Eine Kita-Pflicht sollte kein Tabu mehr sein

Blog Marcel Fratzscher vom 7. April 2025

Viele Kinder in Deutschland können ihre Fähigkeiten und Talente nicht voll entwickeln. Deutschland entgeht ein riesiges Potenzial. Das müsste nicht so sein.

In kaum einem Industrieland sind die Bildungschancen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Trotz eines größtenteils öffentlichen Bildungs- und Betreuungssystems hängen die Bildungschancen in Deutschland stärker von der sozialen Herkunft – insbesondere der Bildung und dem Einkommen der Eltern – ab als in vielen anderen Ländern. Eine neue Studie zeigt, wie stark der Schlüssel für diese Ungleichheit in der frühkindlichen Bildung liegt.

Deutschland hat ein doppeltes Problem mit seinem Bildungssystem: Zum einen nehmen Kompetenzen ab; zum anderen ist die Ungleichheit im Bildungsniveau bei Kindern und Jugendlichen groß und hat sich in den vergangenen 20 Jahren auch kaum verändert – so die Pisa-Studien der OECD. Das Niveau bei den Fähigkeiten in Bezug auf Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften nimmt seit gut zehn Jahren stetig weiter ab.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 4. April 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Das deutsche Bildungssystem steckt fest. Es ist unfähig, sich mit der Zeit und den Veränderungen in Arbeitsmarkt, Medien und Gesellschaft weiterzuentwickeln und den Anforderungen gerecht zu werden. Die Beharrungskräfte bei Politik, Eltern und den Bildungseinrichtungen sowie die häufig mangelnde Transparenz und Rechenschaft machen Reformen allzu häufig unmöglich.

Einer der Hauptgründe für die zunehmende Ungleichheit der Bildungschancen liegt in den Veränderungen am Arbeitsmarkt und im Familienmodell, vor allem in Westdeutschland. Elternpaare stehen unter großem Druck, dass beide berufstätig sind. Befragungen zeigen, dass beide Eltern sich dies wünschen und gleichermaßen hohen Wert auf eine berufliche Karriere legen. Im internationalen Vergleich ist dieser Wunsch nicht ungewöhnlich. Deutschland unterscheidet sich jedoch von den meisten anderen westlichen Demokratien dadurch, dass das Bildungs- und Betreuungssystem in Deutschland sehr viel Verantwortung an die Eltern übergibt. Obwohl seit mehr als zehn Jahren ein rechtlicher Anspruch auf einen Kitaplatz besteht, haben ein Fünftel der Familien mit ein- bis zweijährigen Kindern keinen Platz. Auch bei drei- bis fünfjährigen Kindern und Grundschulkindern ist der Bedarf an Betreuungsplätzen nicht vollständig gedeckt. 

Qualitätsmängel werden durch die Eltern ausgeglichen

Auch an der Qualität mangelt es häufig, sodass die Eltern schulische Defizite kompensieren müssen. Eltern mit guter Bildung und starkem Einkommen können dies meist sehr viel besser. So haben knapp die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen im Alter von 15 Jahren bereits Nachhilfeunterricht bekommen. Diese Hälfte lebt jedoch größtenteils in Haushalten mit hohen Einkommen, in denen die Eltern sich die Kosten leisten können.

Der Schaden ist enorm

Zum anderen ist die Ungleichheit bei Bildungschancen und Abschlüssen in Deutschland größer als in den meisten anderen Industrieländern. Etliche Studien haben gezeigt, dass Abschlüsse und Bildungserfolge ungewöhnlich stark von der sozialen Herkunft, also insbesondere von Einkommen und Bildung der Eltern, abhängen. 75 Prozent der Kinder, deren Eltern Abitur haben, besuchen ein Gymnasium, jedoch nur 28 Prozent der Kinder, deren Eltern kein Abitur haben. Fast die Hälfte des Einkommens im Berufsleben wird durch den Familienhintergrund erklärt.

Der Schaden durch die hohe Ungleichheit der Bildungschancen für Wirtschaft und Gesellschaft ist enorm. Knapp 50.000 junge Menschen gehen jedes Jahr ohne Schulabschluss von der Schule – eine hohe Zahl. Der Lebensweg von vielen von ihnen ist somit vorgezeichnet. Die Arbeitslosenquote derjenigen ohne Berufsabschluss liegt bei mehr als 20 Prozent, die von denen ohne Schulabschluss liegt noch deutlich darüber. Prekäre Beschäftigung und Arbeitslosigkeit führen zu einer schlechteren Gesundheit, weniger Zufriedenheit und Glück sowie einer geringeren Autonomie. Allzu oft führt dies in einen Teufelskreis, und es heißt: "Armut vererbt sich". Die kommenden Generationen haben eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, selbst mit wenig Bildung und Einkommen ihrer Chancen beraubt zu werden und in Armut zu landen. Und auch für den Sozialstaat sind die dadurch verursachten Kosten enorm.

Die frühkindliche Bildung ist der Schlüssel

Umgekehrt ist der potenzielle Nutzen eines besseren Bildungssystems, das vor allem mehr Chancengleichheit schafft, groß. Intelligenz sowie kognitive und nicht kognitive Fähigkeiten sind kaum genetisch bedingt, sondern vor allem durch das Umfeld und das eigene Elternhaus geprägt. Die geringe Mobilität bei Bildungschancen bedeutet, dass viele junge Menschen ihre Fähigkeiten und Talente nicht voll entwickeln und nutzen können. Dadurch entgeht auch der Wirtschaft ein riesiges Potenzial an Fachkräften, die in Zeiten des demografischen Schrumpfens dringender denn je benötigt werden. Mehr und besser qualifizierte Fachkräfte bedeuten Innovation und Wachstum, bessere Arbeitsplätze und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft.

Eine neue Studie des DIW Berlin zeigt, dass der Schlüssel in der frühkindlichen Bildung liegt. Die Analysen ergeben, dass die soziale Herkunft in Deutschland einen beträchtlichen Teil der Ungleichheit im Bildungserfolg vor allem in den ersten Lebensjahren erklärt. So werden 20 Prozent der Sprach- und 14 Prozent der Mathematikkompetenzen von Siebenjährigen in Deutschland allein durch Bildung und Einkommen der Eltern erklärt. Dies ist deutlich mehr als in anderen Industrieländern.

Vergleich mit USA ist erschreckend

Besonders erschreckend ist der Vergleich mit den USA: Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und sprachlichen Kompetenzen ist in Deutschland noch stärker als in den USA (in Deutschland gehen 20 Prozent der Unterschiede auf die soziale Herkunft zurück, in den USA 12 Prozent). Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Mathematikkompetenzen ist in Deutschland genauso stark wie in den USA (jeweils 14 Prozent). Die Einkommensungleichheit ist in den USA deutlich größer als in Deutschland, ein großer Teil des Bildungssystems in den USA ist privat organisiert, und auch bei öffentlichen Schulen sind die Einkommen der Eltern durch Abgaben und direkte finanzielle Beiträge wichtig. Und trotzdem spielt die soziale Herkunft in Deutschland eine noch größere Rolle als in den USA.

Deutschland sollte sich ein Beispiel an Frankreich nehmen

Deutlich geringer ist die Ungleichheit in unserem Nachbarland Frankreich, wo nur sechs beziehungsweise sieben Prozent der Sprach- und Mathematikkompetenzen durch die soziale Herkunft erklärt werden – also knapp ein Drittel beziehungsweise halb so viel wie in Deutschland. Dies ist ein klägliches Versagen des deutschen Bildungssystems.

Besorgniserregend ist das Resultat der Studie vor allem auch deshalb, weil diese Unterschiede schon am Anfang des Bildungsweges und nicht erst am Ende auftreten. Denn große Rückstände bei Sprach- und Mathekompetenzen in jungen Jahren haben große und häufig irreversible Schäden für die Bildungschancen der Kinder.

Dies unterstreicht die Dringlichkeit, dass Politik und Gesellschaft einen Kurswechsel in der frühkindlichen Bildung vornehmen müssen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman hat gezeigt, dass die Bildungsrenditen in der frühkindlichen Bildung zwei- bis dreimal höher liegen als später im Bildungsweg und in der tertiären Bildung, also den Hochschulen. Mit anderen Worten: Jeder investierte Euro in die frühkindliche Bildung schafft deutlich mehr wirtschaftlichen Nutzen für die Gesellschaft als ein Euro, der später im Bildungsweg investiert wird. Und Deutschland investiert pro Kopf deutlich weniger in die frühkindliche Bildung, als beispielsweise Frankreich und die skandinavischen Länder.

Warum sind Unis kostenlos, aber Kitas kostenpflichtig?

Politik und Gesellschaft sollten in Deutschland eine Kehrtwende vornehmen. Erstens sollten sie einen massiven Ausbau der Kitas mit hoher Qualität und einem flächendeckenden Angebot umsetzen. Alle Eltern, vor allem an sozial- und strukturschwächeren Orten, müssen von den ersten Monaten an ein gleichermaßen exzellentes Kita-Angebot haben. Aufgrund der großen Bedeutung von frühkindlicher Bildung ist es schwer nachvollziehbar, warum ein Universitätsstudium nahezu kostenlos angeboten wird, während Kitas mancherorts kostenpflichtig bleiben. 

Zweitens brauchen Eltern Informationen über die Angebote und mehr Wissen über die zentrale Bedeutung der frühkindlichen Bildung für ihre Kinder. Eltern sind keine Rabeneltern, wenn sie ihre Kinder von klein auf in die Kita geben. Die Betreuung und Zeit mit den Eltern sind natürlich unersetzlich wichtig, aber Kinder benötigen auch Zeit im sozialen Umfeld in den Kitas.

Drittens sollten Überlegungen angestellt werden, dem Beispiel Frankreichs zu folgen und Kitas in Vorschulen umzuwandeln und in den letzten Jahren vor dem Schulbesuch verpflichtend zu machen. Wichtig hervorzuheben ist, dass diese Vorschulpflicht alle Kinder in Frankreich betrifft und nicht nur Kinder mit Sprachproblemen, wie es häufig in Deutschland diskutiert wird.

Für die allermeisten wäre eine Pflicht keine Einschränkung

Zum einen, damit die in der Studie gefundenen Unterschiede bei Sprach- und Mathekompetenzen reduziert werden. Zum anderen, um allen Kindern das notwendige Rüstzeug für ihre eigene Entwicklung zu geben.

Eine Gesellschaft sollte vorsichtig mit solchen Pflichten und Einschränkungen der Freiheiten sein. Die Tatsache jedoch, dass acht Prozent der vierjährigen und sechs Prozent der fünfjährigen Kinder nicht in die Kita gehen, ist auch deshalb ein Problem, da es häufig genau diese Kinder sind, die von den Kitas besonders stark für ihre Bildungschancen profitieren. Und für die Eltern der anderen 92 Prozent ist eine solche Pflicht keine Einschränkung. 

Auch die aktuellen Debatten um das Bürgergeld sollten die Folgen für Kinder miteinbeziehen. So zeigte sich bereits, dass sich die Bildungschancen von Kindern mit arbeitslosen Eltern nach der Einführung von Hartz IV weiter verschlechtert haben.

Wir brauchen dringend eine Kehrtwende in der frühkindlichen Bildung, die Kindern zu Beginn ihrer Schulausbildung wieder die adäquate Voraussetzung für den Bildungserfolg gibt – aber auch, um die Ungleichheit der Bildungschancen nicht schon frühzeitig zu vergrößern und es vielen Kindern schwerzumachen, ihre eigenen Talente und Fähigkeiten zu entwickeln. Die Lösungen liegen auf der Hand. Doch Politik, Bildungseinrichtungen und vor allem auch die Eltern müssen mutig und konsequent handeln, um diese umzusetzen.

Themen: Bildung , Ungleichheit

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