Blog Marcel Fratzscher vom 2. Dezember 2019
Wer nicht gut verdient, hat häufig keine Gelegenheit, sein Einkommen durch Mehrarbeit zu verbessern. Politik und Wirtschaft schränken die Arbeitszeiten zu sehr ein.
Dieser Beitrag ist am 29. November 2019 der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Trotz Wirtschaftsbooms und steigender Löhne sind in Deutschland viele Menschen mit Arbeit von Armut bedroht und auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Meist wird dafür die größer werdende Schere bei Löhnen, Vermögen und Chancen verantwortlich gemacht. Doch fast die Hälfte des Anstiegs der Ungleichheit bei den Arbeitseinkommen seit den Neunzigerjahren geht auf einen ganz anderen Faktor zurück, nämlich ungleiche Arbeitszeiten, wie eine Studie zeigt.
In so gut wie keinem anderen Land trägt die zunehmende Ungleichheit der Arbeitszeit stärker zur steigenden Ungleichheit der Arbeitseinkommen bei als in Deutschland. Doch die Arbeitszeit ist meist nicht das Resultat freier Entscheidungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern einer verfehlten Politik und einer noch immer festgefahrenen Mentalität in unserer Gesellschaft.
In kaum einem westlichen Industrieland ist die durchschnittliche Arbeitszeit so stark gesunken wie in Deutschland – von knapp 2.000 Stunden in den Sechzigerjahren auf wenig mehr als 1.400 Stunden pro Jahr in Vollzeit. In den letzten 30 Jahren kam ein starker Anstieg der Teilzeit hinzu. So arbeiten heute knapp 16 Millionen Menschen – von 45 Millionen Beschäftigten insgesamt – in Teilzeit.
Bis in die Neunzigerjahre hinein haben Unterschiede in der Arbeitszeit die Ungleichheit von Arbeitseinkommen reduziert, da Menschen mit geringen Einkommen häufig mehr Stunden arbeiteten als Menschen mit hohen Einkommen. Dies hat sich jedoch umgekehrt: Teilzeitjobs gehen heute mehrheitlich mit geringen Einkommen und Löhnen einher.
Mancher mag nun entgegnen, das sei lediglich das Resultat des starken Anstiegs der Erwerbsquote von Frauen in Deutschland. Dieses Argument greift jedoch aus verschiedenen Gründen zu kurz oder ist falsch. Zum einen ist es ganz und gar nicht offensichtlich, wieso Frauen schlechter bezahlt werden und schlechtere Arbeitsbedingungen haben als Männer. Deutschland hat mit 21 Prozent noch immer einen der größten Gender-Pay-Gaps Europas, wobei Frauen meist nicht schlechter ausgebildet und qualifiziert sind als Männer, sondern häufig sogar besser. Zwar sind 80 Prozent der Beschäftigten in Teilzeit Frauen, aber eben oft nicht freiwillig. Viele Frauen würden gern deutlich mehr oder sogar in Vollzeit arbeiten.
Die Vermutung, lediglich die höhere Erwerbstätigkeit von Frauen erkläre die steigende Ungleichheit der Arbeitszeit und damit der Arbeitseinkommen, ist zudem schlicht falsch. Denn die oben genannte Studie zeigt auch, dass sowohl Frauen mit hohen als auch Frauen mit niedrigen Qualifizierungen und Löhnen heute mehr arbeiten als früher. Auseinandergegangen ist die Arbeitszeitschere hingegen bei den Männern: Haben sie eine geringe Qualifizierung und erhalten niedrige Löhne, arbeiten sie heute im Durchschnitt zehn Prozent weniger pro Woche als noch vor 20 Jahren. Dagegen haben gut qualifizierte Männer mit hohen Löhnen ihre Arbeitszeit ausgeweitet.
Was erklärt die aufgehende Arbeitszeitschere, sowohl bei allen Erwerbstätigen, also auch speziell bei Männern? Ein zentraler Grund ist die Veränderung der Wirtschaftsstruktur Deutschlands: Der Anteil von Arbeitsplätzen in der Industrie nimmt ab, stattdessen gewinnen die Dienstleistungsberufe stark an Bedeutung. Es sind vor allem diese Jobs, die häufig mehr Flexibilität, aber auch geringere Stundenlöhne mit sich bringen. Hinzu kommt eine deutliche Abnahme der Tarifabdeckung bei Lohnverhandlungen, die in den Dienstleistungsbereichen deutlich geringer ist als in der Industrie.
Auch die Politik hat aktiv zu dieser Entwicklung beigetragen. Mini- und Midijobs geben Menschen häufig geringe oder keine Anreize, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Auch die schlechte Koordinierung mit den Sozialleistungen, etwa dem Wohngeld, bedeutet häufig, dass Menschen mit geringen Einkommen eine Transferentzugsrate von bis zu 80 Prozent haben, sie also kaum etwas ihres zusätzlichen Einkommens behalten dürfen, wenn sie ihre Arbeitszeit erhöhen.
Bei verheirateten Frauen gibt es Anreize, eher nicht mehr zu arbeiten, auch mit Blick auf das Steuersystem, genauer gesagt das Ehegattensplitting. Auch die noch immer mangelnde Infrastruktur bei Kitas und Ganztagsschulen führt regelmäßig dazu, dass vor allem Frauen nicht berufstätig sein können, ihre Arbeitszeit reduzieren oder zumindest nicht erhöhen können.
Doch nicht nur die Politik ist gefragt – viele Unternehmen könnten und sollten mehr tun, um vor allem Frauen den Wunsch nach mehr Arbeitszeit zu erfüllen. Das Gesetz zur Brückenteilzeit, dass Frauen in den ersten fünf Jahren ein Recht auf Rückkehr in Vollzeit gibt und das 2018 vom Bundestag verabschiedet wurde, ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Es wird aber nur wenig bewirken, wenn sich nicht deutlich mehr Unternehmen generell zur Rückkehr in Vollzeit und zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie verpflichten und dementsprechend handeln.
Die hohe Ungleichheit bei der Arbeitszeit ist für Familien, Kinder und den Sozialstaat von erheblicher Bedeutung. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) zeigt, dass trotz Wirtschaftsbooms und steigender Löhne die Anzahl der Menschen, die heute auf Hartz IV angewiesen sind, seit 2012 nicht weiter gesunken ist. Mehr noch, die Anzahl der sogenannten Aufstocker, also derer, die Arbeit, aber nicht genug zum Leben haben und deshalb auf staatliche Leistungen angewiesen sind, bleibt weiterhin hoch.
Vor allem Kinder sind davon stark betroffen – mehr als eines von sieben Kindern in Deutschland lebt heute in einem Hartz-IV-Haushalt. Fast jede vierte Alleinerziehende ist auf Hartz IV angewiesen – dies sind meist Mütter, die in Teilzeit arbeiten, sofern sie überhaupt eine Tätigkeit finden können. Dies ist das wirkliche Armutszeugnis Deutschlands.
Teilhabe und Chancen in unserer Gesellschaft zu verbessern und den Menschen mehr Eigenverantwortung zu geben, erfordert, ihnen auch mehr Zeitsouveränität zu ermöglichen. Das bedeutet konkret für den Arbeitsmarkt, dass Menschen nicht nur Arbeit finden, sondern dass sie auch ausreichend viele Stunden arbeiten können. Der Staat legt den Menschen – vom Ehegattensplitting, fehlenden Ganztagsschulen bis hin zu Minijobs – zu viele Hürden in den Weg. Und auch wir als Gesellschaft müssen dahingehend endlich einen Mentalitätswandel vollziehen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Bildung , Familie , Gender