Blog Marcel Fratzscher vom 18. November 2024
Um die Wirtschaft der EU zu stabilisieren, muss die EZB von ihrem bisherigen Inflationsziel abrücken. Was sie braucht, ist eine neue Geldpolitik. Ein Gastkommentar von Marcel Fratzscher.
Die Erleichterung über das vorläufige Ende der höchsten Inflation der letzten 40 Jahre ist groß. Die Europäische Zentralbank (EZB) kann die Zinsen wieder senken und bremst damit eine eh schon schwache Wirtschaft nicht mehr so stark aus. Welche Lehren sollten wir aus dieser schmerzvollen Erfahrung ziehen?
Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 18. November 2024 im Handelsblatt.
Vier Entwicklungen der turbulenten vergangenen 15 Jahre sind entscheidend für die Zukunft der Notenbanken, insbesondere der EZB.
Die erste: Wirtschaft und Preise werden zunehmend von Krisen und globalen Entwicklungen und immer weniger von einheimischen Faktoren beeinflusst. Globale Schocks wie Pandemien, Energiepreisschocks und geopolitische und handelspolitische Konflikte dürften unweigerlich weiter an Bedeutung gewinnen.
Eine zweite Entwicklung ist, dass Schocks auf der Angebotsseite durch wirtschaftliche Transformation, neue Technologien, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) bedeutender werden. Die Rolle der einheimischen Nachfrage wird dagegen abnehmen.
Als drittes kommt eine steigende Dominanz von Finanzpolitik und Finanzstabilität über die Geldpolitik hinzu. Gerade die hohe Divergenz der Finanzpolitik innerhalb der Euro-Zone macht es für die EZB immer schwieriger, ihr enges Punktziel der Preisstabilität von zwei Prozent zuverlässig zu erfüllen.
Eine vierte Entwicklung wird vor allem Europa hart treffen. Dies ist die demografische Alterung, die das Potenzialwachstum der Wirtschaft gegen null sinken lässt. Ein Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung, gekoppelt mit einem geringen Produktivitätswachstum, bedeutet, dass die deutsche Volkswirtschaft lediglich 0,4 Prozent durchschnittlich im Jahr wachsen kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Potenzialwachstum auf unter null sinkt – die Rezession wird also zur Norm werden.
Diese vier Entwicklungen werden zu stärkeren Schwankungen der Inflation und häufigeren Phasen der Deflation, also fallender Preise, führen. Eine Deflation ist besonders gefährlich, weil sie für Zentralbanken schwerer zu bekämpfen ist als die Inflation. Sie ist schädlicher, weil Löhne und manche Preise nominal nicht oder nur schwer sinken können und somit Schuldenprobleme und Insolvenzen für Unternehmen zunehmen werden. Das bringt große disruptive Konsequenzen für wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand mit sich.
Dies erfordert eine Anpassung der politischen Strategie der Zentralbanken - mit drei Änderungen für die EZB: Zum einen sollte die EZB ihr Inflationsziel von zwei Prozent auf drei oder vier Prozent erhöhen – ähnlich wie bereits vom früheren Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF) Olivier Blanchard 2012 vorgeschlagen. Eine Inflationsrate von vier Prozent ist wirtschaftlich nicht schlechter als eine von zwei Prozent. Zentralbanken könnten dadurch besser auf große Schocks und Krisen reagieren, weil sie mehr Spielraum für Zinssenkungen hätten und unkonventionelle Maßnahmen, wie Ankäufe von Staatsanleihen mit negativen Nebenwirkungen, besser vermeiden könnten.
Als Zweites sollte die EZB sich mehr Flexibilität und Diskretion in Bezug auf das Inflationsziel geben und größere Schwankungen von einem Prozentpunkt über und einem Prozentpunkt unter ihrem Ziel zulassen – ähnlich, wie dies die Bank of England tut.
Als Drittes sollte die EZB ihr Ziel aufgeben, ihr Inflationsziel mittelfristig zu erreichen. Wie auch Pandemie und Energiekrise zeigen, so ist eine Rückkehr zur Preisstabilität innerhalb von ein bis zwei Jahren nach großen, globalen Schocks häufig unrealistisch oder schädlich, weil es so starke geldpolitische Reaktionen erfordern kann, dass sie zu Verwerfungen bei der Finanzstabilität führen.
Eine solche neue Definition der Strategie der Preisstabilität hätte deutlich mehr Vorteile als Nachteile. Sie würde die Glaubwürdigkeit der EZB schützen, weil sie die Chancen für die EZB erhöht, ihr Mandat der Preisstabilität zu erfüllen. Mit einer hohen Glaubwürdigkeit steigt auch die Effektivität der geldpolitischen Instrumente und somit der Erfolg der Geldpolitik. Eine solche Ehrlichkeit und Transparenz hätten große Vorteile für Wirtschaft und Gesellschaft. Unternehmen müssten ihre Planungen flexibler und vor allem resilienter gestalten. Die Dominanz der Finanzpolitik über die Geldpolitik würde reduziert, Regierungen müssten ihre Finanzpolitik anpassen und solider gestalten.
Viele in Deutschland mögen diese Vorschläge kritisch sehen. Wir brauchen jedoch einen offenen Diskurs, wie Zentralbanken ihrer wichtigen Rolle in einer von globalen Schocks und Veränderungen beeinflussten Welt auch in Zukunft gerecht werden können. Dies erfordert eine neue geldpolitische Strategie. Eine solche Veränderung wäre keine Revolution, sondern eher eine Rückkehr zu den erfolgreichen Zeiten der Bundesbank. Deren Strategie war bestimmt von Diskretion und Flexibilität mit dem Ziel der monetären Stabilität anstelle eines engen Ziels der Preisstabilität.
Themen: Finanzmärkte , Geldpolitik