Blog Marcel Fratzscher vom 9. August 2021
Das deutsche Wirtschaftsmodell bremst zunehmend unsere Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand. Die erfolgreichen Zehnerjahre waren vor allem Ergebnis von Glück.
Das deutsche Modell der Wirtschaftspolitik steht nach 16 Jahren unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel an einer entscheidenden Weggabelung. Die Bundesrepublik hat wirtschaftlich ein erfolgreiches Jahrzehnt erlebt. Der Glaube, dieser wirtschaftliche Erfolg in den Zehnerjahren sei das Resultat guter Politik, ist jedoch eine gefährliche Illusion. Vielmehr war er das Ergebnis von Glück.
Deutsche Unternehmen konnten mehr als andere vom Exportboom in die schnell wachsenden Schwellenländer Asiens profitieren. Und sie waren Nutznießer des Beschäftigungswunders, das mehr als drei Millionen Menschen zusätzlich in den deutschen Arbeitsmarkt brachte, vor allem durch die Zuwanderung junger, hoch motivierter Europäer und Europäerinnen sowie durch die steigende Erwerbstätigkeit sehr gut qualifizierter Frauen.
Dieser Text erschien erstmals am 6. August 2021 bei Zeit Online als Teil der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Der wichtigste Beitrag der Wirtschaftspolitik der vier Regierungen Angela Merkels war dabei nicht die aktive Unterstützung des Wirtschaftsgeschehens, sondern die Sicherung von Stabilität und eine bemerkenswert erfolgreiche Bewältigung der vier großen Krisen in diesem Zeitraum: der globalen Finanzkrise und der europäischen Wirtschaftskrise zwischen 2008 und 2012, der hohen Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015 und der Corona-Pandemie. Dabei erwies die Bundeskanzlerin meist eine hervorragende Intuition, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen und zu tun und dadurch Vertrauen zu schaffen und Stabilität zu gewährleisten – nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa.
Eine gestaltende Wirtschaftspolitik gab es jedoch kaum. Die globale Finanzkrise wurde nicht genutzt, um Deutschlands ineffizientes Finanzsystem zu reformieren. Die europäische Wirtschaftskrise wurde nicht zum Anlass genommen, die Reformen europäischer Institutionen ausreichend voranzutreiben (Bankenunion und Kapitalmarktunion bleiben Stückwerk, der europäische Rettungsmechanismus ESM verliert an Bedeutung). Der Wandel von Technologie und Weltwirtschaft hat das deutsche Modell überholt, das zunehmend zur Bremse für die globale Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand des Landes wird. Auch in der Corona-Pandemie bemüht sich die Bundesregierung zu wenig, einen grundlegenden Politikwechsel bezüglich Klimaschutz und Digitalisierung zu vollziehen. Zumal viele deutsche Unternehmen in diesen Bereichen hinterherlaufen.
Internationale Vergleiche zeigen unisono, dass staatliche Institutionen in Deutschland hohe Kompetenz und Verlässlichkeit haben. Doch die überbordende Bürokratie, über die sich viele beklagen, ist kein Unfall, sondern häufig genau so gewollt. Das Wirtschaftsmodell Deutschlands stellt zudem noch immer die enge Symbiose zwischen Politik und Unternehmen in den Mittelpunkt, was Innovation und den notwendigen Wandel behindert. Das Bankensystem besteht mehrheitlich aus Finanzinstitutionen, die direkt oder indirekt von Politik und Staat gesteuert werden – nicht, weil dies effizienter wäre, sondern weil es politischen Interessen entspricht. Die Industriepolitik versucht, nationale Champions zu fördern, doch das wird immer häufiger zum Bumerang, wie das Beispiel Wirecard zeigt. Häufig ist die Bundesregierung der Bremsklotz in Europa, wenn es um höhere Standards zum Schutz von Klima und Umwelt geht, da sie die vermeintlichen Interessen der mächtigen Wirtschaftslobby verteidigt.
Der Merkantilismus der Außenwirtschaftspolitik stellt zuverlässig kurzfristige wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt, auch wenn dies verlangt, eigene Werte zu unterminieren. Das zeigt die Strategie gegenüber China. Die Industrieverbände haben einen enormen Einfluss auf politische Entscheidungen und nicht selten schreiben sie selbst an der Gesetzgebung mit, die die eigenen Unternehmen betrifft. Selbst beim Lieferkettengesetz, bei dem es vor allem um den Schutz von Menschenrechten geht – beispielsweise das Verbot von Kinderarbeit und von Zwangsarbeit –, ist dies der Fall. Hier hat sich letztlich die Industrielobby durchgesetzt und auf das Gesetz so stark eingewirkt, dass es kaum mehr Lenkungswirkung hat und die Unternehmen kaum stärker in die Verantwortung nimmt.
Die Ursache für das katastrophale Scheitern, die öffentliche Infrastruktur zu modernisieren, sind nicht primär das fehlende Geld oder unzureichende Fähigkeiten staatlicher Institutionen, sondern der bewusste politische Wille einer Besitzstandswahrung der Eliten. Eine Verkehrswende und ein schnellerer Umstieg auf alternative Antriebe scheint für viele nicht im Interesse der Automobilbranche zu liegen. Ein zügiger Ausbau von Übertragungsnetzen und Produktionsanlagen für erneuerbare Energien bedroht die Geschäftsmodelle großer Energiekonzerne und mancher lokaler Unternehmen. Eine Wohnungsbaupolitik, die den sozialen Wohnungsbau stärkt und das Angebot von Bauland massiv erhöht, mag zwar gut für einkommensschwächere Mieterinnen und Mieter sein. Aber Wohnungsunternehmen bevorzugen ein knappes Angebot und steigende Immobilienpreise.
Tatsache ist: Kaum ein Land in der Welt wäre fähiger, die großen Zukunftsherausforderungen des Klimaschutzes, der digitalen Transformation und der Globalisierung erfolgreich zu gestalten. Deutschland hat viele kluge und hoch motivierte Menschen, innovative und resiliente Unternehmen und kompetente staatliche Institution. Es ist der fehlende politische Wille zur Veränderung und der Versuch der Besitzstandswahrung, der die größte Gefahr für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts und des Wohlstands Deutschlands darstellt. Die wirtschaftliche Zukunft des Landes wird nicht nur in China und den USA bestimmt, sondern vor allem von der Antwort auf die Frage: Ist die Politik gewillt, die Dominanz der Besitzstandswahrung zu brechen und unser Wirtschaftsmodell grundlegend zu erneuern?
Themen: Europa , Industrie , Unternehmen , Wettbewerb und Regulierung