Medienbeitrag vom 24. Oktober 2022
Die stark gestiegenen Energiepreise bringen auch viele Unternehmen in die Bredouille. Die Bundesregierung will die schlimmsten Auswüchse mit milliardenschweren Hilfsprogrammen abfedern. Doch das sind bislang nur teure Trostpflaster, schreibt Prof. Claudia Kemfert im Gastbeitrag. Um Einsparpotentiale zu heben, sollte der Bund die Auszahlung an Auflagen koppeln, fordert die Energieökonomin.
Der Gastbeitrag von Claudia Kemfert erschien am 22. Oktober 2022 auf Merkur.de
Mit der Gaskrise geht in Deutschland das Schreckgespenst der Deindustrialisierung um. Dabei waren doch gerade die „billigen fossilen Energien“ das Versprechen einer ewig florierenden deutschen Industrie. Wer an das fossile Märchen vom billigen Gas geglaubt und die geostrategischen Risiken völlig verdrängt hat, ist geschockt von der Wucht der aktuellen Gaskrise. Nicht die Energiewende, sondern die Nicht-Energiewende führt ins Desaster. Gaskrise, Rezession, Inflation, ein fossiler Albtraum.
Hätte die Industrie vor über 15 Jahren begonnen, ernsthaft in Energieeffizienz zu investieren und auf erneuerbare Energien zu setzen, stände sie nun da wie manches Ökodorf in der Provinz: geopolitisch unabhängig und randvoll mit klimafreundlicher Energie und ausreichenden Fachkräften und Unternehmen vor Ort. Unsere Wirtschaft wäre nachhaltig resilient.
Dass auch im Industrieland Deutschland eine hundertprozentige Vollversorgung mit erneuerbaren Energien möglich ist, zeigt die Wissenschaft in Studien schon lange. Es wollte nur kaum einer glauben. Zu verlockend schien der fossile Werbefilm, der nur das Beste versprach. Und zu bedrohlich wirkte der propagandistische Energiewende-Horrorfilm, starring: „Zappelstrom“ und „Dunkelflaute“. Aus Sicht nüchterner Wissenschaft waren die Monster lächerlich, doch in den Chefetagen der Wirtschaft wirkte der Grusel. Leider.
Wie oft habe ich gehört: „Eine Industrienation wie Deutschland kann nicht allein mit Wind und Sonne funktionieren“. Wie oft habe ich geantwortet: Muss sie auch gar nicht! Denn zum industrie- und zukunftstauglichen Energie-Mix gehören außer Wind und Sonne auch nachhaltige Biomasse, Erdwärme, Wasserkraft und grüner Wasserstoff. Entscheidend ist das intelligente Zusammenspiel aller Instrumente.
Die Energiewende krempelt das Energiesystem um, so wie das Internet das Vertriebssystem umgekrempelt hat. Unternehmen, die an Kohle, Öl und Gas festhalten, sind wie Händler, die auf Verkaufstresen und Registerkassen beharren.
Der energetische Innovationsschub ist nicht mehr aufzuhalten. Wer klug ist, nutzt ihn als große wirtschaftliche Chance. Dank „Doppel E“, Effizienz und Elektrifizierung, wird der heute benötigte Primärenergiebedarf halbiert. Ein Ökostrom betriebenes Elektrofahrzeug oder eine Wärmepumpe sind energetisch effizienter als jeder Verbrenner. So werden Bedarfe und Kosten gesenkt. Wir kennen das Phänomen: Smartphones werden immer kleiner und gleichzeitig immer leistungsstärker. Nur Nostalgiker weinen dem Drehscheibentelefon hinterher.
Die staatlichen Rettungspakete sind bislang nur teure Trostpflaster ohne Perspektive. Die Hilfsgelder sollten besser an zukunftsträchtige Auflagen gekoppelt werden. Elektrifizierung bedeutet, endlich die brachliegenden Einsparpotentiale zu heben. Noch immer bleibt industrielle Abwärme zu oft ungenutzt, noch immer verpufft Energie im Nichts. Der Weckruf des Krieges ist brutal. Aber die deutsche Wirtschaft kann durchaus mit einem blauen Auge davon kommen, wenn sie den lang aufgeschobenen Wandel endlich angeht.
Die Industrie bleibt ein wichtiges Standbein der deutschen Wirtschaft. Doch sie muss modernisiert, digitalisiert, de-fossilisiert und dekarbonisiert werden. Dafür ist nicht zu spät. Denn noch immer machen günstige Energie sowie erstklassige Ingenieure und Facharbeiter Produkte „Made in Germany“ zum Welterfolg. Nur muss es jetzt endlich wirklich preiswerte Energie sein, erneuerbare Energien. Dann weht bald wieder der gute Geist der Zuversicht: die nachhaltige Re-Industrialisierung.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Energiewirtschaft , Industrie , Unternehmen