Blog Marcel Fratzscher vom 5. Juli 2024
Die Bundesregierung hat den Gleichwertigkeitsbericht vorgestellt und viele Menschen sind enttäuscht. Dabei ist die Ungleichheit sogar kleiner geworden.
Die Reaktionen auf den ersten Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung waren überwiegend negativ. Die Unzufriedenheit der Bürger*innen mit der Daseinsvorsorge sei enorm, die Unterschiede in den Lebensbedingungen seien zu hoch und der Staat komme seinen Verpflichtungen häufig nicht nach, so lautet der Tenor. Aber ist diese Kritik berechtigt? Was bedeutet Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen überhaupt konkret – und sind die an den Staat gestellten Erwartungen realistisch?
Diese Kolumne erschien am 5. Juli 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Der Bericht hat eine grundlegend positive Botschaft, aber auch eine negative. Zuerst die positive: dass die Unterschiede bei den wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und anderen Bedingungen in allen 400 Landkreisen und kreisfreien Städten abgenommen haben, jedenfalls wenn man sich die 42 Indikatoren ansieht, mit denen die Gleichwertigkeit gemessen wurde. Die Bundesregierung kann also zu Recht behaupten, die Ungleichheit habe abgenommen. Zudem gab es in den vergangenen 15 Jahren insgesamt in fast allen Regionen einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung – viele Menschen haben heute mehr Geld zur Verfügung und damit auch mehr Kaufkraft (trotz der in jüngeren Jahren vorübergehend sehr hohen Inflation). Die Arbeitslosigkeit hat abgenommen, es gab zahlreiche weitere Verbesserungen bei den Lebensbedingungen.
Die negative Botschaft aber lautet: Sehr viele Menschen hierzulande sind unzufrieden mit der Daseinsvorsorge. 80 Prozent finden die Wohnkosten zu hoch, viele bemängeln die Verfügbarkeit von Kitas, Schulen, Pflegeeinrichtungen und Ärzt*innen.
Die erste Frage ist, ob die Gleichwertigkeit als Ziel des politischen Handelns überhaupt sinnvoll ist. Das Ziel ist im Grundgesetz verankert und hat daher einen hohen Stellenwert. Im Grunde geht es um Chancengleichheit, die wichtig ist für eine soziale Marktwirtschaft und die Demokratie. Eine wirkliche Gleichwertigkeit ist jedoch unrealistisch, denn es wird immer regionale Unterschiede geben. Wenn man also Gleichwertigkeit wörtlich nimmt, dann ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Wenn man jedoch die Daseinsvorsorge mit anderen Ländern vergleicht, so zeigt sich, dass Deutschland deutlich besser dasteht als viele, wenn nicht die meisten anderen Staaten. Die Unterschiede zwischen dem Norden und Süden Italiens, in Spanien oder England sind deutlich größer als die Unterschiede in Deutschland. Hierzulande sind viele regionale Unterschiede zudem kleiner geworden, was bei vielen anderen Staaten nicht der Fall ist. Es gibt also eine Konvergenz in den Lebensumständen in Deutschland – und dies ist vor allem Ostdeutschland zu verdanken, wo sich die meisten Regionen in den vergangenen 15 Jahren wirtschaftlich hervorragend entwickelt haben.
Die zweite Frage ist, was Gleichwertigkeit genau bedeuten soll. Jede Region ist anders – geografisch, demografisch und wirtschaftlich – und hat daher unterschiedliche Anforderungen an die Lebensumstände. Eine ländliche Region mit vielen älteren Einwohner*innen benötigt andere staatliche und private Daseinsvorsorge als eine schnell wachsende Stadt mit vielen jungen Menschen. Gleichwertigkeit bedeutet offensichtlich nicht Gleichheit und erfordert eine Priorisierung und Gewichtung, die für jede Region anders ist.
Der dritte Punkt und das größte Problem ist, dass Gleichwertigkeit für die meisten Bürger*innen in Wahrheit irrelevant sein dürfte. Es ist ein politischer Anspruch, mit dem die meisten Menschen nichts anfangen können. Eine junge Auszubildende in Görlitz vergleicht sich nicht mit einer Auszubildenden in Hamburg oder einer in Trier. Sie vergleicht sich eher mit ihrem Umfeld. Sie leitet Ansprüche von dem ab, was ihre Eltern ihr vermitteln oder ihre eigenen Erfahrungen sind.
Diese drei Punkte sind wichtig für die Politik. Wenn sie auf Grundlage eines solchen Gleichwertigkeitsberichts nun überlegt, wie sie ihre vielen regionalen Förderprogramme verteilen und wofür sie viele Milliarden Euro ausgeben will, dann sind die Unterschiede über die 42 Indikatoren hinweg nur begrenzt aussagekräftig. Viel relevanter ist, was Menschen in unterschiedlichen Regionen für ein selbstbestimmtes Leben brauchen, was Regionen besonders macht, wo ihre komparativen Vorteile liegen und wie individuell und unterschiedlich in Regionen Wohlstand und Zufriedenheit entstehen können.
Hier offenbart sich der große Widerspruch zwischen Anspruch und Realität im Bericht. Mehr als zwei von drei Bürger*innen sind mit ihrer persönlichen Lebenssituation durchschnittlich oder überdurchschnittlich zufrieden, die Mehrheit jedoch zeigt eine zum Teil hohe Unzufriedenheit mit vielen Dingen der Daseinsvorsorge. In anderen Worten: Die mangelnde Daseinsvorsorge führt offensichtlich nicht dazu, dass es den meisten Menschen schlecht geht und sie mit ihrem eigenen Leben unzufrieden sind.
Daher stellt sich die Frage, ob die Menschen realistische Erwartungen an den Staat und die Politik haben, was die Daseinsvorsorge betrifft. Wir erleben große Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft – durch die Demografie, durch neue Technologien, die unser tägliches Leben stark verändern. Arbeit verändert sich, und die Verteilung von Einkommen, Ressourcen und Chancen wird ungleicher. Nur wenige dieser Veränderungen können durch Politik und Staat beeinflusst werden. Der Staat muss zwar versuchen, Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass möglichst alle Menschen mit diesen Veränderungen gut umgehen können. Der größte Teil der Anpassung muss jedoch von jedem Individuum kommen – hier ist nun mal jede*r auch selbst verantwortlich. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis des ersten Gleichwertigkeitsberichts ist daher: Mehr Eigenverantwortung ist genauso wichtig wie stärkere staatliche Anstrengungen bei der Daseinsvorsorge.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Verteilung , Wohlbefinden