Blog Marcel Fratzscher vom 1. Oktober 2021
Deutschland braucht eine kluge Symbiose von Staat und Markt, um die großen Probleme des Landes zu lösen. Das sollte auch eine neue Regierungskoalition beachten.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 1. Oktober 2021 bei Zeit Online als Teil der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Bundestagswahl war spannend bis zum Schluss, die Koalitionsgespräche werden es nicht minder sein: Nach dem Scheitern der Sondierungen vor vier Jahren zweifeln viele daran, dass ein Dreier-Bündnis überhaupt genügend inhaltliche Schnittmengen finden kann.
Dabei werden die Gemeinsamkeiten leicht übersehen: Die beteiligten Parteien, derzeit allen voran Grüne und FDP, sind sich bereits erstaunlich einig über die Zielsetzung der Regierungspolitik in den kommenden vier Jahren. Klimaschutz, digitale Transformation und Umbau der Sozialsysteme sind drei der großen Prioritäten aller Beteiligten. Das ist erst mal eine hervorragende Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Koalitionsvertrag – ob in einer Ampel- oder einer Jamaika-Koalition (wobei die Chancen einer Jamaika-Koalition deutlich geringer sein dürften als es derzeit den Anschein hat).
Das größte Problem wird also weniger das Überwinden der inhaltlichen Differenzen sein, als vielmehr die Geschwindigkeit und Entschiedenheit, mit der die neue Bundesregierung dann ihre Politik umsetzen wird.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen den Parteien liegen nicht in der Zielsetzung, sondern in dem Weg dahin. In zwei grundlegenden Punkten unterscheiden sie sich: der ordnungspolitischen Philosophie und der Geschwindigkeit und Ausgestaltung der Reformen. Bei ersterer geht es – sehr verkürzt gesagt – um das Verhältnis zwischen Markt und Staat. Auf der einen Seite stehen die Union und vor allem die FDP, die großes Vertrauen in den Markt setzen und nicht selten eine große Skepsis gegenüber der lenkenden und gestaltenden Rolle des Staates hegen. Beim Klimaschutz möchten beide lieber den CO2-Preis als leitendes marktwirtschaftliches Instrument statt Verbote und Regeln von Seiten des Staates. Der dauerhaften Erhöhung der Schulden und Veränderung der Schuldenbremse stehen sie skeptisch gegenüber. Und bei den Sozialsystemen legen sie einen höheren Wert auf das „Fordern“ als auf das „Fördern“.
Auf der anderen Seite stehen die beiden Parteien links der Mitte, SPD und Grüne, die eine aktive und gestaltende Rolle beim Staat sehen, der nicht nur Marktmechanismen gewährleisten, sondern auch bei Regulierung und Förderung eine klare Richtung vorgeben muss. Das gilt bei der Klimapolitik genauso wie in der Finanzpolitik und der Sozialpolitik. Natürlich sind die Beschreibungen dieser zwei Positionen sehr vereinfachend und schematisch, aber sie treffen den Kern und sind wichtig, um viele der Meinungsunterschiede in den Koalitionsverhandlungen einordnen zu können.
Die gute Nachricht ist, dass diese inhaltlichen Differenzen nicht nur lösbar sind, sondern dass beide Seiten durchaus gute Argumente auf ihrer Seite haben. Eine kluge Kombination der Stärken und Expertisen beider könnte zu einem deutlich überzeugenderen und inklusiveren Regierungsprogramm führen als eine Seite alleine. Denn Staat und Markt stehen nicht miteinander in Widerspruch. Ganz im Gegenteil, alle der genannten Herausforderungen werden nur mit einer klugen Symbiose zwischen Staat und Markt gemeistert werden können: zwischen Regulierung und Fördern auf der einen Seite und Wettbewerb und Innovation auf der anderen Seite.
So könnten die von der FDP geforderten Steuersenkungen für Unternehmen ein hervorragendes Instrument sein, private Investitionen in die ökologische und digitale Transformation anzustoßen. Der Staat kann dabei mit seinen eigenen Investitionen in Infrastrukturen und Grundlagenforschung, wie SPD und Grüne immer wieder betonen, eine ganz wichtige unterstützende Rolle spielen. Ähnliches gilt für die Europapolitik, bei der ein Festhalten an den europäischen Schuldenregeln vereinbar wäre mit einer eigenen fiskalischen Kapazität. In der Arbeitsmarktpolitik könnte ein Mindestlohn von 12 Euro (so wie ihn Grüne und SPD wollen) durchaus sinnvoll mit einer Initiative für Qualifizierung und Deregulierung kombiniert werden (so wie es vor allem die FDP fordert).
Kurzum, die inhaltlichen Differenzen – selbst bei einer Dreier-Koalition – sind bei weitem nicht so schwer zu lösen, wie dies vielen auf den ersten Blick erscheinen mag. Natürlich liegt der Teufel im Detail, und es geht bei den Verhandlungen nicht nur um Inhalte, sondern auch um Positionen und Eitelkeiten. Aber der Weg hin zu einem Koalitionsvertrag mit überzeugenden Inhalten und Prioritäten ist vorgezeichnet.
Meine größte Sorge ist weniger inhaltlicher Art: Fatal wäre es, wenn die neue Bundesregierung die notwendige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu zaghaft und langsam angeht. Denn was die neue Bundesregierung in den kommenden vier Jahren nicht an Weichenstellungen setzt, werden möglicherweise künftige Bundesregierungen kaum mehr korrigieren können.
Dafür gibt es drei Gründe. Der erste ist politisch: Die Bürgerinnen und Bürger haben mit ihrer Wahlentscheidung klar signalisiert, dass die Mehrheit Veränderungen und Reformen will. Es gibt der neuen Bundesregierung ein hohes Maß an Legitimität, ab jetzt zu klotzen und nicht nur zu kleckern, also Reformen mutig und entschieden anzugehen.
Der zweite gute Grund ist das Geld. Die Transformation wird in den kommenden zehn bis 20 Jahren riesige Investitionen vom Staat und von Unternehmen erfordern. Derzeit hat der deutsche Staat einmalig exzellente Voraussetzungen, um Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung eine Anleihe für 30 Jahre zu null Zinsen ausgeben können, für Anleihen für zehn Jahre sind die Zinsen nach wie vor negativ – der Staat erhält also Zinsen dafür, jetzt in die Zukunft zu investieren. Die Zinsausgaben für die Schulden – der relevanteste Indikator für die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung – betrugen im vergangenen Jahr weniger als 10 Milliarden Euro. 2007 lagen sie bei einem geringeren Schuldenstand noch bei weit mehr als 40 Milliarden Euro.
Bereits bei der nächsten regulären Bundestagswahl 2025 werden die Sozialausgaben durch die demographische Alterung der Gesellschaft so massiv zugenommen haben, dass sich der finanzielle Spielraum und auch die Prioritäten – die Schieflage in den sozialen Sicherungssystemen dürften sich dann so verschärft haben, dass kein Weg an schmerzvollen und teuren Reformen vorbeiführen wird – grundlegend verändert haben werden. Jetzt besteht also die Chance für die neue Bundesregierung, einen ausreichend großen Finanzierungsfonds mit Rücklagen im Haushalt aufzustellen, um ganz gezielt digitale, ökologische und soziale Zukunftsinvestitionen zu finanzieren.
Der dritte Grund, der für ein ambitioniertes Regierungsprogramm mit einem Fokus auf schnelle Reformen spricht, ist die Alternative des Scheiterns. Große wirtschaftliche Reformen haben in der Regel am besten funktioniert, wenn sie schnell und umfassend umgesetzt wurden. Nehmen wir das Beispiel des Kohleausstiegs in Deutschland, der schon seit 50 Jahren in der Planung oder Umsetzung ist. Er kostet den Staat, die Menschen und Unternehmen riesige Summen an Geld, hat die Umwelt und das Klima viel zu lange viel zu stark belastet, und die direkt betroffenen Menschen und Regionen befinden sich heute in keiner guten Lage. Vorteile hatte das Verschleppen der Reformen für keine Seite.
So gilt auch für den Klimaschutz und die digitale Transformation, dass die nächsten vier Jahre entscheidend sein werden – nicht allein dafür, ob Deutschland die gesteckten und objektiv notwendigen Ziele mittel- bis langfristig erreichen wird, sondern auch, ob sich deutsche Unternehmen in 10 oder 20 Jahren noch im globalen Wettbewerb behaupten können. Wie die Erfahrung der Automobilbranche mit alternativen Antrieben und autonomem Fahren zeigt, ist die Gefahr groß, dass die Transformation verschlafen wird.
Kurzum, die neue Bundesregierung wird sich nicht den Luxus des Abwartens leisten können, denn damit würde sie der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb massiv schaden und unseren Wohlstand langfristig und dauerhaft gefährden.
Die entscheidende Frage für die neue Bundesregierung wird daher sein, ob sie genug Mut und politischen Willen aufbringt, die notwendigen Veränderungen schnell und überzeugend genug umzusetzen. Dies erfordert ein massives privates und öffentliches Investitionsprogramm mit ambitionierten Zielen. Nicht die inhaltlichen Prioritäten der neuen Bundesregierung werden entscheidend für einen langfristigen Erfolg oder ein Scheitern der ökologischen und digitalen Transformation sein, sondern der Mut, die Geschwindigkeit und die Entschiedenheit der Umsetzung.
Themen: Industrie , Klimapolitik , Steuern , Unternehmen