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Sollte nicht jeder erben?

Blog Marcel Fratzscher vom 24. Juli 2020

Der wichtigste Grund für die große Ungleichheit in Deutschland sind Erbschaften. Es braucht eine radikale Reform der Erbschaftsteuer. Und vielleicht ein Erbe für jeden.

Die privaten Vermögen sind in Deutschland im internationalen Vergleich sehr ungleich verteilt. In der vorangegangenen Kolumne hatte ich neue Erkenntnisse diskutiert, die zeigen, dass die wirklichen Vermögen der Millionärinnen und Millionäre in Deutschland sehr viel höher sind als bisher angenommen und damit die Vermögensungleichheit insgesamt sehr viel stärker ausgeprägt ist als bislang bekannt. Was die Verteilung der Vermögen in Deutschland so ungewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass sehr viele Menschen in Deutschland kaum oder gar kein Vermögen und Erspartes haben beziehungsweise netto sogar verschuldet sind. Sie müssen sich also sehr stark auf den Sozialstaat verlassen. Sie haben vergleichsweise wenig Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum für sich persönlich und ihre Familien – gerade auch jetzt in der Corona-Krise. Ist diese hohe Ungleichheit der Vermögen ein Problem? Und für wen? Dazu müssen wir mehr über die Verteilung und die Art der Vermögen wissen.

Dieser Beitrag ist am 24. Juli 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.

In Deutschland gibt es knapp eine Million Millionärinnen und Millionäre, das sind rund 1,5 Prozent aller Erwachsenen. Dem stehen etwa 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger gegenüber, die netto kein Erspartes haben oder sogar verschuldet sind. Ist das gerecht? Viele Studien haben gezeigt, dass wir Deutsche Gerechtigkeit in erster Linie mit Leistung und einer adäquaten Abdeckung von Bedürfnissen verbinden. Dagegen empfindet die große Mehrheit der Deutschen eine gleiche Verteilung von Vermögen oder Einkommen nicht als gerecht. Dies bedeutet, dass viele ein hohes Vermögen dann als gerecht empfinden, wenn es hauptsächlich auf die Leistung der oder des Einzelnen zurückgeht.

Eine neue Studie des DIW Berlin zeigt, dass Millionäre vor allem sechs Eigenschaften haben: Sie sind ungewöhnlich häufig männlich, in mittlerem oder höherem Alter, haben keinen Migrationshintergrund, kommen aus Westdeutschland, sind gut gebildet und häufig selbstständig erwerbstätig. Drei dieser Eigenschaften sind sehr wohl mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit vereinbar: Wenn Menschen sich die Mühe machen, eine gute Bildung und Ausbildung zu erlangen, und das Risiko eingehen, sich selbstständig zu machen (die meisten, die es versuchen, scheitern in dem Unterfangen, häufig mehrfach), dann spiegelt dies eine individuelle Leistung wieder. Auch dass Menschen erst in mittlerem und höherem Alter ein größeres Vermögen aufbauen können, scheint logisch und per se nicht ungerecht.

Problematisch sind die anderen drei Eigenschaften. Denn es gibt überhaupt keinen guten Grund, weshalb das Geschlecht, die geographische Herkunft oder der Migrationshintergrund per se – wenn man alle weiteren relevanten Einflussfaktoren wie beispielsweise Bildung außen vor lässt – das Vermögen oder Einkommen beeinflussen sollten. Es gibt viele wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass diese drei Eigenschaften auch auf dem Arbeitsmarkt eine große Rolle spielen. Aber der wichtigste Grund für die großen Unterschiede in den Vermögen in Deutschland ist ein anderer: Erbschaften.

Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip

Über die Hälfte aller privaten Vermögen in Deutschland heute wurde nicht durch der eigenen Hände Arbeit, sondern durch Erbschaften und Schenkungen erzielt. Dies widerspricht dem Leistungsprinzip (und natürlich auch dem Bedarfsprinzip). Dabei erbt nur wenig mehr als jede oder jeder Dritte ein Vermögen.

Gerade Millionäre haben einen großen Teil ihres Vermögens geerbt und dies meist in der Form von Betriebsvermögen und Immobilien. Zwei Drittel der steuerfrei übertragenen Erbschaften von Firmen gehen an männliche Erben, nur ein Drittel an weibliche Erbinnen. 41 Prozent der Vermögen von Millionären sind Immobilien, 43 Prozent Betriebsvermögen. Vermögensarme Menschen dagegen haben meist kein Eigenheim, sondern nur wenig Erspartes auf dem Sparkonto und vielleicht noch ein Auto. Rund 3.600 Euro haben Erwachsene in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung in Deutschland im Durchschnitt netto an Vermögen.

Für viele Menschen ist eine Erbschaft ein großes Glück. Sie bedeutet Absicherung, sie eröffnet neue berufliche Chancen oder die Möglichkeit, alte Familientraditionen fortzusetzen. Gerade für junge Familien in einer Großstadt ist eine Erbschaft mitunter die einzige Chance, sich eine gute Wohnung in einer guten Lage leisten zu können. Daher mag es nicht überraschend sein, dass sich in Umfragen viele Deutsche gegen eine Erbschaftsteuer aussprechen.

Hier entstehen jedoch zwei grundlegende Probleme. Zum einen zahlen Menschen mit großen Erbschaften deutlich weniger Erbschaftsteuern als solche mit vergleichsweise geringen Erbschaften. Betriebsvermögen werden bei Erbschaften zu einem großen Teil nicht besteuert. Dies erklärt, wieso vor der Reform der Erbschaftsteuer Deutsche mit mehr als 20 Millionen Euro an Erbschaften weniger als zwei Prozent Erbschaftsteuer gezahlt haben, Menschen mit Erbschaften mit bis zu 500.000 Euro dagegen mehr als zehn Prozent.

Dieses Problem mag die Erbschaftsteuerreform etwas verringert, aber bei Weitem noch nicht gelöst haben. Daher wird das Thema Erbschaftsteuer früher oder später zu einem Streitpunkt in der politischen Debatte in Deutschland werden müssen. Eine radikale Vereinfachung der Erbschaftsteuer, beispielsweise nach Freibeträgen eine zehnprozentige Steuer für alle und ohne Ausnahme, wäre eine kluge und von der Gesellschaft wahrscheinlich als gerecht wahrgenommene Lösung.

Das zweite grundlegende Problem ist, dass viele Menschen mit geringen Einkommen, wenig Bildung und wenig Chancen nicht das Glück einer Erbschaft haben, sondern voll und ganz auf die staatlichen Sozialsysteme angewiesen sind. Der Sozialstaat ist jedoch eine Versicherung, die Menschen gegen Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit absichert, und kein befähigendes Instrument.

Da zentrale Problem: mangelnde Chancengleichheit

Wenn Erbschaften so wichtig sind, wieso soll nicht jeder Mensch das Glück haben, ein Erbe zu erhalten? Die Idee eines Lebenschancenerbes, die ich bereits vor einiger Zeit in dieser Kolumne aufgegriffen habe, würde jedem jungen Menschen nach Abschluss der Ausbildung ein Erbe von 30.000 Euro zur Verfügung stellen. Das könnte dann jede und jeder frei nutzen, etwa für eine berufliche Umorientierung, Auszeiten für die Pflege von Angehörigen oder andere gesellschaftlich wichtige Aufgaben.

Die fehlende Gerechtigkeit, die viele in Deutschland empfinden, liegt nicht so sehr darin, dass einige wenige sehr viel Vermögen haben, sondern dass so viele so wenig haben. Das zentrale Problem ist und bleibt, dass keine Chancengleichheit gegeben ist: Viele Menschen haben in ihrem Arbeitsleben kaum die Möglichkeit, Vermögen aufzubauen, sich abzusichern und über den starken Sozialstaat hinaus ihr eigenes Leben gestalten zu können. Dabei macht Geld und Eigenständigkeit, wie ich in der nächsten Kolumne zeigen werde, sehr wohl glücklich.

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