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Die Corona-Solidarität darf nicht gefährdet werden

Blog Marcel Fratzscher vom 19. Oktober 2020

Wer die Wirtschaft gegen Corona-Regeln aufrechnet, erzeugt einen Konflikt, den es nicht gibt. Priorität müssen Transparenz und Angemessenheit der Maßnahmen haben.

Die Stimmen werden zunehmend lauter: Man könne sich keine weiteren Restriktionen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland mehr erlauben, trotz der zweiten Infektionswelle, die Deutschland hart zu treffen droht. Oberste Priorität der Corona-Politik müsse sein, das wirtschaftliche Leben in Deutschland nicht zu behindern. Setzen sich diese Stimmen durch, besteht die Gefahr, dass Deutschland einen Kurswechsel in den Prioritäten vollzieht. Das würde nicht nur die bisher insgesamt starke Solidarität der meisten Menschen untergraben, sondern am Ende auch großen wirtschaftlichen Schaden anrichten.

Dieser Beitrag ist am 18. Oktober 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.

Jeder kann die Argumentation nachvollziehen: Erneute Einschränkungen der Reisefreiheit und Schließungen von Geschäften, Restaurants und im Einzelhandel zur Bekämpfung der zweiten Infektionswelle würden viele Unternehmen hart treffen und könnten deren Existenz bedrohen. Dies würde auch Beschäftigte treffen und die Arbeitslosigkeit unweigerlich erhöhen. Die gesamtwirtschaftliche Erholung könnte empfindlich getroffen werden und sich nochmals deutlich verzögern.

Doch so logisch und einleuchtend diese Argumentation auch klingen mag – sie baut einen falschen Widerspruch zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft auf, der in der realen Welt so nicht existiert. Es wird ein Konflikt suggeriert, den es nicht gibt.oJeder kann die Argumentation nachvollziehen: Erneute Einschränkungen der Reisefreiheit und Schließungen von Geschäften, Restaurants und im Einzelhandel zur Bekämpfung der zweiten Infektionswelle würden viele Unternehmen hart treffen und könnten deren Existenz bedrohen. Dies würde auch Beschäftigte treffen und die Arbeitslosigkeit unweigerlich erhöhen. Die gesamtwirtschaftliche Erholung könnte empfindlich getroffen werden und sich nochmals deutlich verzögern. Test

Das Vertrauen nicht beschädigen

Denn Maßnahmen, die effektiv die Ausbreitung des Virus verhindern und verlangsamen, sind auch im Interesse der Wirtschaft. Firmen in der Gastronomie und der Tourismusbranche werden nur dann bald wieder mehr Umsätze machen können, wenn die Kundinnen und Kunden auf die Sicherheit und den Schutz ihrer Gesundheit vertrauen können.

In den USA oder Brasilien zeigt sich beispielsweise, dass eine Strategie mit möglichst wenigen Regeln und Restriktionen auch nicht im Interesse der Wirtschaft ist. Wenn Menschen Angst haben, zur Arbeit, in den Supermarkt oder in die Geschäfte zu gehen, dann ist der Schaden für die Wirtschaft nicht geringer, sondern sogar noch deutlich höher.

85 Prozent sind für die Restriktionen gewesen

Schlimmer noch: Ist das Vertrauen der Menschen in die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft erst einmal beschädigt, ist es schwer wieder zurückzugewinnen. Dann werden Menschen Ankündigungen und Versprechungen der Politik immer weniger Glauben schenken und sich selbst beschränken. Auch der private Konsum – um den es vielen der Kritikerinnen und Kritiker weiterer Maßnahmen ja zu Recht geht – wird sich deutlich abschwächen und damit einen wirtschaftlichen Schaden für Unternehmen und Beschäftigte verursachen.

Die oberste Priorität der Politik sollte daher nicht primär die Abwägung sein, ob man nun weitere Restriktionen einführt oder nicht, sondern für welche Regeln und Beschränkungen eine möglichst breite und umfassende Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden werden kann. Und hier ist die Antwort nach vielen Umfragen sehr deutlich: 85 Prozent der Menschen in Deutschland hielten die Restriktionen während der ersten Infektionswelle für richtig und sind auch mit Blick auf mögliche weitere Restriktionen jetzt in der zweiten Phase dieser Auffassung. Rund zwei Drittel der Menschen in Deutschland befürworten sogar eine innerdeutsche Quarantänepflicht für Menschen aus Risikoregionen.

Solidarische Gesellschaften können Krisen besser bewältigen

Regeln und Restriktionen müssen transparent und angemessen sein. Das erfordert eine offene und ehrliche Kommunikation der Politik, auch mit Unterstützung aus der Wissenschaft auf Grundlage belastbarer Zahlen und Fakten. Und Regeln müssen als angemessen und fair wahrgenommen werden, was wiederum zumindest eine gewisse Vereinheitlichung von Regeln und Restriktionen erfordert (auch wenn sich Restriktionen natürlich regional auch in einem bestimmten Maße an die Unterschiede in der Betroffenheit durch das Virus anpassen müssen).

Der vielleicht wichtigste Grund für die im internationalen Vergleich relativ erfolgreiche Bewältigung der Corona-Pandemie in Deutschland ist das hohe Maß an Solidarität und der starke Gemeinschaftssinn, den die Menschen in Deutschland bisher ganz überwiegend gelebt haben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Gesellschaften mit einem starken Maß an Solidarität große Krisen wie Pandemien, Naturkatastrophen und Kriege in jeglicher Weise besser bewältigen als Gesellschaften, die sehr individualistisch geprägt sind.

Der Sozialdarwinismus ist widerlegt

Dies widerlegt die These der Überlegenheit des Sozialdarwinismus, der zufolge erfolgreiche Gesellschaften solche sind, in denen sich die Stärksten durchsetzen, und bestätigt die des Naturforschers Pjotr Kropotkin, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Überlegenheit von Gesellschaften mit einem hohen Maß an Solidarität und Gemeinschaftssinn betont hat. Dies bespreche ich im Detail in meinem neuen Buch Die neue Aufklärung: Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise, das am 12. Oktober erschienen ist.

Im Umgang mit der zweiten Infektionswelle sollten wir diese Lehren und Stärken aus der Zeit der ersten Phase nicht vergessen, sie haben vielleicht noch mehr zum relativen Erfolg beigetragen als der starke Sozialstaat und die guten staatlichen Institutionen, die Deutschland im Vergleich zu fast allen anderen Ländern der Welt hat. Umso wichtiger ist es, dass wir Regeln und Restriktionen schaffen, die ein hohes Maß an Akzeptanz haben und Gemeinschaftssinn und Solidarität nicht aushöhlen.

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