Angesichts dieser teils erheblichen Veränderungen wird überprüft, welche Rolle die hier untersuchten Dimensionen bei der Veränderung der Stimmanteile gegenüber 2017 spielen. Erstens wurden die Grünen bereits 2017 insbesondere in Kreisen gewählt, die eine weniger verwundbare Wirtschaftsstruktur und gleichzeitig eine positive demografische Situation aufweisen (Abbildung 8). Bei der Europawahl entfalten diese Faktoren einen noch stärkeren Einfluss. Dagegen erzielte die AfD bereits bei der Bundestagswahl 2017 in demografisch schwächeren und strukturell verwundbareren Kreisen bessere Ergebnisse. Auch bei der Europawahl bleibt dieser Zusammenhang bestehen, wobei die Bedeutung der demografischen Schwäche als Merkmal von Kreisen zunimmt, in denen die AfD eine hohe Zustimmung erfährt. Auch weil die Partei 2019 in Bayern und Baden-Württemberg hinter den Ergebnissen aus 2017 zurückbleibt, nimmt die Bedeutung der strukturellen Verwundbarkeit etwas ab.
Die Union scheint zunächst der stärkste Gegenpol zu den Grünen zu sein. Allerdings löst sich diese (scheinbare) Polarisierung auf, wenn auch die Dimension der wirtschaftlichen Stärke von Kreisen berücksichtigt wird. Die Union schneidet in wirtschaftlich stärkeren Kreisen besser ab – ganz ähnlich wie die Grünen, aber im Gegensatz zur AfD.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die regionale Polarisierung in den Stimmanteilen sowohl 2017 als auch 2019 vorhanden ist. Die Polarisierung zwischen den beiden Parteien in den Jahren 2017 und 2019 gilt (im Unterschied zu allen anderen Parteien) auch für die in Abbildung 8 nicht dargestellte dritte Dimension „ökonomische Situation“. Im Falle der Grünen erhöht sie sich sogar noch.Nicht im Fokus der vorliegenden Analyse, aber dennoch bemerkenswert sind die in Abbildung 8 dargestellten Ergebnisse für die SPD. Die Koeffizienten haben sich zwischen 2017 und 2019 kaum verändert. Das erscheint erstaunlich angesichts der Einbußen, die die Partei bei der Europawahl hinnehmen musste (in 388 Kreisen erreichte die SPD einen geringeren Stimmanteil als 2017). Allerdings muss auch anerkannt werden, dass die Analyse der regionalen Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur viele für die Wahlentscheidung wichtige Faktoren unberücksichtigt lässt (etwa die Popularität der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten, die allgemeine Wahrnehmung der Partei und deren programmatische Ausrichtung). Zwar erklärt das hier gewählte Modell für die SPD einen guten Teil der Variation der Wahlergebnisse (58 Prozent für die Bundestagswahl 2017 und 42 Prozent für die Europawahl 2019), die Veränderung scheint aber nicht stärker durch demografische Faktoren getrieben worden zu sein.
Die Europawahl hat eine Verschiebung in der deutschen Parteienlandschaft offenbart: Abkehr von der Großen Koalition, hin vor allem zu den Grünen bei gleichzeitiger Konsolidierung der AfD. Die hier durchgeführten Analysen machen deutlich, dass diese beiden Parteien in Regionen mit entgegengesetzten wirtschaftlichen, strukturellen und demografischen Merkmalen erfolgreich sind. Die Grünen erhalten in wirtschaftlich starken Regionen, Regionen mit positivem Wanderungssaldo sowie Regionen mit einer für Veränderungen weniger anfälligen Wirtschaftsstruktur viel Zustimmung. Die AfD genießt dagegen in wirtschaftlich schwachen sowie in überalterten Regionen und solchen mit einer höheren strukturellen Verwundbarkeit starken Zulauf.
Die Grünen sind demnach in Kreisen mit aus ökonomischer Sicht vorteilhaften Ausprägungen stark, die AfD in Kreisen mit entsprechend ökonomisch weniger vorteilhaften Ausprägungen. Eine solch eindeutige Zuordnung ist für keine der anderen im Bundestag vertretenen Parteien möglich – auch nicht für die kleineren Parteien wie FDP oder Linke. Gleichzeitig gilt für Grüne wie AfD, dass die aktuelle ökonomische Situation im Vergleich zu den demografischen und strukturellen Faktoren das Abstimmungsverhalten in den Kreisen in geringerem Maße erklärt. Der Vergleich mit der Bundestagwahl 2017 bestätigt die zunehmende Polarisierung der Kreise entlang der demografischen und strukturellen Dimensionen.
Die Ergebnisse weisen auf eine grundlegende demografische Problematik hin, die verschiedene Regionen in Deutschland belastet und tendenziell mit einem hohen Zuspruch zur AfD einhergeht.Siehe dazu auch Christian Franz, Marcel Fratzscher und Alexander S. Kritikos (2018): AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker. DIW Wochenbericht Nr. 8 (online verfügbar). Hinter diesem strukturellen Faktor verbergen sich maßgebliche wirtschaftliche Probleme, die vor allem die Perspektiven dieser Regionen erheblich eintrüben. Keine der gängigen Erklärungen (etwa die von den ModernisierungsverlierernZu entsprechenden Erklärungsansätzen vgl. beispielsweise Susanne Rippl und Christian Seipel (2018): Modernisierungsverlierer, Cultural Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70(2), 237–254.) wird dabei alleine in der Lage sein, diese empfundene Perspektivlosigkeit vollständig zu erfassen.
Aus alldem lassen sich Politikimplikationen ableiten. Die Zugewinne der Grünen und AfD und die Verluste der Regierungsparteien lassen sich dahingehend interpretieren, dass die bisherige Politik der Großen Koalition nicht in der Lage war, wichtige Aspekte der Lebensverhältnisse von Menschen in Deutschland in den vergangenen Jahren ausreichend zu verbessern. Insofern gibt dieser Bericht Hinweise darauf, welche Form von Politikmaßnahmen zukünftig priorisiert werden sollten. Statt kurzfristig wirkende Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommenssituation sollte die Politik die strukturelle Verwundbarkeit der Wirtschaft und die demografische Situation in stärkerem Maße in den Blick nehmen, auch und gerade wenn diesen Herausforderungen nur mit längerfristigen Investitionen begegnet werden kann. Es sind die Zukunftsthemen, die hier in den Vordergrund rücken, etwa die Stärkung der digitalen Infrastruktur, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, um auf die Digitalisierung einzugehen, und eine ausreichende Finanzierung der Kommunen bei Infrastrukturinvestitionen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Konjunktur
JEL-Classification: D72;Z13
Keywords: political parties, elections, Germany, economy, demography, structural data, European elections, Federal elections
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-34-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/203177