Blog Marcel Fratzscher vom 11. Mai 2021
In der Diskussion über die Patente für Corona-Impfstoffe hat sich Angela Merkel gegen eine Freigabe ausgesprochen. Marcel Fratzscher hält das für einen der schwerwiegendsten Fehler ihrer Kanzlerschaft, der Deutschland und Europa geopolitisch weiter schwächt.
Dieser Text erschien am 10. Mai 2021 als Gastbeitrag in der Welt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lehnt die Initiative zur Patentfreigabe für Impfstoffe ab und hat andere europäische Staatschefs von ihrer Position überzeugt. Damit verweigert die EU ärmeren Ländern die Möglichkeit, eigene Impfstoffe auf Grundlage des Know-hows von Biontech und anderen zu entwickeln, um Menschenleben zu schützen und die globale Pandemie zu beenden. Dies ist einer der schwerwiegendsten Fehler in Merkels Kanzlerschaft, der Deutschland und Europa auch geopolitisch noch weiter schwächt. Die Bundeskanzlerin und die EU sollten diesen Fehler umgehend korrigieren.
In den vergangenen Monaten hat der Druck auf die USA und die EU massiv zugenommen, endlich einer Freigabe des Patentschutzes durch die Welthandelsorganisation (WTO) zuzustimmen, sodass Pharmakonzerne überall in der Welt selbst Impfstoffe gegen Covid-19 produzieren können.
Dafür machen sich 200 Nobelpreisgewinner und frühere Regierungschefs sowie 100 Regierungen weltweit und 400 Parlamentarier in Europa stark. Diese Freigabe ist also alles andere als eine verrückte Idee, sondern Konsens in vielen Teilen der Welt.
Nun hat sich auch die US-Regierung diesem Vorstoß angeschlossen, nur Europa ist die letzte Bastion, die die Interessen der großen Pharmakonzerne verteidigt. Die Bundeskanzlerin und andere Gegner bringen drei Argumente für ihre Ablehnung vor – die jedoch alle widerlegt sind.
Das erste Argument der Bundeskanzlerin ist, die Freigabe des Patentschutzes sei ineffektiv. Denn die Entwicklung eines Impfstoffes, vor allem auf den neuartigen mRNA-Technologien von Biontech und Moderna, sei so komplex, dass Pharmakonzerne in den armen Ländern in absehbarer Zeit keine eigenen Impfstoffe entwickeln könnten.
Dieses Argument ist falsch, denn Produzenten in China und Russland haben eigene, effektive Impfstoffe entwickelt. Und viele Unternehmen in anderen Ländern haben die Fähigkeit, dies in recht kurzer Zeit zu tun, wenn sie das Know-how und die notwendige Unterstützung erhalten. Indiens Serum Institute of India ist der weltweit größte Impfstoffhersteller und könnte in relativ kurzer Zeit einen eigenen Impfstoff auf mRNA-Basis herstellen.
Der frühere Direktor von Moderna, Suhaib Siddiqi, ist überzeugt, dass moderne Produktionsanlagen auch in armen Ländern innerhalb von drei bis vier Monaten mRNA-Impfstoffe produzieren können. Biontech hat bereits der chinesischen Fosun Pharma eine Lizenz für ihre mRNA-Technologie gegeben.
Zwar erlauben die WTO-Regeln Flexibilität bei den Patentrechten. Bei mehr als 100 Patenten, die direkt oder indirekt bei der Produktion eines mRNA-Impfstoffes betroffen sind, ist der einzige Weg einer schnellen Umsetzung die Freigabe des Patentschutzes. Der wichtigste Mechanismus der WTO-Freigabe ist, dass dies den erfolgreichen Pharmakonzernen starke Anreize geben würde, freiwillig Lizenzabkommen mit Pharmakonzernen in ärmeren Ländern abzuschließen, um finanziell auch von der Produktion dort zu profitieren.
Es steht viel auf dem Spiel. Selbst wenn die neue Entwicklung und Produktion von Impfstoffen ein Jahr oder länger dauerte, würde dies weltweit viele Leben schützen und auch für die Weltwirtschaft einen enormen Nutzen schaffen.
Denn anders als in Deutschland, wo die Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern das Versprechen eines Impfangebotes bis spätestens September 2021 gemacht hat, werden viele Menschen in den ärmsten Ländern der Welt nicht vor 2023 geimpft werden. Um dies noch mal zu betonen: Viele Menschen in der Welt müssten unter dem gegenwärtigen Regime noch mindestens zwei Jahre auf eine Impfung warten!
Daher scheint dieses erste Argument der Ineffektivität einer Freigabe des Patentschutzes falsch und vorgeschoben zu sein. Die wirkliche Sorge vieler, vor allem der westlichen Pharmakonzerne, ist wohl nicht, dass die Freigabe nicht effektiv wäre, sondern dass sie zu effektiv wäre.
Dies glauben zumindest viele ExpertInnen und Investoren weltweit: Nach Bekanntgabe der Unterstützung der US-Regierung am vergangenen Mittwoch fielen die Aktienkurse vieler Pharmakonzerne mit einem zugelassenen Impfstoff.
Denn die Freigabe des Patentschutzes würde deren Marktmacht massiv reduzieren. Sie würde zu mehr Wettbewerb und niedrigeren Preisen führen, selbst in den reichen Ländern. In anderen Worten: Die wirkliche Sorge vieler gilt den Profiten der Pharmakonzerne.
Dabei geht es nicht darum, das Profitstreben von Pharmakonzern zu verteufeln. Ganz im Gegenteil, das Streben nach Gewinnen und hohen Renditen ist ein zentrales Element einer jeden Marktwirtschaft. Es war sehr wichtig, damit in kurzer Zeit Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt und produziert werden konnten.
Aber das zweite Argument der Gegner einer Freigabe des Patentschutzes, solche Profite seien notwendig, um auch in Zukunft Anreize für Forschung und Entwicklung zu geben, und damit medizinischen Fortschritt zu ermöglichen, ist falsch oder zumindest stark übertrieben.
Denn eine WTO-Freigabe des Patentschutzes würde nicht bedeuten, dass die Pfizers, Modernas und Johnson & Johnsons dieser Welt keine Gewinne mehr machen würden, sondern lediglich, dass diese Gewinne etwas geringer sein würden.
Die erfolgreichen Pharmakonzerne haben schon jetzt so enorme Profite mit ihren Covid-19-Impfstoffen gemacht, dass sich ihre Investitionen und Risiken vielfach gerechnet haben. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung zeigt, dass der optimale Patentschutz nicht bedeutet, erfolgreichen Pharmakonzernen einen möglichst langen und umfangreichen Patentschutz zu gewähren.
Ganz im Gegenteil, ein Quasi-Monopol führt zu hohen Gewinnen für die erfolgreichen Konzerne, aber häufig auch zu einer Verknappung des Angebots und vor allem langfristig zu weniger Innovation.
Eine schnelle Freigabe des Patentschutzes für Covid-19 Impfstoffe wäre somit nicht unbedingt schädlich für zukünftige Forschung und Entwicklung im Pharmabereich. Im Gegenteil, der Wettbewerb und damit auch die Innovation würde zunehmen. Zumal die mRNA-Technologie nicht nur als Impfstoff gegen Covid, sondern für viele andere Krankheiten, vor allem Krebs, erforscht wird und erste Erfolge gezeigt hat.
Zudem ist nach der Pandemie vor der Pandemie. ExpertInnen sehen es als sehr wahrscheinlich an, dass Covid-19 in verschiedenen Mutanten die Welt noch viele Jahre bedrohen wird. Eine notwendige Expertise bei verschiedenen Produzenten und in unterschiedlichen Ländern kann daher wichtig sein, um in Zukunft schnell auf neue Mutanten – und damit gegen deren globalen Ausbreitung – reagieren zu können.
Und wenn selbst dieses Argument die Verfechter der Lehre der reinen Marktwirtschaft nicht überzeugen sollte, dann vielleicht diese Tatsache: Ohne die vom Staat finanzierte Grundlagenforschung an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wäre die Entwicklung des mRNA-Impfstoffes von Biontech und Moderna überhaupt nicht möglich gewesen.
Das dritte Argument der Gegner einer Freigabe des Patentschutzes ist ein moralisches. Politikerinnen und Politiker in der EU wurden in den vergangenen Tagen nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die EU mit 200 Millionen Dosen knapp die Hälfte der in der EU produzierten Impfstoffe exportiert, wogegen die USA bisher kaum Impfstoff exportiert. Dies ist ein gefährliches Argument, das völlig zu Recht bei manchen in den ärmeren Ländern große Empörung hervorgerufen hat.
Denn die EU hat mit sechs Prozent der Weltbevölkerung immerhin 20 Prozent aller Impfungen bisher erhalten, was sich in den kommenden Wochen nochmals erhöhen dürfte. Die EU droht zudem mit Exportverboten (und hat sie im Falle Italiens gegenüber Australien sogar vereinzelt angewendet), um mehr der Impfstoffe für sich zu vereinnahmen.
Auch haben die EU und die Bundesregierung bisher einen lächerlich kleinen Beitrag zu Covax, der globalen Initiative zur Bereitstellung von Impfstoffen in den ärmsten Ländern, beigetragen. China und Russland dagegen haben ärmeren Ländern sehr viel stärker auch im Technologietransfer geholfen.
Europa und Deutschland schießen sich durch ihre Weigerung der Freigabe des Patentschutzes für Impfstoffe nicht nur moralisch ins Abseits. Diese Weigerung wird weltweit signifikanten Schaden für Gesundheit und Wirtschaft anrichten. Nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich wäre die Unterstützung der EU und der Bundesregierung dringend vonnöten. Denn: Die Corona-Pandemie wird für niemanden vorbei sein, solange sie nicht für alle erfolgreich beendet ist.
Themen: Forschung und Entwicklung , Gesundheit , Märkte , Wettbewerb und Regulierung