Blog Marcel Fratzscher vom 18. August 2020
Wozu ist ein bedingungsloses Grundeinkommen gut? Was kann es gegen die Defizite unseres Sozialsystems bewirken? Jetzt ist ein guter Moment, genau das zu erforschen.
Länder mit einer Grundsicherung und starken Sozialsystemen auch im Gesundheitsbereich haben die Corona-Krise deutlich besser gemeistert als andere. Die Forderung nach umfassenderen Sozialsystemen wird daher vielerorts lauter. Ebenso der Ruf nach einem Grundeinkommen. In Deutschland haben wir Hartz IV und die Grundsicherung im Alter – doch sie werden nicht bedingungslos gewährt. Stattdessen müssen die Empfängerinnen und Empfänger Vermögensrücklagen aufgebraucht haben und ihre Bedürftigkeit nachweisen oder sie müssen sich aktiv um an einen Arbeitsplatz bemühen, um Leistungen zu erhalten.
Ist es an der Zeit, die mit Hartz IV und der Grundsicherung im Alter verbundenen Restriktionen und Sanktionen aufzuheben, um ein wirklich bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen? Der Verein Mein Grundeinkommen will das jetzt untersuchen, wissenschaftlich unterstützt vom DIW Berlin.
Dieser Beitrag ist am 18. August 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Die Zeit der Pandemie hat vielen bewusst gemacht, wie wichtig starke Sozialsysteme und eine wirklich universelle Grundsicherung nicht nur für die Betroffenen sind, sondern für die ganze Gesellschaft. In Deutschland hat sich auch im Wirtschaftsboom der Zehnerjahre gezeigt, dass die gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme des Landes an ihre Grenzen stoßen. So standen während des Booms zwei Millionen Arbeitslose mehr als einer Million offener Jobs gegenüber. Die meisten dieser Jobs konnten nicht besetzt werden, obwohl viele Unternehmen nicht nur nach hochqualifizierten Fachkräften suchten, sondern auch Bedarf an Beschäftigten mit geringeren Qualifikationen hatten.
Und trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs ist die Armutsrisikoquote – also der Anteil derer, die weniger als 60 Prozent des Einkommens eines mittleren Haushalts zur Verfügung haben – weiter gestiegen. Inzwischen ist jeder sechste Mensch in Deutschland davon betroffen, und gerade unter Kindern und Jugendlichen ist die Armutsgefährdung groß. Ihnen fehlen Möglichkeiten zur sozialen und kulturellen Teilhabe, und dadurch werden ihnen wichtige Zukunftschancen genommen. Auch heute gilt häufig, dass Hartz IV sich in den Familien quasi vererbt. Es ist also auch für die junge Generation schwierig, sich aus der Abhängigkeit vom Sozialstaat zu lösen.
Das sind nur zwei der offensichtlichen Probleme unserer Sozialsysteme. Deren Scheitern liegt nicht am fehlenden Geld, zumal der deutsche Staat in den vergangenen zehn Jahren seine Sozialausgaben deutlich erhöht hat. Deshalb ist jetzt ein guter Moment, unsere Sozialsysteme grundlegend auf den Prüfstand zu stellen und zu fragen, wie die gesellschaftliche Teilhabe möglichst allen Menschen gewährleistet werden kann, und wie die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft verbessert und zukunftssicher gemacht werden kann, auch mit Bezug auf die enormen Veränderungen in der Arbeitswelt. Wir brauchen eine grundlegende und offene Debatte über die Ausgestaltung des Sozialstaats der Zukunft. Dazu gehört eine Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen.
Dessen Gegner sind schnell darin, die Risiken und Gegenargumente aufzuzählen – meist zu schnell. Sie sagen, ein bedingungsloses Grundeinkommen gebe Menschen Anreize, nicht mehr zu arbeiten. Es sei ungerecht, da einige Menschen sich weniger anstrengen könnten und letztlich auf Kosten der anderen leben würden. Es könne viele wichtige Elemente der Sozialsysteme nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Die Finanzierung sei viel zu teuer – bei einer Summe von 1.200 Euro pro Monat für jede Bürgerin und jeden Bürger beliefen sich die Kosten insgesamt auf knapp 1,2 Billionen Euro. Das sind 30 Prozent der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung, doch im Gegenzug könnten einige der gegenwärtigen Leistungen und Bürokratiekosten eingespart werden.
Dem steht eine ganze Reihe sehr guter Argumente für das bedingungslose Grundeinkommen gegenüber. Es beruht auf einem positiven Menschenbild: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er findet Erfüllung als Teil der Gemeinschaft und hat in der Regel eine intrinsische Motivation, einen Beitrag zu ihr zu leisten. Sozialsysteme sollten diese Motivation stärken. Sie sollten Menschen unterstützen und ihnen positive Anreize setzen, anstatt sie zu sanktionieren, so wie dies auch bei Hartz IV letztlich geschieht. Zudem ist das bedingungslose Grundeinkommen durchaus vereinbar mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Menschen in Deutschland, die nach Studien die Bedarfsgerechtigkeit genauso hoch gewichten wie die Leistungsgerechtigkeit.
Ich war lange Zeit ein Kritiker des bedingungslosen Grundeinkommens. Mir schienen die Gegenargumente überzeugender. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher – und ich bin überzeugt, dass niemand sich seiner oder ihrer Argumente für oder gegen das bedingungslose Grundeinkommen wirklich sicher sein kann. Denn wir wissen schlicht nicht, wie es genau funktionieren und welche Nebenwirkungen es entfalten würde. Zwar gab es bereits einige vorsichtige Experimente mit dem bedingungslosen Grundeinkommen wie in Finnland oder Kanada, aber sie sind aus verschiedenen Gründen bisher wenig aussagekräftig und nicht auf Deutschland übertragbar.
Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und die zu geringe Effektivität der bestehenden Sozialsysteme in Deutschland sind starke Argumente, nach neuen Wegen zu suchen, mit dem Ziel, Teilhabe und Chancengleichheit möglichst für alle zu gewährleisten. Das bedingungslose Grundeinkommen, das jeder Bürgerin und jedem Bürger ein festes Einkommen garantiert, ist zwar für viele eine provokante Idee. Doch wir sollen sie ernst nehmen und ernsthaft untersuchen. Genau das haben wir vor.
Der Verein Mein Grundeinkommen will mit der wissenschaftlichen Unterstützung des DIW Berlin und meines Kollegen Jürgen Schupp in einem breit angelegten Experiment erforschen, ob und wie ein bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren kann. Bei der bald beginnenden Langzeitstudie erhalten 120 Personen monatlich drei Jahre lang 1.200 Euro. Durch das regelmäßige Befragen der Gruppe und Nachverfolgen ihrer Antworten – und dem Vergleich mit einer Gruppe von Menschen mit nahezu identischen Eigenschaften, die allerdings kein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten – wollen sie herausfinden, wie das Grundeinkommen sich auf die Einzelnen auswirkt, wie es ihr Leben verändert und ob Umgestaltungen dauerhaft eintreten.
Die Studie soll uns Antworten darauf geben, wie sich einzelne Aspekte des bedingungslosen Grundeinkommens auf einzelne Gruppen und Lebenslagen auswirken. Sie wird uns ein differenziertes Bild ermöglichen, das wichtige Lehren weit über das bedingungslose Grundeinkommen hinaus geben könnte – also auch in Bezug auf die gegenwärtigen Sozialsysteme generell. Das macht die Studie wertvoll und wichtig.
Themen: Familie , Ungleichheit , Verteilung