Deutschland braucht 400.000 Migranten – pro Jahr

Blog Marcel Fratzscher vom 3. Februar 2025

Es ist eine Wahrheit, die in diesem Wahlkampf vollkommen ausgeblendet wird. Die deutsche Wirtschaft braucht nicht weniger Migration, um zu bestehen – sondern viel mehr.

Migration ist eines der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf und wird für die nächste Bundesregierung hohe Priorität haben. Migration betrifft nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch die Integration von ausländischen Mitmenschen und Fachkräften. Ohne deutlich mehr Arbeitskräfte kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Deutschland nicht nachhaltig gesichert werden. Die neue Bundesregierung sollte sich deshalb das Ziel setzen, in den nächsten vier Jahren mindestens 1,6 Millionen ausländische Menschen in gute Arbeit in Deutschland zu bringen. Also 400.000 netto pro Jahr.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 8. Februar 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Ampelbundesregierung hat in den vergangenen beiden Jahren einen gefährlichen Kurswechsel in ihrer Migrations- und Integrationspolitik vollzogen. Sie hat die Leistungen für Geflüchtete gekürzt und mehr Abschiebungen sowie Restriktionen für die Zuwanderung angekündigt. Andere Parteien wollen noch weiter gehen. Die AfD fordert eine sogenannte Remigration, bei der nicht nur die Zuwanderung gestoppt, sondern viele vermeintlich unerwünschte Menschen mit und ohne deutschen Pass zur Ausreise gezwungen werden sollen. Friedrich Merz hat jüngst die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Falle von Straftaten gefordert und will die Reform der Staatsbürgerschaft der Ampelregierung rückgängig machen, durch die die Einbürgerung beschleunigt und die Hürden für eine duale Staatsbürgerschaft abgebaut werden.

Drei zentrale Fakten stechen in Bezug auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Zuwanderung heraus. Erstens hat Deutschland bereits heute einen riesigen Arbeitskräftemangel. Es gibt knapp 1,7 Millionen offene Stellen. Durch die Demografie werden in den nächsten zehn Jahren fünf Millionen Babyboomer mehr in Rente gehen, als junge Menschen nachkommen. Bereits heute zählt für deutsche Unternehmen der Mangel an Arbeitskräften zu den wichtigsten Problemen, neben einer schwachen Nachfrage und überbordender Bürokratie und Regulierung.

Gigantische Lücke bei Arbeitskräften

Ein gängiger Irrglaube ist, nur Hochqualifizierte – sprich: Beschäftigte mit weit überdurchschnittlichen Einkommen – seien wirtschaftlich und finanziell lohnenswerte Arbeitskräfte für Deutschland. Dies ist grundfalsch und ein Schlag ins Gesicht für jeden deutschen Beschäftigten, der hart zu mittlerem oder geringen Lohn arbeitet. Gerade in vielen systemrelevanten Berufen der Grundversorgung arbeiten Menschen mit Migrationsgeschichte und sichern die Daseinsvorsorge. Fakt ist: Jeder berufstätige Mensch trägt seinen Teil zum Unternehmen und zur Gesellschaft bei, unabhängig von der Höhe des Stundenlohns. Eine so gigantische Lücke bei den Arbeitskräften wird nicht durch die Mobilisierung deutscher Arbeitskräfte gefüllt werden können. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass Deutschland daher über das nächste Jahrzehnt eine Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften aus dem Ausland benötigt – und zwar pro Jahr.

Bürokratische Hürden schrecken Fachkräfte ab

Zweitens hat Deutschland ein riesiges ungenutztes Potenzial bei der Erwerbstätigkeit von Ausländer*innen, insbesondere derer, die bereits in Deutschland leben. Im Juni 2024 befanden sich rund 3,3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland. Obwohl die Integration in den Arbeitsmarkt der vielen Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, besser gelingt als erwartet, besteht nach wie vor großes Potenzial. Viele dieser Menschen befinden sich auch Jahre nach der Ankunft noch nicht in Beschäftigung. Dies gilt insbesondere für geflüchtete Frauen.

Häufig ist es auch der Fall, dass Menschen in Jobs tätig sind, die deutlich weniger Qualifikationen erfordern, als viele der ausländischen Mitmenschen mitbringen. Vor allem viele bürokratische Hürden, wie schleppende und intransparente Genehmigungsverfahren von Visa, schrecken viele ausländische Fachkräfte von außerhalb der EU ab, Deutschland als Zielland zu wählen.

Drittens wäre der Wirtschaftsboom der 2010er-Jahre ohne die Zuwanderung von innerhalb und außerhalb Europas nicht möglich gewesen. Ohne diese Zuwanderung hätten wir heute keinen neuen Höchststand von 46,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland, sondern seit vielen Jahren bereits schrumpfende Beschäftigtenzahlen. Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der vergangenen fünf Jahre gehen auf ausländische Arbeitskräfte zurück. 

Es gibt zahlreiche Erfolgsgeschichten bei der Integration Geflüchteter. So beträgt beispielsweise die Beschäftigungsquote bei Männern aus Syrien acht Jahre nach ihrer Ankunft knapp 90 Prozent – eine höhere Quote als die Erwerbstätigkeit unter deutschen Männern. Ausländische Mitmenschen sind zudem häufiger selbstständig tätig, was wichtige innovative Impulse gibt. Vor allem in kritischen Jobs der Daseinsvorsorge, wie der Pflege und Gesundheit, wären viele Leistungen ohne die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte heute nicht möglich.

Wenn die neue Bundesregierung das massive Arbeitskräfteproblem adressieren will, muss sie als oberste Priorität die vielen Hürden für die Erwerbstätigkeit von ausländischen Mitmenschen abbauen. Dies gilt für die Betroffenen selbst, die Unternehmen, staatliche Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes.

Abbau der Hürden auf dem Arbeitsmarkt als Priorität

Unsere europäischen Nachbarländer sind zum Teil deutlich besser darin, beispielsweise ukrainische Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch wenn solche Vergleiche schwierig sind, besteht ein breiter Konsens, dass die Hürden für die Erwerbstätigkeit vor allem von Geflüchteten in Deutschland nach wie vor hoch sind. Diese Hürden müssen dringend abgebaut werden. Dazu gehören mehr Schnelligkeit und Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen. Denn vielen Menschen aus dem Ausland und auch der deutschen Wirtschaft ist nicht geholfen, wenn ausländische Arbeitskräfte nicht in einem Beruf arbeiten können, der ihrer Ausbildung entspricht, sondern gezwungen werden, in anderen Bereichen tätig zu sein, für die sie keine oder weniger gute Qualifikationen haben.

Eine schnellere Integration in den Arbeitsmarkt erfordert auch eine bessere Integration in die Gesellschaft. Studien des DIW Berlin zeigen, dass soziale Kontakte und gute Sprachkenntnisse essenziell sind, um gut im Arbeitsmarkt anzukommen. Dies erfordert eine zügigere Unterbringung in privaten Unterkünften und einen schnelleren Zugang zu sozialen Leistungen, etwa im Gesundheitswesen. Eine andere Studie des DIW Berlin hat kürzlich gezeigt, dass die Verlängerung des Verbleibs im Asylbewerberleistungsgesetz von 18 auf 36 Monate zu größeren gesundheitlichen Schäden bei manchen Geflüchteten führt und somit auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt reduziert.

Parallele Ausbildung und Spracherwerb

Eine weitere DIW-Studie ergab jüngst, dass Maßnahmen wie die Einführung einer Bezahlkarte hauptsächlich zu einer Stigmatisierung von Geflüchteten beitragen, ohne sich merklich auf die Kosten auszuwirken. So haben im Jahr 2022 nur sieben Prozent der Geflüchteten Geld ins Ausland überwiesen, was ein zentrales Argument für die Einführung einer Bezahlkarte fraglich erscheinen lässt. Außerdem sind die häufig fehlenden Perspektiven für geflüchtete Menschen hinderlich, um in die eigene Ausbildung und Qualifizierung zu investieren.

Ein weiterer Reformbedarf besteht in einer besseren Unterstützung der vielen Unternehmen, die ausländische Mitmenschen ausbilden und beschäftigen. Die fehlende Flexibilität mancher Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramme führt zu einer hohen Abbrecherquote. Parallelstrukturen von Ausbildung, Spracherwerb und Integration sind sinnvoll, um deutlich mehr ausländische Mitmenschen schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür können auch Anreize wie Ausbildungsprämien für Unternehmen sinnvoll sein.

Ein dritter Bereich für Reformen sind die staatlichen Institutionen selbst. Bürokratische und administrative Prozesse dauern häufig zu lang, was nicht nur auf allen Seiten zu Frustration und hohen Kosten führt, sondern auch die Integration erschwert. Zudem zeigen Studien, dass Restriktionen wie Wohnsitzauflagen kontraproduktiv sein und eine höhere Erwerbsquote verhindern können.

Für qualifizierte Fachkräfte ist Deutschland kein attraktives Zielland

Der vierte Bereich betrifft die Gesellschaft als Ganzes. OECD-Studien haben ergeben, dass Deutschland insbesondere bei hoch qualifizierten Fachkräften im Ausland kein attraktives Zielland ist. Zwar bietet der deutsche Arbeitsmarkt viele gute und gut bezahlte Arbeitsplätze. Aber Deutschland hat eine im internationalen Vergleich schlechte Willkommenskultur. Vor allem hoch qualifizierte Fachkräfte in Deutschland geben an, dass eine überbordende Bürokratie, Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, Sprachbarrieren und eine geringe Offenheit Deutscher gegenüber Ausländer*innen vier konkrete und ungewöhnlich hohe Hürden für eine erfolgreiche Integration sind. Diese vergleichsweise schlechte Willkommenskultur trägt dazu bei, dass die Verweildauer von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland in Deutschland relativ gering ist und viele nach einigen Jahren weiterziehen – zum Schaden der Unternehmen und der Wirtschaft als Ganzes.

Pragmatisch, nicht ideologisch

Kritiker der Zuwanderung behaupten, dass ein solcher Abbau von Hürden einen starken Pullfaktor darstelle – wonach Deutschland als Zielland für geringer qualifizierte Zuwanderung noch attraktiver würde. Wissenschaftliche Studien unterstützen diese These jedoch nicht. Im Gegenteil: Bleiben Hürden für eine erfolgreiche Integration bestehen oder werden sogar noch verstärkt, dürfte dies den Status quo eher zementieren: Vor allem relativ gering qualifizierte Geflüchtete werden weiterhin nach Deutschland kommen, um hier entsprechend den EU-Asylbestimmungen Schutz zu suchen. Hoch qualifizierte Fachkräfte dagegen werden weiterhin einen großen Bogen um Deutschland machen und in andere, attraktivere Länder gehen.

Die Regierung soll sich verpflichten Arbeitskräfte zu integrieren

Wir sollten erkennen, dass Deutschland Gefahr läuft, einen erheblichen Teil seines wirtschaftlichen Wohlstands und seiner Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, wenn die Arbeitskräftelücke in Deutschland nicht geschlossen werden kann. Dafür müssen die genannten vier Hürden abgebaut werden.

Zudem sollte die Politik in Zukunft wieder mehr Rechenschaft für ihr Handeln ablegen. Anstelle von warmen Worten sollte die neue Bundesregierung sich konkret verpflichten, während ihrer Regierungszeit bis 2029 insgesamt 1,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies wäre ein größerer Beitrag für die deutsche Wirtschaft als die meisten Wirtschaftsprogramme oder Steuersenkungen der letzten Jahre.

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