DIW Wochenbericht 47 / 2019, S. 857-863
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„Eine echte Revolution des Steuersystems ist nur in besonderen Situationen möglich und sinnvoll, wie das vor 100 Jahren der Fall war. Seitdem hat sich das Steuersystem evolutionär weiterentwickelt.“ Stefan Bach, Studienautor
Die „Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen“ 1919/20 haben die öffentlichen Finanzen grundlegend umgestaltet. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung verdoppelte sich und stieg bis Ende des Zweiten Weltkriegs weiter. Seit den 1950er Jahren bewegt sie sich meist zwischen 22 bis 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ starteten bei hohen Einkommen- und Körperschaftsteuersätzen und Vermögensteuern, die schrittweise gesenkt wurden. Der Sozialstaat wurde ausgebaut, die Sozialbeiträge stiegen deutlich. Ab Mitte der 1970er Jahre dominierten Wachstumsschwäche und Konsolidierung die Steuer- und Finanzpolitik. In den 1980er Jahren standen angebotsökonomische Konzepte, seit Mitte der 1990er Jahre (neo-) liberale Reformagenden im Fokus. In jüngster Zeit sind Verteilungsfragen stärker in den Vordergrund gerückt. Angesichts neuer Herausforderungen – Globalisierung, Digitalisierung, gesellschaftlicher Wandel, Zuwanderung, Erneuerung der Infrastruktur und Klimaschutz – sind künftig keine substanziellen Senkungen der Steuer- und Abgabenbelastung zu erwarten.
Vor 100 Jahren entstanden in Deutschland die wesentlichen Grundlagen des heutigen Steuersystems. In einem beispiellosen Kraftakt wurden von Juli 1919 bis März 1920 die „Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen“ durchgesetzt – maßgeblich vorangetrieben durch den damaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger.Deutsche Biographie: Erzberger, Matthias (online verfügbar, abgerufen im November 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); Klaus Epstein (1976): Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Frankfurt/M u.a.: Ullstein, 373ff.
„Der Krieg ist der Verwüster der Finanzen“ – eröffnete Erzberger seine erste Rede vor der Weimarer Nationalversammlung.Matthias Erzberger (1919): Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens. 1. Rede, gehalten am 8. Juli 1919 in der Nationalversammlung zu Weimar. Berlin: Hobbing 1919 (online verfügbar). Hintergrund war die desaströse Lage der öffentlichen Finanzen nach dem Ersten Weltkrieg. Trotz (oder wegen) des extremen Zeitdrucks, der schwierigen Wirtschaftslage und des politischen Umbruchs gelang eine nahezu vollständige Umgestaltung, Modernisierung und Zentralisierung von Steuern und öffentlichen Finanzen. Dies war die einzige grundlegende Steuer- und Finanzreform, die es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bis heute gegeben hat. Wesentliche Elemente der damaligen Reform haben bis in die Gegenwart Bestand: die Grundstrukturen des Steuersystems und der Finanzverwaltung, die Abgabenordung sowie der zentralistische kooperative Finanzföderalismus.
Dieser BeitragDazu ausführlich: Stefan Bach (2018): 100 Jahre deutsches Steuersystem: Revolution und Evolution. DIW Berlin Discussion Paper 1767 (online verfügbar), veröffentlicht in: Steuer und Wirtschaft 2/2019. gibt einen Überblick zur Entwicklung von Steuersystem und Sozialbeiträgen seit den Erzbergerschen Reformen. Der Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Belastungen und deren Struktur werden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufgezeigt (Abbildung). Dazu wurden die verfügbaren historischen Zeitreihen aus Finanzstatistik und Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) aufbereitet. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wurden Schätzungen von Wirtschaftshistorikern herangezogen.Durch die regelmäßigen Revisionen und konzeptionellen Veränderungen der VGR sind die Sozialproduktrechnungen nicht als konsistente Zeitreihe verfügbar. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im Zuge größerer Konzeptänderungen systematisch gestiegen, zum Beispiel durch die bessere Erfassung von Finanzdienstleistungen, immateriellen Anlagegütern oder staatlichen Investitionen in Tiefbau und Waffensysteme. Die erweiterten Konzepte wurden jeweils nur über bestimmte Zeiträume zurückgerechnet. Dadurch fallen die Steuer- und Abgabenquoten jeweils vor 1991 und 1970 systematisch höher aus als danach, wie sich an den Brüchen in der Zeitreihe zeigt.
Vor dem Ersten Weltkrieg lag die gesamtwirtschaftliche Steuerquote, die das Steueraufkommen in Prozent des BIP misst, in Deutschland bei etwa acht Prozent.Mark Spoerer (2015): Öffentliche Finanzen. In: Thomas Rahlf (Hrsg.): Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik. Bundeszentrale für politische Bildung, 106 (online verfügbar). Zusätzlich belief sich das Aufkommen der Sozialbeiträge auf rund zwei Prozent des BIP. Die Gesetzgebungskompetenzen zur Besteuerung und die Steuereinnahmen lagen weitgehend bei den Ländern.
Mit den Erzbergerschen Reformen wurden alle wesentlichen Steuern deutschlandweit vereinheitlicht, reformiert und deren Belastungen deutlich erhöht.Vgl. zum Folgenden die zeitgenössischen Übersichten im Finanzarchiv (1920) (online verfügbar) sowie Alex Möller (1971): Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und sein Reformwerk. Blickpunkt Finanzen Heft 7. Informationshefte des Bundesministeriums für Wirtschaft und Finanzen. Bonn: Stollfuss; Hans-Peter Ullmann (2005): Der deutsche Steuerstaat: Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute. München: Beck, 101ff. (online verfügbar). Durch die Zentralisierung der Finanzverfassung und der Verwaltung fast aller Steuern auf Reichsebene verblieben den Ländern nach der Reform nur wenige Gestaltungsmöglichkeiten in der Steuerpolitik, sie wurden in einen Finanzausgleich mit dem Reich einbezogen.
Bei der Einkommensteuer galt nun ein progressiver Steuertarif mit Steuersätzen bis zu 60 Prozent, während im Kaiserreich der Spitzensteuersatz bei acht Prozent gelegen hatte. Eingeführt wurde die Körperschaftsteuer mit einem Steuersatz von 20 Prozent. Die Umsatzsteuer wurde zur allgemeinen Verbrauchsteuer ausgebaut und erhöht. Gewinnabgaben und das „Reichsnotopfer“ sollten Vermögenszuwächse abschöpfen und hohe Vermögen belasten, die Erbschaftsteuer wurde ausgeweitet und ab 1923 die Vermögensteuer erhoben.
Die Steuererhöhungen konnten zunächst die hohen Defizite kaum reduzieren und die Hyperinflation von 1923 nicht verhindern. Nach der Währungsstabilisierung sicherten sie jedoch die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote stieg bis 1925 auf 15 Prozent (Abbildung). Dies stellte im Vergleich zu den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahezu eine Verdopplung dar.Mark Spoerer (2015): a.a.O., 106. Die Aufkommensstruktur glich damals bereits der des heutigen Steuersystems: Die Grundpfeiler bilden die „indirekten“ Konsumsteuern (Umsatzsteuer, spezielle Verbrauchsteuern wie Energiesteuer, Tabaksteuer, Alkoholsteuern) auf der einen und die „direkten“ Einkommensteuern einschließlich Körperschaft- und Gewerbesteuer auf der anderen Seite. Auffällig ist, dass die vermögensbezogenen Steuern damals ein viel größeres Gewicht hatten als heute.Dies betraf Grunderwerbsteuer, Kapitalverkehrsteuern, Grundsteuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und die Gebäudeentschuldungssteuern der Länder („Hauszinssteuer“), die die Schuldnergewinne der Immobilienbesitzer abschöpften. Die sozialen Sicherungssysteme wurden in der Weimarer Republik ausgebaut, entsprechend stiegen die Sozialbeiträge auf sechs Prozent des BIP.
Durch die Weltwirtschaftskrise sank das reale BIP in den Jahren 1930 bis 1932 um 20 Prozent, Löhne und Preise sanken deutlich und die Arbeitslosenquote stieg auf 30 Prozent.Albrecht Ritschl (2002): Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre. Berlin: Akademie (online verfügbar). Im Zuge der Austeritäts- und Deflationspolitik der Präsidialkabinette ab 1930 wurden Umsatzsteuer und spezielle Verbrauchsteuern erhöht und als Krisensteuer ein Zuschlag zur Einkommensteuer eingeführt. Außerdem erhöhten die Länder und Gemeinden die Grund- und Gewerbesteuern. Im Zusammenwirken mit den konstanten Verbrauch- und Vermögensteuern stieg die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung auf über 18 Prozent des BIP (Abbildung). Erst ab 1932, als die Reparationen abgelöst wurden und die wirtschaftliche Depression zu Ende ging, wurden Steuervergünstigungen beschlossen.
Entgegen den Versprechungen auf breite Steuerentlastungen konsolidierte das NS-Regime das Steuersystem und setzte die Steuerbelastungen stringenter durch. Steuern und Finanzverwaltung wurden in den Dienst von Gewaltherrschaft, Eroberungspolitik und Völkermord gestellt.Ralf Banken (2018): Hitlers Steuerstaat: Die Steuerpolitik im Dritten Reich. Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg (online verfügbar). Die jüdische Bevölkerung und andere Minderheiten wurden sukzessive steuerlich diskriminiert und enteignet.Christiane Kuller (2013): Bürokratie und Verbrechen: Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland. München: Oldenbourg (online verfügbar).
Zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsprogrammen, Infrastrukturinvestitionen und Rüstungsprogrammen wurden ab 1936 die Steuern erhöht. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote stieg bis 1939 auf knapp 25 Prozent des BIP (Abbildung). Mit Beginn des Kriegs im Jahr 1939 wurden vor allem Einkommen- und Körperschaftsteuer weiter erhöht. Im Zuge der Kriegs- und Vernichtungspolitik stiegen Ausgaben und Verschuldung extrem an, sodass die Staatsfinanzen am Ende des Zweiten Weltkriegs komplett zerrüttet waren.
Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ starteten mit Einkommensteuer-Spitzensätzen von bis zu 95 Prozent, einem Körperschaftsteuersatz von 60 Prozent und hohen Vermögensteuern, die aus der Kriegswirtschaft übernommen wurden. Zugleich setzte man auf starke Investitionsanreize, insbesondere Abschreibungserleichterungen.Jutta Muscheid (1986): Die Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1982. Berlin: Duncker & Humblot, 24ff., 32ff.; Zoltán Jákli (1990): Vom Marshallplan zum Kohlepfennig: Grundrisse der Subventionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1948–1982. Opladen: Westdeutscher Verlag, 61ff. (online verfügbar).
Im Zuge der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung stieg das gesamtwirtschaftliche Steueraufkommen in den Jahren 1952 bis 1954 auf über 25 Prozent des BIP (Abbildung). Die öffentlichen Haushalte erzielten hohe Überschüsse, da die wachsenden Steuereinnahmen häufig unterschätzt wurden.Die damit verbundenen Kontroversen zwischen Bundesregierung und Wirtschaftsforschungsinstituten führten 1955 zur Einrichtung des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“, der bis heute besteht, Bundesministerium der Finanzen (2005): 50 Jahre Arbeitskreis „Steuerschätzungen“. Berlin, Mai 2005 (online verfügbar). Auch in den 1950er Jahren hatten die Vermögensteuern ein hohes Gewicht, was insbesondere auf die Vermögensabgaben des Lastenausgleichs zurückzuführen war. Die hohen Einkommensteuersätze wurden bis 1958 schrittweise reduziert und der Spitzensteuersatz sank auf 53 Prozent. Dennoch blieb die Einkommensteuer dominierende Steuerquelle, deren Aufkommen bis Mitte der 1960er Jahre auf 7,5 Prozent des BIP stieg. Trotz hoher nominaler und realer Einkommenszuwächse wurde der Einkommensteuertarif bis in die 1970er Jahre nur wenig angepasst. Dadurch stiegen immer mehr Steuerpflichtige in die Progressionszone des Tarifs auf. Dagegen verloren die speziellen Verbrauchsteuern und die vermögensbezogenen Steuern an Bedeutung. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung verharrte bei rund 24 Prozent des BIP während der 1960er Jahre.
Die soziale Sicherung wurde in der jungen Bundesrepublik zügig ausgebaut und die Sozialbeiträge wurden sukzessive erhöht. So stieg das Aufkommen der Sozialbeiträge bis Ende der 1950er Jahre auf über zehn Prozent und bis Ende der 1960er Jahre auf zwölf Prozent des BIP (Abbildung).
Durch das Stabilitätsgesetz 1967 und die Finanzreformen Ende der 1960er Jahre wurden Steuersystem und Finanzverfassung verstärkt zur Konjunktursteuerung eingesetzt.Jutta Muscheid (1986), a.a.O., 115ff.; Hans-Peter Ullmann (2005), a.a.O., 192ff. Dank der Hochkonjunktur in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren sprudelten zunächst die Steuereinnahmen. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote belief sich im Jahr 1974 auf rund 24 Prozent des BIP und die Sozialbeiträge auf 14 Prozent des BIP (Abbildung). Zuschläge auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer sollten Nachfrage und Inflation dämpfen.
Die Ölpreiskrisen ab 1973 läuteten das Ende des „Wirtschaftswunders“ ein. Die Arbeitslosigkeit verfestigte sich, die Haushaltsdefizite stiegen stark an und die Finanz- und Sozialpolitik ging auf Konsolidierungskurs. Die Steuerbelastungen blieben hoch und die Sozialbeiträge stiegen auf über 16 Prozent des BIP in den 1980er Jahren.
Im Zuge einer grundlegenden Reform der Umsatzsteuer wurde 1968 das Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug eingeführt. Anfang der 1970er Jahre wurde die Diskussion um eine „große“ Steuerreform wieder aufgenommen.Jutta Muscheid (1986), a.a.O., 142ff. Die weitreichenden Pläne zur Reform der Einkommensteuer, zur Gewerbesteuer oder zur vermögensbezogenen Besteuerung wurden bei der Steuerreform 1974/75 aber kaum umgesetzt. Dagegen wurde die Körperschaftsteuer ab 1977 deutlich umgestaltet. Eingeführt wurde ein Vollanrechnungsverfahren, das die Körperschaftsteuer weitgehend in die Einkommensteuer integrierte und bis 2001 bestand. Modernisiert wurde in den 1970er Jahren auch das Steuerverwaltungsrecht mit der Neufassung der Abgabenordnung.
Vor dem Hintergrund von Strukturproblemen, schwächeren Wachstumsraten und hoher Inflation („Stagflation“) setzten sich seit Ende der 1970er Jahre die Konzepte der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik durch. Diese forderten eine ordnungspolitisch ausgerichtete und wachstumsfördernde Umstrukturierung der Steuern und Abgaben. Mehrwertsteuer und spezielle Verbrauchsteuern wurden erhöht, die sozialen Sicherungssysteme durch Leistungskürzungen und Beitragserhöhungen stabilisiert. In mehreren Teilreformen und begleitet von zahlreichen Einzelmaßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage wurde bis 1990 ein linear-progressiver Einkommensteuertarif eingeführt, der die hohe Steuersatzprogression im Bereich der unteren und mittleren Einkommen verringerte und den Spitzensteuersatz senkte. Insgesamt führte die Reform zu deutlichen Steuerentlastungen, so dass die gesamtwirtschaftliche Steuerquote bis 1990 auf unter 23 Prozent fiel (Abbildung).
Seit Anfang der 1990er Jahre rückte die deutsche Einheit in den Fokus der Finanzpolitik.Dieter Vesper (2015): 25 Jahre Deutsche Einheit. Was hat die Finanzpolitik im Anpassungsprozess geleistet? Eine Bilanz. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung (online verfügbar). Im Rahmen der regionalen Gebietsförderung wurden massive Steuervergünstigungen für Sachinvestitionen in den neuen Bundesländern eingeführt, die erhebliche Steuerausfälle auslösten. Zur Finanzierung wurden Mehrwertsteuer und spezielle Verbrauchsteuern erhöht sowie der SolidaritätszuschlagIn der Abbildung fließt der Solidaritätszuschlag in das Aufkommen von Lohnsteuer, übriger Einkommensteuer und Körperschaftsteuer ein. eingeführt. Ferner stiegen die Sozialbeiträge bis 1998 auf 19 Prozent des BIP (Abbildung).
Seit den 1990er Jahren setzte das Bundesverfassungsgericht neue Akzente, indem es den Gesetzgeber zur Abschaffung erheblicher Ungleichbehandlungen und Missverhältnisse im Steuerrecht zwang. Dies betrifft die Urteile zum Kinderfreibetrag, zum Grundfreibetrag, zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte, zur Einheitsbewertung bei Vermögensteuer und Erbschaftsteuer, zur Besteuerung der Alterseinkünfte sowie später wiederum mehrfach zur Erbschaftsteuer und zuletzt zur Grundsteuer.
Mitte der 1990er Jahre erhöhten die hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Globalisierung die Bereitschaft zu größeren Steuerreformen. Die rot-grüne Regierungskoalition ab 1998 senkte den Einkommensteuer-Spitzensatz schrittweise auf 42 Prozent, strich Steuervergünstigungen und reformierte die Körperschaftsteuer grundlegend.Marc Buggeln (2018): Keine Aktion Volksbeglückung. Der Spitzensteuersatz als Politikum. Mittelweg 36 1/2018, 70ff. (online verfügbar); Stefan Bach (2008): Steuerreform: Notwendige Anpassungen vorgenommen, der große Wurf blieb aus. Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 77, 172ff. (online verfügbar). Die ökologische Steuerreform verband umwelt- und klimapolitische Lenkungsimpulse mit den Reformen des Steuer- und Abgabensystems.Stefan Bach (2009): Zehn Jahre ökologische Steuerreform: Finanzpolitisch erfolgreich, klimapolitisch halbherzig. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 14, 218–227 (online verfügbar).
Insgesamt führten diese rot-grünen Reformen zu deutlichen Entlastungen bei Steuern und Sozialbeiträgen. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote sank von 2000 bis 2005 um gut zwei Prozentpunkte des BIP (Abbildung), was im Wesentlichen auf die Entlastungen bei Einkommensteuer und Unternehmensteuern zurückzuführen war. Die Sozialbeiträge konnten durch eine starke Ausweitung der Bundeszuschüsse stabilisiert werden, die über die Erhöhungen von Mehrwert- und Energiesteuern finanziert wurden. Dadurch nahm der Anteil der indirekten Steuern am gesamten Steueraufkommen zu. Im Zusammenwirken mit der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung stiegen die Haushaltsdefizite auf deutlich über drei Prozent des BIP. Nach 2005 zog das Wachstum wieder an und die Steuerquote erhöhte sich wieder.
Ab 2003 entwickelte sich erneut eine breite Diskussion um grundlegende Reformen der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung. Besondere Aufmerksamkeit erlangten der „Bierdeckel“-Vorschlag von Friedrich MerzBeschluss B 1 des 17. Parteitages der CDU Deutschlands 2003 (2003): Ein modernes Einkommensteuerrecht für Deutschland. Zehn Leitsätze für eine radikale Vereinfachung und eine grundlegende Reform des deutschen Einkommensteuersystems (online verfügbar). und die Konzepte von Paul Kirchhof.Paul Kirchhof (Hrsg.) (2003): Einkommensteuergesetzbuch. Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer. C.F. Müller; Paul Kirchhof (2011): Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts. C.F. Müller (online verfügbar). Letztlich konnten sich diese Vorschläge jedoch nicht durchsetzen. Die vorgeschlagenen Verbreiterungen der Bemessungsgrundlagen stießen auf starken Widerstand. Ferner wären viele Steuerzahler mit hohen Einkommen durch die Steuersatzsenkungen relativ stark entlastet worden. Die möglichen Wachstumsimpulse und Steuervereinfachungseffekte wurden von der Fachwelt zurückhaltend eingeschätzt.Stefan Bach (2005): Grundlegende Reform der Einkommensbesteuerung: Inwieweit kann die Bemessungsgrundlage verbreitert und das Steuerrecht vereinfacht werden? Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 36, 523–527 (online verfügbar); Clemens Fuest, Andreas Peichl und Thilo Schaefer (2008): Is a flat tax reform feasible in a grown-up democracy of Western Europe? A simulation study for Germany. International Tax and Public Finance 15 (5), 620–636 (online verfügbar).
Nach der Bildung der großen Koalition 2005 klangen diese Diskussionen schnell ab. Statt Steuersenkungen wurde der Regelsatz der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent erhöht. Damit wurden die Sozialbeiträge stabilisiert und die Haushalte saniert. Der Einkommensteuer-Spitzensatz wurde ab dem Jahr 2007 auf 45 Prozent erhöht.
Um die Steuerbelastungen im internationalen Standortwettbewerb auf ein verträgliches Niveau zu bringen, wurden 2008 die Unternehmensteuersätze von 38 auf 30 Prozent gesenkt. Im Gegenzug wurden die Bemessungsgrundlagen verbreitert und Steuergestaltungsmöglichkeiten reduziert. Gleichzeitig wurde die Abgeltungsteuer von 25 Prozent auf Kapitalerträge eingeführt.
Auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 reagierte die Steuerpolitik mit moderaten Steuersenkungen, Abschreibungserleichterungen und Nachbesserungen der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform. Da sich die Wirtschaft schnell erholte, stiegen die Steuer- und Beitragseinnahmen wieder zügig. Seit dem Jahr 2010 setzte ein langer Aufschwung ein, der erst derzeit abklingt. Die steigenden Steuereinnahmen in Kombination mit niedrigen Zinsen konnten die Haushaltsdefizite in Überschüsse umwandeln. Durch die Politik der „Schwarzen Null“ wurden Steuersenkungen verhindert, was hohe Steuer- und Abgabenlasten vor allem bei den Mittelschichten und Besserverdienern zur Folge hatte.
Während steuersystematische Fragen zuvor vor allem ein bürgerlich-liberales Thema waren, werden sie seit der Finanzkrise von den Parteien links der Mitte unter Verteilungsgesichtspunkten aufgegriffen. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen nahm die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den 2000er Jahren spürbar zu. Mit höheren Spitzensteuersätzen, Vermögensteuer und reformierter Erbschaftsteuer sollten hohe Einkommen und Vermögen wieder stärker besteuert werden.
In der Großen Koalition ab 2013 wurde die Steuerpolitik weitgehend ausgeblendet. Da beim Einkommensteuertarif von 2011 bis 2016 nur der Grundfreibetrag angepasst wurde, die Einkommensgrenzen der Tarifzonen aber konstant blieben, stiegen Aufkommen und Belastungen durch die Progression. Auch das Unternehmensteueraufkommen wuchs deutlich aufgrund des Aufschwungs. Die speziellen Verbrauchsteuern blieben allerdings zurück, da deren Sätze kaum angepasst wurden. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung erreichte 24,3 Prozent des BIP im Jahr 2018, das Aufkommen der Sozialbeiträge 17,1 Prozent des BIP (Abbildung).
In der Großen Koalition ab 2018 einigten sich Union und SPD nur auf ein steuerpolitisches Minimalprogramm. Ab 2021 sollen die Abgeltungsteuer reformiert und der Solidaritätszuschlag nur noch für hohe Einkommen erhoben werden. Bei der Grundsteuer werden nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Besteuerungsgrundlagen erneuert.
Die „Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen“ vor 100 Jahren modernisierten Steuersystem und Finanzverfassung umfassend und schufen Grundlagen, die bis heute gelten. Auch bei Aufkommen und Belastungen markieren diese Reformen den Durchbruch des modernen Steuer- und Wohlfahrtsstaates in Deutschland. NS-Regime und Zweiter Weltkrieg erhöhten die Belastungen weiter. Seit den 1950er Jahren bewegte sich die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung in Deutschland meist zwischen 22 bis 24 Prozent des BIP. Die Sozialbeiträge stiegen dagegen deutlich auf aktuell 17 Prozent des BIP.
Auch die wesentlichen Strukturen des Steuersystems blieben seit der Nachkriegszeit recht konstant. Die tragenden Säulen des Steueraufkommens sind die indirekten Steuern mit Mehrwertsteuer und speziellen Verbrauchsteuern einerseits sowie der Einkommensteuer einschließlich der Unternehmensteuern andererseits. Seit den 1960er Jahren stieg das Aufkommen der Einkommensteuer und vor allem der Lohnsteuer. Innerhalb der indirekten Steuern erhöhte sich der Anteil der Mehrwertsteuer, während das Gewicht der speziellen Verbrauchsteuern sank. In den 1990er und 2000er Jahren wurden Energiesteuern und Mehrwertsteuer ausgeweitet, die Einkommen- und Unternehmensteuern gesenkt. Die Bedeutung der vermögensbezogenen Steuern ist seit den 1950er Jahren stark gesunken.
Die Besteuerungsgrundlagen sind komplex und wurden regelmäßig angepasst. Seit den 1950er Jahren gab es alle 15 bis 25 Jahre größere Debatten zu einer „grundlegenden Steuerreform“, die aber weitgehend versandeten. Die wesentlichen Verschiebungen wurden vom wirtschaftlichen und sozialen Wandel vorangetrieben, auf den die Steuerpolitik mit zumeist graduellen Anpassungen reagierte – Evolution statt Revolution. Größere Steuerreformen waren der Übergang bei der Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer Ende der 1960er Jahre, die Einkommen- und Körperschaftsteuerreformen der 1970er Jahre, die schrittweisen Einkommensteuerreformen von 1996 bis 2005, die Unternehmensteuerreformen 2001 und 2008 und die Ausweitung der Energiesteuern bis 2003.
In den letzten beiden Jahrzehnten standen (neo-)liberale Agenden im Vordergrund der Steuerpolitik, getrieben durch Strukturprobleme, Internationalisierung und Steuerwettbewerb. Derzeit spielen Verteilungsgesichtspunkte eine größere Rolle. Vor allem die hohen Belastungen der Arbeitseinkommen durch Sozialbeiträge und Einkommensteuer werden zunehmend als Problem gesehen, sowohl für die Verteilung als auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Zur Finanzierung von Entlastungen der breiten Bevölkerung werden aktuell Erhöhungen von vermögensbezogenen Steuern oder steigende Spitzensteuersätze vorgeschlagen.Allerdings führen schon moderate Entlastungen für breite Bevölkerungsgruppen schnell zu Steuerausfällen in Größenordnungen von 30 Milliarden Euro im Jahr, siehe Stefan Bach und Michelle Harnisch (2017): Steuer- und Abgabenreformen für die neue Legislatur: Untere und mittlere Einkommen gezielt entlasten. DIW Berlin Discussion Papers 1706 (online verfügbar); Stefan Bach, Hermann Buslei (2017): Wie können mittlere Einkommen beim Einkommensteuertarif entlastet werden? DIW Wochenbericht Nr. 20, 391–399 (online verfügbar). Zur Gegenfinanzierung werden oft höhere Steuern auf Erbschaften und Grundvermögen oder eine moderate Anhebung des Spitzensteuersatzes vorgeschlagen, vgl. Europäische Kommission (2019): Länderbericht Deutschland 2019. COM(2019) 150 final (online verfügbar); OECD (2019): Germany Economic Snapshot (online verfügbar); IMF (2019): Germany: 2019 Article IV Staff Report; and Statement by the Executive Director for Germany. July 10, 2019 (online verfügbar).
Digitalisierung, demografischer und sozialräumlicher Wandel, Zuwanderung, Erneuerung der Infrastruktur und Klimaschutz bedeuten langfristig große Herausforderungen für die öffentlichen Finanzen. Die internationale Integration von Wirtschaft und Finanzmärkten sowie die zunehmende Digitalwirtschaft erfordern Anpassungen der Besteuerungsgrundlagen, die international koordiniert werden müssen. Soweit keine größeren Einsparungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte realisiert werden, sind künftig keine substanziellen Senkungen der Steuer- und Abgabenbelastung zu erwarten.
JEL-Classification: N44;H20;H11
Keywords: History of taxation, taxation system, tax reform
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-47-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/209632