Blog Marcel Fratzscher vom 16. Juni 2025
Was kostet die Migration? Jedes Jahr Hunderte Milliarden? Im Gegenteil: Es drohen Hunderte Milliarden Verluste, wenn nicht mehr Menschen zuwandern.
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass ein neuer Aspekt der Migration den öffentlichen Diskurs in Deutschland bestimmt. Nach Debatten über Gewalt oder Zurückweisungen an der Grenze steht nun erneut die Frage im Zentrum: Lohnt sich Migration finanziell für Deutschland?
Die klare Antwort: Ja. Eine neue Studie bestätigt frühere Untersuchungen – auch des DIW Berlin – und zeigt, wie essenziell die Zukunft Deutschlands davon abhängt, ob wir eine offene Gesellschaft bleiben, attraktiv für Zuwanderung werden und unsere Willkommenskultur verbessern. Das betrifft nicht nur Wirtschaft und Unternehmen, sondern auch unser tägliches Leben.
Die neue Studie des Ökonomen Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum und des Sachverständigenrats für Wirtschaft belegt einen erheblichen langfristigen finanziellen Nutzen der Zuwanderung für den deutschen Staat. Diese Aussage treibt manchen Deutschen die Zornesröte ins Gesicht: Wie kann das sein, wenn der Staat jährlich 28 Milliarden Euro für Geflüchtete ausgibt und fast die Hälfte aller Bürgergeldempfänger keinen deutschen Pass hat?
Migration verursacht zunächst Kosten – etwa durch Integrationshilfen und Sozialleistungen –, langfristig leistet Migration aber einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsleistung. Wenn Migrant*innen erwerbstätig werden, erhöht das die Wirtschaftsleistung. Mit diesem Wirtschaftswachstum steigen die Einkommen von Unternehmen und Beschäftigten, der Sozialstaat erhält zusätzliche Beiträge für Rente, Pflege und Gesundheit, und der Staat profitiert von höheren Steuereinnahmen.
Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 13. Juni 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Berechnungen basieren auf der Annahme, dass die künftige Zuwanderung ähnlich verlaufen wird wie bisher, also vor allem junge und gering qualifizierte Menschen insbesondere als Geflüchtete nach Deutschland kommen – und dass diese im Laufe der Zeit vergleichbare Arbeit zu ähnlichen Löhnen aufnehmen. Wenig überraschend liegen ihre Beschäftigungsquoten und Durchschnittslöhne unter denen der deutschen Bevölkerung. Dieser Punkt ist wichtig, denn er bedeutet, dass Deutschland auch von der Zuwanderung primär von vielen Geflüchteten mit geringen Qualifikationen langfristig finanziell und wirtschaftlich profitiert.
Als das DIW Berlin bereits vor zehn Jahren auf diesen Zusammenhang hinwies und den Beitrag von Migrantinnen und Migranten zur Finanzierung der sozialen Sicherung betonte, war der Aufschrei in bestimmten politischen Lagern groß. 2025 bestätigt die oben erwähnte detaillierte Studie von Martin Werding die Ergebnisse. Natürlich finanzieren Zugewanderte nicht allein die Sozialausgaben. Ihr Beitrag reicht auch nicht aus, um die aktuellen Defizite der sozialen Sicherungssysteme vollständig auszugleichen, aber sie mindern diese deutlich.
Anders ausgedrückt: Zwar steigen die Staatsausgaben durch Migration, doch das Wirtschaftswachstum nimmt stärker zu – sodass der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung im Jahr 2070 laut der Studie von 35 Prozent bei geringer Zuwanderung auf 32 Prozent bei höherer Zuwanderung sinkt. Wichtig: Diese Zahlen berücksichtigen, dass viele Migrant*innen dann selbst im Ruhestand sein werden und erhebliche Leistungen aus Renten-, Pflege- und Gesundheitssystem erhalten.
Was bedeutet das konkret für Wirtschaft und Gesellschaft? In den kommenden zehn Jahren werden viele Unternehmen in Deutschland scheitern oder schließen müssen, weil ihnen die Arbeitskräfte fehlen, um weiter produzieren zu können. Das betrifft auch Deutsche, die dadurch ihre Arbeit verlieren. Besonders hart trifft es strukturschwache Regionen sowie Menschen, die nicht flexibel ihren Wohnort wechseln können – also gerade viele AfD-Wählerinnen und -Wähler, die daher zu den größten Verlierern der von ihrer Partei geforderten Migrationspolitik gehören würden.
Die besten Ingenieurinnen und innovativsten Programmierer werden ihre Maschinen nicht erfolgreich auf den Markt bringen können, wenn es keine Menschen in Logistik, Verwaltung oder Vertrieb gibt, die den Prozess unterstützen.
Auch unser Alltag würde sich ohne einen deutlichen Anstieg der Zuwanderung – gerade auch von geringer qualifizierten Menschen – zum Teil dramatisch verschlechtern. Viele dieser Migrant*innen, darunter auch Geflüchtete, arbeiten in systemrelevanten Berufen. Ohne sie funktioniert weder Pflege noch Gesundheitsversorgung, weder Landwirtschaft noch Supermarktlogistik, weder Haushaltsdienstleistungen noch Reise- und Gastgewerbe.
Das hätte nicht nur spürbare Auswirkungen auf das tägliche Leben jedes einzelnen Deutschen, sondern auch gravierende wirtschaftliche Folgen. Denn selbst bei niedrigem Einkommen zahlen Migrant*innen Steuern und Abgaben. Und ohne ihre Arbeit könnten viele Deutsche gar nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sein – weil sie stattdessen Angehörige pflegen oder Kinder betreuen müssten.
Diese Beispiele verdeutlichen einen zentralen Punkt: Wir dürfen Einkommen und formale Qualifikation nicht mit gesellschaftlicher Leistung gleichsetzen. Es sind gerade die Menschen in systemrelevanten, oft schlecht bezahlten Berufen, die für unsere Gesellschaft einen überproportional hohen Beitrag leisten – wie eine DIW-Studie während der Coronapandemie gezeigt hat.
Der derzeitige Arbeitskräftemangel zählt zu den größten Gefahren für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland. Wir brauchen deutlich mehr Zuwanderung.
Die Politik aber setzt auf Abschottung: Grenzkontrollen, Leistungskürzungen und ein gesellschaftliches Narrativ, das Zuwanderung primär als Problem darstellt. Das macht Deutschland zunehmend unattraktiv, insbesondere für hoch qualifizierte Menschen.
Eine internationale Umfrage von InterNations unter hoch qualifizierten Fachkräften zeigt: Deutschland zählt in Sachen Willkommenskultur zu den unattraktivsten von 53 Ländern in der Studie weltweit. Zwar loben viele internationale Fachkräfte die Qualität der Arbeitsplätze; aber sie beklagen eine unfreundliche, teils feindliche Atmosphäre, bürokratische Hürden und große Probleme bei der Wohnungssuche und der öffentlichen Verwaltung. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass ein ungewöhnlich hoher Anteil der nach Deutschland gekommenen Fachkräfte das Land nach wenigen Jahren wieder verlässt.
Es ist nachvollziehbar, dass die Bundesregierung sich um den Schutz der EU-Außengrenzen bemüht und Migration gut steuern will. Aber der öffentliche Diskurs und die aktuelle Migrationspolitik gehen in eine völlig falsche Richtung. Leistungskürzungen, Hürden bei der Anerkennung von Qualifikationen, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und das Zurückdrehen der Einbürgerungsreform sind fatale Fehlentscheidungen.
Stattdessen brauchen wir eine Stärkung unserer offenen Gesellschaft, mehr Wertschätzung, gesellschaftliche Anerkennung und eine Bundesregierung, die durch Wort und Tat zeigt: Migrant*innen sind willkommen – als Menschen und als Mitgestaltende unseres wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens.
Themen: Europa