So leicht und günstig lässt sich Kinderarmut reduzieren

Blog Marcel Fratzscher vom 6. Januar 2025

Selbst ohne die Kindergrundsicherung kann der Staat Milliarden für arme Kinder mobilisieren – ohne mehr Geld auszugeben. Dafür müsste er nur an gewisse Freibeträge ran.

Mit großen Ambitionen war die Bundesregierung angetreten, um Kinderarmut durch die Einführung einer Kindergrundsicherung zu bekämpfen. Diese Kindergrundsicherung steht jedoch nun vor dem Scheitern, auch weil es vielen nicht um den Inhalt geht, sondern um Wahlkampf. Es gibt jedoch andere Instrumente, um Kinderarmut zu reduzieren und soziale Teilhabe zu verbessern, die schnell und unbürokratisch umgesetzt werden könnten und den Staat zudem kein zusätzliches Geld kosten: die Reform der Kinderfreibeträge.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 3. Januar 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Sehr vereinfacht erklärt gibt es drei zentrale Elemente für die finanzielle Förderung von Kindern in Deutschland. Die Grundsicherung, also das Kindergeld, erhalten alle Familien mit Kindern bis mindestens 18 Jahre oder maximal 25 Jahre, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Der Betrag wurde unter dieser Bundesregierung signifikant erhöht und beträgt heute 250 Euro pro Kind und Monat. Viele von Armut bedrohte Familien können zudem einen Kinderzuschlag beantragen, der maximal weitere 292 Euro im Monat betragen kann. Der Haken ist jedoch, dass viele anspruchsberechtigte Eltern den Kinderzuschlag nicht beantragen – entweder aus Unwissenheit oder wegen der Kompliziertheit der bürokratischen Prozesse. Die geplante Kindergrundsicherung soll verschiedene Leistungen für Kinder zusammenführen, um das System zu vereinfachen, die Transparenz zu verbessern, dadurch dem Staat Geld zu sparen, die Inanspruchnahme zu erhöhen und Leistungen zu verbessern. Familien sollten also nicht länger eine Holschuld haben, sondern der Staat eine Bringschuld – so die Logik.

Die fatale Logik des deutschen Steuersystems

Ein weiteres Element sind die Freibeträge für Bildung, Erziehung und Ausbildung (BEA-Freibeträge), die Eltern für diese Zwecke steuerlich geltend machen können. Diese Freibeträge sind progressiv: je höher die Einkommen der Eltern, desto höher die steuerlichen Vorteile. Für Spitzenverdienende können sie bis zu 3.000 Euro pro Kind und Jahr betragen.

Diese BEA-Freibeträge unterstreichen die nicht mehr zeitgemäße Logik des deutschen Steuersystems. Eine Gesellschaft, die Chancengleichheit für alle Kinder und die Förderung von Talenten und Fähigkeiten jedes Kindes gleichermaßen in den Mittelpunkt stellt, sollte mehr Geld für Kinder in einkommensschwächeren Haushalten als für Haushalte mit hohen Einkommen zur Verfügung stellen. Zumal Leistungen, die pauschal über die BEA-Freibeträge abgedeckt werden sollen – Nachhilfe oder Musikschule – nicht weniger wichtig für Kinder in einkommensschwachen Familien sind. 

Bildung hängt in Deutschland stark vom Elternhaus ab

Die Logik des deutschen Steuersystems fokussiert sich jedoch weniger auf Einkommensunterschiede zwischen Familien, sondern auf die sogenannte horizontale Gleichbehandlung – es vergleicht die Situation von kinderlosen Paaren mit jenen mit Kindern. Demnach soll ein Paar mit Kindern gegenüber einem Paar ohne Kinder nicht finanziell schlechter gestellt sein. Da einkommensstarke Paare deutlich mehr Geld für ihre Kinder ausgeben, sollen sie auch mehr finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten.

Die Konsequenzen dieser Logik sind für Gesellschaft und Wirtschaft katastrophal. In kaum einer westlichen Gesellschaft ist die Chancengleichheit in Bezug auf Bildung so gering wie in Deutschland. Der Bildungsabschluss der Kinder hängt viel stärker als anderswo in der westlichen Welt vom Einkommen und der Bildung der Eltern ab. Viele Kinder und Jugendliche können ihre Talente und Fähigkeiten nicht entwickeln, und zu vielen wird dadurch die soziale Teilhabe schon in jungen Jahren verwehrt. Das reduziert nicht nur die politische Teilhabe; Wirtschaft und Gesellschaft entgeht ein riesiges Potenzial durch fehlende Fachkräfte. Und für viele junge Menschen bedeutet dies, dass sie keinen Schulabschluss oder keinen Berufsabschluss erhalten, häufiger Bürgergeld beziehen und dadurch auch eine Belastung für die Sozialsysteme und die Gesellschaft werden.

Weniger Freibetrag, mehr Kinderzuschlag

Eine neue Studie der DIW Econ (PDF) (einer Tochtergesellschaft des DIW Berlin) im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) berechnet, wie hoch die Freibeträge sind und wie sich diese über Familien verteilen. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Kürzung der BEA-Freibeträge auf das gesetzliche Minimum dem deutschen Staat knapp 3,5 Milliarden Euro im Jahr einsparen würde.

Dies ist eine beträchtliche Summe, die zielgenauer auf bedürftige Kinder umverteilt werden könnte und sollte. Es geht also nicht um eine Neiddebatte oder darum, den vermögenden Haushalten weniger Geld für ihre Kinder zu geben. Die Empfehlung der AWO aus diesen Berechnungen ist vielmehr, dass diese 3,5 Milliarden Euro für die Erhöhung des Kinderzuschlags genutzt werden sollten. Das wären knapp 120 Euro im Monat mehr für jedes von Armut betroffene Kind. Dieses Geld könnte für die Betroffenen einen nennenswerten Unterschied ausmachen, Kindern und Jugendlichen soziale Teilhabe und bessere Bildungschancen ermöglichen und ihrem Lebensweg mehr Freiheit und Selbstbestimmung geben.

Schlicht und schnell mehr Geld für arme Kinder

Die Stärke dieses Vorschlags liegt in seiner Einfachheit und schnellen Umsetzbarkeit. Kein Gesetz müsste geändert, keine neue Bürokratie geschaffen oder zusätzliche Programme kreiert werden. Es würde den deutschen Staat kein zusätzliches Geld kosten und dem Staat langfristig sogar Geld sparen, weil es die Sozialsysteme entlasten würde.

Die Nachteile liegen jedoch auf der Hand: Viele Anspruchsberechtigte nutzen den Kinderzuschlag nicht und würden von dieser Umverteilung nicht profitieren. Eine Alternative ist es, die 3,5 Milliarden Euro für eine Erhöhung des Kindergelds um rund 20 Euro pro Kind und Monat zu nutzen – mit dem Nachteil, dass diese Option nicht zielgenau Kinderarmut bekämpft. Keine dieser Optionen kann die Kindergrundsicherung jedoch ersetzen. Denn die Kindergrundsicherung soll den Staat in eine Bringschuld versetzen, indem er verschiedene Leistungen bündelt und die Auszahlung automatisiert erfolgen soll.

Zu häufig werden Vorschläge zur Armutsbekämpfung mit dem Argument abgelehnt, es sei kein Geld dafür vorhanden. Die Möglichkeit einer Reform der BEA-Freibeträge widerlegt dieses Argument. Die Bundesregierung könnte sehr schnell und recht zielgenau Kinder aus einkommensschwachen Haushalten finanziell besser unterstützen, ohne dass dies den Staat auch nur einen Euro mehr kostet.

Themen: Familie , Ungleichheit

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