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European Green Deal: Mit ambitionierten Klimaschutzzielen und erneuerbaren Energien aus der Wirtschaftskrise

DIW Wochenbericht 28 / 2020, S. 499-506

Karlo Hainsch, Leonard Göke, Claudia Kemfert, Pao-Yu Oei, Christian von Hirschhausen

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  • Klimaneutralität des European Green Deal und Pariser Klimaschutzabkommen erfordern 65 statt 40 Prozent Emissionsreduktion bis 2030 gegenüber 1990
  • Zielerreichung bedarf 100 Prozent erneuerbarer Energien, also Verzicht auf Atomenergie, Kohle, Erdgas und Erdöl
  • Modellrechnungen zeigen hohen Investitionsbedarf für Erneuerbare und Energieeffizienz, aber auch große Einsparungen durch vermiedene Rohstoffimporte
  • Gelder aus EU-Fonds und Konjunkturprogrammen sollten an Maßnahmen zu Klimaneutralität und Erneuerbare geknüpft werden
  • Deutscher EU-Ratspräsidentschaft kommt besondere Bedeutung bei Verknüpfung von Klimaschutz und Konjunkturerholung zu

„ Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Konjunkturaufschwung und Klimaschutz. Dazu muss sie dafür sorgen, dass die umfangreichen Konjunkturpakete, die gegen die Folgen der Corona-Pandemie geschnürt wurden, im Rahmen des European Green Deal für Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz genutzt werden.“ Christian von Hirschhausen

Der von der EU-Kommission angestoßene European Green Deal, ein Maßnahmenpaket zur Dekarbonisierung und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, sieht Klimaneutralität in der EU bis zum Jahr 2050 vor. Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Emissionsreduktionsziel bis 2030 (im Vergleich zu 1990) von 40 auf rund 65 Prozent erhöht werden, wie die vorliegenden Modellberechnungen zeigen. Notwendig ist dafür eine vollständige Umstellung des fossilen und atomaren Energiesystems auf 100 Prozent erneuerbare Energieträger. Gegenüber der aktuellen Entwicklung könnten somit über 60 Milliarden Tonnen CO2 eingespart werden. Dazu müssen umfangreiche Investitionen getätigt werden, für die die derzeit aufgesetzten nationalen und EU-weiten Konjunkturpakete eine gute Grundlage bilden. Der Investitionsbedarf für erneuerbare Energien beläuft sich auf etwa 3000 Milliarden Euro; dem stehen allein knapp 2000 Milliarden Euro Ersparnis durch vermiedene Importe fossiler Energieträger gegenüber. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor der Herausforderung, die Mitgliedsländer zu einer gemeinsamen Umsetzungstrategie des Green Deal im Rahmen der Konjunkturprogramme zu bewegen.

Im Dezember 2019 hat die Europäische Kommission ein Konzept für einen European Green Deal vorgelegt, der nun nach und nach ausgestaltet werden soll. Dieses Maßnahmenpaket soll Europa bis 2050 zu einem nachhaltigen, also klimaneutralen und zirkulären Wirtschaftssystem führen.infoMitteilung der Europäischen Kommission (2019): Der europäische Grüne Deal. COM(2019) 640 final (online verfügbar, abgerufen am 17. Juni 2020. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Dabei spielen Aspekte einer fairen Verteilung von Gewinnen und Lasten eine besondere Rolle, die Solidarität sowohl zwischen den Mitgliedsländern als auch zwischen stärker und weniger belasteten Regionen voraussetzt. Im Mittelpunkt des Green Deal stehen somit Maßnahmen, die die Bedeutung von Umwelt- und Klimaschutz für die Innovations- und Wirtschaftskraft der EU und ihrer Mitgliedsländer auf dem Weg zur Klimaneutralität stärken. Aufgeteilt sind sie in Bereiche wie „nachhaltiger Verkehr“, „saubere, zuverlässige und bezahlbare Energie“ und eine nachhaltige Landwirtschaftspolitik („Vom Hof auf den Tisch“). Die Konjunkturpakete, die als Reaktion auf die Corona-Pandemie verabschiedet werden, bieten die Chance, die geplanten Investitionsmaßnahmen mit Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des European Green Deal zu verknüpfen.

Der folgende BerichtinfoDieser Wochenbericht basiert auf der Studie von Karlo Hainsch et al. (2020): Make the European Green Deal Real – Combining Climate Neutrality and Economic Recovery. DIW Politikberatung kompakt 153 (online verfügbar). Der Wochenbericht kombiniert somit Forschungsergebnisse aus zwei laufenden europäischen H2020 Projekten („OpenEntrance“ und „OSMOSE“) sowie zwei Projekten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung („CoalExit“ und „Future of Fossil Fuels – FFF“). stellt ausgewählte Politikfelder des European Green Deal vor, die entscheidende Beiträge auf dem Weg zur Klimaneutralität leisten, insbesondere die Energiewirtschaft, die derzeit rund 55 Prozent der Treibhausgas-Emissionen produziert, die Verkehrswirtschaft (rund 25 Prozent) sowie die Industrie (rund zehn Prozent); damit sind knapp 90 Prozent der CO2-Emissionen abgedeckt.infoLediglich die Landwirtschaft als großer Sektor, auch ein wichtiger Baustein des European Green Deal, der in den nächsten Jahren Emissionen senken muss, ist im Energiemodell nicht abgebildet und wird hier nicht diskutiert.

Dieser Bericht geht anhand von Analysen auf Basis der Energiesystemmodelle GENeSYS-MOD und anyMOD (Kasten) der Frage nach, ob die sektoralen Maßnahmen des European Green Deal ausreichend sind, um die Dekarbonisierung zu erreichen. Zudem wird berechnet, inwieweit Investitionspotentiale, eingesparte Rohstoffimporte sowie erheblich verringerte Umwelt- und Klimakosten gesamtwirtschaftlich zu Buche schlagen.

Im Rahmen einer Studie zum European Green Deal erfolgte am DIW Berlin in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen eine detaillierte, modellbasierte Analyse der Klimaschutzszenarien sowie makroökonomischer Implikationen im Zusammenhang mit dem Green Deal.infoVgl. Karlo Hainsch et al. (2020): Make the European Green Deal Real – Combining Climate Neutrality and Economic Recovery. DIW Politikberatung kompakt 153 (online verfügbar). Um kosteneffiziente Pfade für die Entwicklung des Energiesystems bis 2050 zu ermitteln, wurde hierfür auf zwei verschiedene energiewirtschaftliche Modelle zurückgegriffen: Die Sektoren Strom, Verkehr, Wärme und Industrie, also alle Sektoren mit Ausnahme der Landwirtschaft, werden durch das Energiesystemmodell GENeSYS-MOD abgedeckt. Hierdurch werden durch die Transformation des Energiesystems induzierte Wechselwirkungen, wie beispielsweise die zunehmende Nutzung erneuerbaren Stroms im Verkehrs- oder Wärmesektor, abgebildet.

Aufbauend auf diesen Ergebnissen wird der Stromsektor, dem durch die zunehmende Elektrifizierung eine Schlüsselrolle zukommt, näher betrachtet. Zu diesem Zweck kommt ein mit anyMOD erzeugtes Modell zur Anwendung, das eine stundenscharfe Abdeckung der Nachfrage nach Strom und strombasierten Brennstoffen garantiert. Hierfür werden die notwendigen Investitionen in Anlagen zur Erzeugung, Speicherung und zum Transport von Strom noch einmal gesondert berechnet. Beide Rechnungen werden länderscharf für die Europäische Union (mit Ausnahme von Malta und Zypern, zuzüglich der Türkei, Norwegen, Schweiz, Großbritannien und, als eine Region zusammengefasst, der nicht-EU-Staaten auf dem Balkan) durchgeführt.

GENeSYS-MOD ist ein in der Wissenschaft und der Politikberatung gut eingeführtes Analysemodell und wird in einer Vielzahl europäischer und anderer Projekte verwendet.infoVgl. Thorsten Burandt et al. (2018): GENeSYS-MOD v2.0 – Enhancing the Global Energy System Model. DIW Data Documentation 94 (online verfügbar); Pao-Yu Oei et. al (2020): Lessons from Modeling 100 % Renewable Scenarios Using GENeSYS-MOD. Economics of Energy & Environmental Policy 9 (1) (online verfügbar). Das anyMOD-Framework wurde in den vergangenen Jahren entwickelt, um Ansätze der Energiesystem- und der Stromsektormodellierung zu verbinden.infoVgl. Leonard Göke (2020): anyMOD – A graph-based framework for energy system modeling with high levels of renewables and sector integration. Working Paper (online verfügbar). Als open source tool ist anyMOD online verfügbar. Die Entwicklung von anyMOD wurde unter anderem im Rahmen des Horizon-2020-Programm der Europäischen Union unter Grant Nr. 773406 („OSMOSE“) gefördert. Im Gegensatz zu bestehenden Ansätzen nutzt anyMOD einen graphbasierten Ansatz, der zwei besondere Eigenschaften ermöglicht: Zum einen kann der zeitliche und räumliche Detailgrad je nach Energieträger variiert werden. Dadurch kann die Modellgröße deutlich reduziert werden und gleichzeitig lassen sich bestimmte, dem Energiesystem inhärente Flexibilitäten abbilden. Zum anderen ist die vom Kontext abhängige Substituierbarkeit von Energieträgern darstellbar. Dadurch können die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Technologien und Energieträger, die in einem integrierten Energiesystem denkbar sind, präziser dargestellt werden.

Klimaneutralität bis 2050 erfordert strengere Ziele für 2030 und danach

Zwischen den verschiedenen EU-Gremien wird derzeit über die Anhebung der Klimaschutzziele für das Jahr 2030 diskutiert. Berücksichtigt werden müssen dabei sowohl die von der EU vereinbarte Klimaneutralität bis 2050 als auch das Pariser Klimaschutzabkommen. Die Verschärfung der Klimaschutzziele ist auch Teil der Langfriststrategie 2050, mit der sich die EU in den weltweiten Prozess der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) einbringt, die nach der Verschiebung vom November 2020 nunmehr im November 2021 in Glasgow stattfindet.

Zwar herrscht in den beteiligten europäischen Gremien (Kommission, Parlament, Rat) ein Konsens, das derzeitige Ziel von 40 Prozent Treibhausgas-Emissionsreduktion bis 2030 gegenüber 1990 signifikant zu steigern. Jedoch ist die Höhe dieser Steigerung als auch die anschließende Verteilung auf die Mitgliedsstaaten („effort sharing“) umstritten. Das von der Kommission angestoßene Impact-Assessment (Folgenabschätzung) ist derzeit auf eine Steigerung auf 50 bis 55 Prozent ausgerichtet. Dagegen reichen die Vorschläge verschiedener Fraktionen im EU-Parlament für die Überarbeitung des Klimaschutzgesetzes, das im Herbst 2020 verabschiedet werden soll, bis 65 Prozent.infoVgl. Aleksandar Zaklan et al. (2020): Obergrenze für Emissionen im europäischen Emissionshandel muss schneller sinken: Potenziale dafür sind vorhanden. DIW Wochenbericht Nr. 27 (online verfügbar, abgerufen am 1. Juli 2020), in dem besonderes Gewicht auf den Beitrag des European Emission Trading System (ETS) gelegt wird. Sowie Pao-Yu Oei et al. (2019): Neues Klima für Europa: Klimaschutzziele für 2030 sollten angehoben werden. DIW Wochenbericht Nr. 41 (online verfügbar). Ab Juli hat nun Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Damit verbindet sich die Herausforderung, die EU-Mitgliedsländer zu einer gemeinsamen Strategie zur Umsetzung des Green Deal im Rahmen der Konjunkturprogramme zu bewegen.

Szenarien und Berechnungen: Großteil der Emissionsreduktion muss bis 2040 erfolgen

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie die Klimaziele erreicht werden können. Dazu werden in einer Modellanalyse die Klimaschutzziele des Pariser Klimaschutzabkommens in einen damit kompatiblen Energiemix (genannt Paris-Szenario) übersetzt.infoDas Paris-Szenario basiert auf dem Szenario „Societal Commitment“, das im laufenden Projekt „openENTRANCE“ innerhalb des European Union's Horizon 2020 entwickelt wurde. Die hier gezeigten Ergebnisse spiegeln keinen Projektoutput von „openENTRANCE“ wider. Dieses ambitionierte Klimaschutzszenario wird einem Basisszenario gegenübergestellt, in dem die gegenwärtige Klimaschutzpolitik fortgeschrieben wird (genannt BAU-Szenario, business as usual).

Dem Basisszenario zufolge werden die Treibhausgasemissionen um lediglich 40 Prozent bis 2030 und um 80 Prozent bis 2050 reduziert. Im Klimaschutzszenario wird dagegen eine erhebliche Steigerung der Energieeffizienz, Elektrifizierung und gewisser Verhaltensanpassungen angenommen, die zu einer Verringerung des Primärenergiebedarfs führen (Abbildung 1). Aufgrund der sehr hohen Investitionskosten wird in Europa kein Atomkraftwerk mehr gebaut. Ebenso stellt sich die Entwicklung von CO2-Abscheidung, -Transport und -Speicherung (CCTS) in Kraftwerken als unrentabel dar. Dies hat zur Folge, dass neben der Kohle auch das fossile Erdgas aus dem Energieträgermix verschwindet. In den 2040er Jahren ergibt sich daher eine vollständige Umstellung des Energiesystems auf erneuerbare Energien, die sich als kostengünstigste Lösung durchsetzen.infoIm Bereich der stofflichen Nutzung von fossilen Energieträgern, wie beispielsweise in der Zementindustrie, wurde im Rahmen dieser Analyse die Entwicklung alternativer Technologien angenommen, sodass auch hier auf die Abscheidung von CO2 verzichtet werden kann.

Die Modellergebnisse legen nahe, dass, um die Pariser Klimaziele zu erreichen, die Emissionsreduktion bis 2030 auf 60 bis 65 Prozent gesteigert werden muss und alle Emissionen in den 2040er Jahren auf null zurückgehen müssen (Abbildung 2). Insgesamt werden im Beobachtungszeitraum von 2015 bis 2050 weniger als halb so viele CO2-Emissionen ausgestoßen wie im BAU-Szenario. Diese Differenz (rund 60 Milliarden Tonnen CO2) entspricht Einsparungen von Umwelt- und Klimakosten von vielen Tausenden Milliarden Euro.infoHierbei werden die globalen Umwelt-, Klima- und Gesundheitskosten von 180 Euro pro Tonne CO2 berechnet, die durch die Emission von Kohlenstoffdioxid entstehen. Vgl. Umweltbundesamt (2019): Methodenkonvention 3.0 zur Ermittlung von Umweltkosten – Kostensätze Stand 02.2019. Dessau-Roßlau (online verfügbar).

Die Ergebnisse ähneln den Szenarien und Handlungsempfehlungen anderer Organisationen, die sich mit der zukünftigen Ausrichtung der europäischen Klimapolitik beschäftigen: Hier ist beispielsweise das PAC-Projekt („Paris-Agreement-Compatible Scenarios for Energy Infrastructure“) zu nennen, das derzeit mit einer Vielzahl von Stakeholdern Grundlagen für eine zukünftige, an 100 Prozent Erneuerbaren orientierte europäische Infrastrukturplanung erarbeitet.infoVgl. CAN Europe and EEB (2020): Paris Agreement Compatible (PAC) – Scenarios for Energy Infrastructure (online verfügbar). Auch das in der Studie „EU-ETS“ des Umweltbundesamts verwendete POLES-Enerdata-Modell kommt zu einem Energiemix, dessen Emissionen mit dem Pariser Klimaschutzziel kompatibel sind; allerdings werden dort noch erhebliche Mengen von Atomkraft eingesetzt.infoVgl. Zaklan et al. (2020), a. a. O. Übereinstimmend empfehlen verschiedene Studien verstärkte Anstrengungen zur effizienteren Energienutzung und einen erheblichen Ausbau der erneuerbaren Energien.infoVgl. Solar Power Europe und LUT University (2020): 100% Renewable Europe – How to Make Europe’s Energy System Climate-Neutral Before 2050. Brüssel (online verfügbar); Climact (2020): Increasing the EU’s 2030 emissions reduction target (online verfügbar); acatech (2020): Energiewende 2030: Europas Weg zur Klimaneutralität (online verfügbar).

Konjunkturschub durch nachhaltige Investitionen und Einsparungen von fossilen Importen

Die Modellergebnisse weisen darauf hin, dass erhebliche Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien notwendig sind, um das Paris-Szenario umzusetzen. Die derzeit geplanten Investitionsprogramme können hier Anschubfunktion leisten. Der Investitionsbedarf für erneuerbare Energien beläuft sich auf rund 3300 Milliarden Euro (ohne Netzinfrastruktur und Lastmanagement). Hinzu kommt weiterer Investitionsbedarf für Energieeffizienz und Sektorenkopplung. Dem stehen alleine knapp 2000 Milliarden Euro Einsparungen durch den Wegfall von Erdöl- und Erdgasimporten gegenüber.

Konkrete Maßnahmen zur Energiesystemwende beinhalten Anreize für private energetische Gebäudesanierung, die Steigerung der nationalen Ausbauziele für Erneuerbare, eine Solarprämie für private Haushalte, sowie Förderung von Fahrradinfrastruktur, Schienenverkehr und öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV).infoVgl. zu konkreten Maßnahmen aktuelle Veröffentlichungen des DIW Berlin, u. a. Stefan Bach et al. (2020): Sozial-ökologisch ausgerichtete Konjunkturpolitik in und nach der Corona-Krise. DIW Politikberatung kompakt 152 (online verfügbar); Heike Belitz et al. (2020): Mit Investitionen und Innovationen aus der Corona-Krise. DIW Wochenbericht Nr. 24, 446–447 (online verfügbar).

Energieträgermix: Klimaneutralität bedeutet raschen Kohle- und Erdgasausstieg

Die Modellergebnisse zeigen, dass das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 nur erreicht werden kann, wenn die Energieversorgung zu 100 Prozent auf Erneuerbare umgestellt wird. Der Ausstieg aus fossilen Energieträgern, nicht nur Kohle, sondern auch fossilem Erdgas und fossilem Erdöl, muss demnach alsbald erfolgen, um das verfügbare Emissionsbudget nicht zu überziehen: Die nationalen Pläne zum Kohleausstieg sollten dementsprechend beschleunigt werden, unter anderem in Deutschland.infoVgl. Martin Kittel et al. (2020): Scenarios for Coal-Exit in Germany – A Model-Based Analysis and Implications in the European Context. Energies 13 (8), 2041 (online verfügbar); Pao-Yu Oei et al. (2020): Klimaschutz statt Kohleschmutz: Woran es beim Kohleausstieg hakt und was zu tun ist. DIW Politikberatung kompakt 148 (online verfügbar). Zum Ausstieg aus fossilem Erdöl führt insbesondere die Elektrifizierung des Verkehrs und das Ende des Verbrennungsmotors in Europa. Neben batterieelektrisch betriebenen Autos nimmt auch der Anteil des Bahnverkehrs stark zu.

Darüber hinaus ist ein rascher Erdgasausstieg klimapolitisch notwendig und energiewirtschaftlich unproblematisch. Biochemische Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass das globale Erwärmungspotential (global warming potential, GWP) von fossilem Erdgas (Methan, CH4) wesentlich höher ist als bisher angenommen: Die Klimawirksamkeit ist mit dem Faktor 86 bis 105 anzusetzen, das heißt, Erdgas ist rund hundertmal klimaschädlicher als CO2. Dagegen rechnen der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UN und andere Organisationen noch mit einem wesentlich niedrigeren GWP-Wert von 25.infoVgl. Drew T. Shindell, et al. (2009): Improved Attribution of Climate Forcing to Emissions. Science 326 (5953): 716–18 (online verfügbar); Robert W. Howarth (2015): Methane Emissions and Climatic Warming Risk from Hydraulic Fracturing and Shale Gas Development: Implications for Policy. Energy and Emission Control Technologies 3, 45–54 (online verfügbar), sowie Robert W. Howarth (2019): Ideas and Perspectives: Is Shale Gas a Major Driver of Recent Increase in Global Atmospheric Methane? Biogeosciences 16 (15), 3033–3046 (online verfügbar). Bei der CO2-Abscheidung, -Transport und -Speicherung (CCTS) im Kraftwerkssektor ist ein Durchbruch bisher weder technisch noch ökonomisch absehbar, obwohl die Branche schon seit mehr als zehn Jahren darauf setzt.infoVgl. Christian von Hirschhausen, Johannes Herold und Pao-Yu Oei (2012): How a ‘Low Carbon’ Innovation Can Fail—Tales from a ,Lost Decade’ for Carbon Capture, Transport, and Sequestration (CCTS). Economics of Energy & Environmental Policy 1(2), 2160–5890 (online verfügbar); Christian von Hirschhausen und Fabian Präger (2020): Fossil Natural Gas Exit—A New Narrative for the European Energy Transformation towards Decarbonization. DIW Discussion Paper (im Erscheinen).

In den verwendeten Energiesystemmodellen geht der Verbrauch von Erdgas in der EU bis 2030 gegenüber 2015 um fast die Hälfte zurück; in den 2040er Jahren wird kein Erdgas mehr benötigt. Laut Modell werden maximal zehn Prozent der vormaligen Infrastrukturkapazität für Erdgastransport benötigt.infoVgl. Karlo Hainsch et al. (2020), a. a. O. In diesem Zusammenhang ist die Subventionierung fossiler Erdgasinfrastruktur, die derzeit im Rahmen transeuropäischer Projekte vorgesehen ist, kontraproduktiv.infoVgl. European Commission (2019): Commission Delegated Regulation C(2019)7772 final inklusive der ausführlichen Liste der zu fördernden Projekte in Commission Delegated Regulation (EU) amending Regulation (EU) No 347/2013 of the European Parliament and of the Council as regards the Union list of projects of common interest/SWD(2019) 395 final (online verfügbar).

Atomkraft ist unter Einbeziehung aller anfallenden Kosten die teuerste Energieerzeugungstechnologie und kommt daher in den kostenminimierenden Modellrechnungen nicht zum Zuge. Selbst Laufzeitverlängerungen lassen sich nicht wirtschaftlich durchführen.infoVgl. Claudia Kemfert et al. (2017): Atomkraft für Klimaschutz unnötig – Kostengünstigere Alternativen sind verfügbar. DIW Wochenbericht Nr. 47, 1049–1058 (online verfügbar). In der hier vorgenommenen Energiesystemoptimierung geht die Atomkraft daher bis 2030 um die Hälfte der aktuellen Kapazitäten zurück und geht in den 2040er Jahren vollständig vom Netz. Der Rückbau großer Mengen an stillgelegter Atomkraftwerke sowie die Suche nach nationalen Endlagerstandorten für radioaktive Abfälle verursachen hingegen hohe Kosten.

Vollversorgung mit erneuerbaren Energien …

Die Modellergebnisse zeigen, dass der Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien die günstigste Alternative darstellt – schon allein wegen der vermiedenen Umwelt- und Klimakosten. Der damit verbundene Trend zur Elektrifizierung wird allerdings trotz rückläufigem Endenergieverbrauch die Stromnachfrage steigern: Sie verdoppelt sich den Berechnungen zufolge von heute rund 4 500 auf rund 9 000 Terawattstunden (TWh) jährlich bis 2050 in der EU. Ersetzt werden die rückläufigen Anteile fossiler und nuklearer Stromerzeugung vor allem durch Onshore-Wind und solare Photovoltaik. Bei der Annahme weiterhin stark fallender Kosten und weitläufiger Verfügbarkeit nimmt die Photovoltaik insbesondere ab 2030 europaweit stark zu. Neben Südeuropa kann auch in nördlichen Ländern wie Deutschland und Polen kostengünstig solarer Strom produziert werden. Auch Onshore-Wind ist eine kostengünstige Option und trägt im Paris-Szenario 2050 etwa ein Drittel zur Stromerzeugung bei. Offshore-Wind spielt insbesondere in den Nordseeanrainerstaaten eine gewisse Rolle, der Beitrag hängt jedoch von Annahmen zu künftigen Kostenentwicklungen ab.

Im ambitionierten Klimaschutzszenario muss eine intensive Sektorenkopplung erfolgen, um die Ziele gesamtsystemisch kostengünstig zu erreichen. Dies führt unter anderem im Verkehrssektor zu einem Umbau von fossiler Verbrennungstechnologie zu elektrischen Antrieben, vor allem im Personenverkehr. Darüber hinaus spielen auch Biokraftstoffe sowie Wasserstoff eine gewisse Rolle. Auch der Wärmesektor kann in Richtung 2050 auf erneuerbare Energien umgestellt werden: Im Niedrigtemperaturbereich (Raumwärme) setzen sich weitgehend elektrische Wärmepumpen durch. Im Hochtemperaturbereich (vor allem Industrie) wird auch ein gewisser Anteil an Bioenergie und synthetischen Kraftstoffen benötigt.

… und es bleibt dennoch hell und warm

Sorgen, dass eine Umstellung auf Erneuerbare die Strom- und Energienachfrage nicht decken kann, sind den Ergebnissen der auf anyMOD basierenden stundenscharfen Berechnungen (Kasten) zufolge unbegründet. Allerdings sind hierfür Investitionen in direkte Stromspeicher, beispielsweise Batterien, und zur indirekten Speicherung mit Wasserstoff durch Elektrolyse und entsprechende Turbinen notwendig.

Die stundenscharfe Analyse des Energiesystems wurde gleichzeitig für sämtliche europäischen Länder durchgeführt. Exemplarisch soll hier auf die Deckung des Strombedarfs in Frankreich in einer repräsentativen Winterwoche im Jahr 2040 eingegangen werden (Abbildung 3 oben). Neben Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien spielen Importe und Speicher eine bedeutende Rolle. Batterien dienen dabei vor allem der kurzfristigen Speicherung und werden eingesetzt, wenn die Erzeugung aus Solaranlagen gering ist. Da die Erzeugung und Rückverstromung von Wasserstoff technisch deutlich aufwendiger als die direkte Nutzung vorhandener Energieträger ist, wird diese Option erst dann genutzt, wenn die erneuerbare Erzeugung besonders gering ist, wie beispielsweise gegen Ende des dargestellten Zeitraums. Befürchtungen, die Transformation würde an fehlenden Speichertechnologien scheitern, sind unbegründet.infoVgl. hierzu frühere Veröffentlichungen des DIW Berlin, beispielsweise Alexander Zerrahn, Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018): On the Economics of Electrical Storage for Variable Renewable Energy Sources. European Economic Review 108 (September), 259–279 (online verfügbar) sowie Wolf-Peter Schill et al. (2018): Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern. DIW aktuell Nr. 11 (online verfügbar).

Auch eine wichtige Rolle zum Ausgleich lokaler Fluktuationen spielt der Stromhandel im Rahmen des europäischen Übertragungsnetzes. Entsprechend der Sektorenkopplung nimmt die Spitzenlast stark zu (Abbildung 3 unten). Insgesamt zeigen die Analysen, dass selbst in vormals stark fossil-nuklear geprägten Ländern wie Frankreich und Polen ein sicherer Betrieb des Energiesystems mit 100 Prozent erneuerbarer Versorgung in den 2040ern möglich ist.infoFür eine Analyse Polens vgl. Karlo Hainsch et al. (2020), a.a.O, 22.

Finanzierung des Strukturwandels über EU-Fonds

Ein dritter Baustein neben Klimaneutralität und erneuerbaren Energien ist die Finanzierung des European Green Deal, da in den verschiedenen EU-Ländern unterschiedliche Voraussetzungen bestehen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat betont, dass Solidarität ein integraler Bestandteil des European Green Deal ist. Niemand werde zurückgelassen. Dies muss nun auf nationaler und subnationaler Ebene zum Tragen kommen.

Auf nationaler Ebene hat die Verschärfung der EU-Klimaschutzziele im Rahmen des Green Deal unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Mitgliedsstaaten. Während der Ausstieg aus der Kohlenutzung, beispielsweise im Vereinigten Königreich, bereits weitgehend abgeschlossen ist und in anderen Ländern wie Deutschland bereits aktiv umgesetzt wird, stehen Länder wie Polen, Rumänien und Bulgarien noch inmitten des Strukturwandels. Diese Länder sollten einen Kohleausstiegspfad im Sinne der Planungssicherheit und der Vermeidung von Fehlinvestitionen („stranded assets“) umgehend vorlegen, der die Klimaschutzziele einhält und den Regionen neue Perspektiven aufzeigt. Ähnliche Veränderungen stehen neben der Kohlewirtschaft perspektivisch auch anderen emissionsintensiven Industrien bevor und müssen daher bereits jetzt angestoßen werden.

Die EU hat hierfür einen Fonds zur Unterstützung des Strukturwandels aufgesetzt: Der „Just Transition Fund“ (JTF) ist mit 7,5 Milliarden Euro dotiert und soll – zusammen mit dem Regionalfonds und dem Fonds für sozialen Zusammenhalt – erhebliche öffentliche und private Mittel zur Förderung des Strukturwandels mobilisieren.infoVgl. Bruegel (2020): A Just Transition Fund—How the EU budget can best assist in the necessary transition from fossil fuels to sustainable energy (online verfügbar). Es muss besonders darauf geachtet werden, dass die Gelder in zukunftsfähige klimaneutrale Projekte laufen und nicht für die faktische Stabilisierung fossiler Entwicklungspfade genutzt werden, zum Beispiel durch Mittel für CO2-Abscheidungstechnologien in Großkraftwerken. Darüber hinaus gibt es laufende Versuche, die Mittel aus dem Fonds zur Finanzierung von Atomkraft zu nutzen, was dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung zuwider liefe.infoVgl. die Stellungnahme der FORATOM vom 24. März 2020 (online verfügbar).

Fazit: Deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte Klimaschutz und Umstellung auf 100 Prozent Erneuerbare vorantreiben

Der European Green Deal bietet eine Vielzahl von Ansatzpunkten zur Überwindung der aktuellen Wirtschaftskrise. Energiewirtschaftliche Modellrechnungen zeigen, dass eine klimaneutrale Wirtschaft bis spätestens 2050 sowie die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens kostengünstig durch eine vollständige Umstellung des fossil-atomaren Energiesystems auf 100 Prozent erneuerbare Energieträger erreicht werden kann.

Neben dem Kohleausstieg in den 2030er Jahren bedeutet dies auch einen raschen Ausstieg aus Erdöl und Erdgas. Atomkraft und CO2-Abscheidetechnologie sind übermäßig teuer, behindern die nachhaltige Dekarbonisierung und sind energiewirtschaftlich nicht notwendig. Anstatt den Ausbau von Erdgaspipelines und Flüssiggasterminals (LNG) zu subventionieren, kann diese fossile Infrastruktur, für die im erneuerbaren System kein Bedarf mehr besteht, schrittweise zurückgebaut werden.

Das Klimaschutzziel für 2030 muss von derzeit 40 Prozent gegenüber 1990 auf 60 bis 65 Prozent angehoben werden. Der Investitionsbedarf insbesondere für erneuerbare Energien beläuft sich auf etwa 3 000 Milliarden Euro; hinzukommen weitere Investitionen für Energieeffizienz und Sektorenkopplung. Dem stehen knapp 2 000 Milliarden Euro Ersparnis durch vermiedene Importe fossiler Energieträger gegenüber. Auch bei einem Umstieg auf Erneuerbare bleibt die Energieversorgung sicher. Selbst Länder wie Frankreich und Polen, die derzeit noch große Mengen an Kohle- oder Atomkraft aufweisen, können in den 2040er Jahren vollständig umgestiegen sein.

Der von der EU aufgelegte Fonds zur Finanzierung des Strukturwandels, der „Just Transition Fund“, sollte als Multiplikator für lokale und nationale Initiativen zur Bewältigung des Strukturwandels eingesetzt werden. Dagegen sollte die Subventionierung des althergebrachten Systems unterbleiben, damit der European Green Deal reale Perspektiven für Konjunkturaufschwung und Nachhaltigkeit eröffnen kann.

Der Bundesregierung kommt im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft eine besondere Verantwortung zu: Sie muss einerseits die unterschiedlichen Fäden der Klimapolitik in Übereinstimmung mit den Konjunkturpaketen bringen und eine zukunftsgerichtete Verwendung der Mittel gewährleisten. Andererseits müssen in diesem Kontext auch offene Baustellen der Energiewende im eigenen Land behoben werden, wie der Ausstieg aus fossilen Energieträgern, die Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien sowie die rasche Steigerung der Energieeffizienz.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: Q54;L94
Keywords: Europe, investment, energy, climate policy, recovery
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-28-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/222946

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