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Reform der Erwerbsminderungsrente senkt Armutsrisiko, kommt aber spät

DIW Wochenbericht 17 / 2023, S. 191-197

Sebastian Becker, Annica Gehlen, Johannes Geyer, Peter Haan

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  • Armutsrisiko von Erwerbsgeminderten ist mit 26 Prozent deutlich höher als in Gesamtbevölkerung; bei unter 65-Jährigen liegt es sogar bei 34 Prozent
  • Neue Rentenberechnung erhöht ab Juli 2024 erstmals Bestandsrenten Erwerbsgeminderter um 7,5 beziehungsweise 4,5 Prozent
  • Erwartete Einkommenseffekte werden mit Hilfe von SOEP- und Rentenversicherungsdaten simuliert
  • Armutsrisiko Erwerbsgeminderter wird demnach zwar um bis zu acht Prozent reduziert, bleibt aber auf hohem Niveau; die Reform kommt zudem für viele zu spät
  • Neben Verbesserungen der Absicherung sollte stärkerer Fokus auf Prävention und Rückkehr in den Arbeitsmarkt liegen

„Vor allem viele Niedrigeinkommensbeziehende erhalten Erwerbsminderungsrente, die so gering ist, dass sie zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen sind. Neben höheren Zahlbeträgen wäre die beste Armutsverhinderung, präventiv dafür zu sorgen, dass diese Menschen erwerbsfähig bleiben – auch vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels.“ Johannes Geyer

Ein Unfall, eine chronische Erkrankung oder auch eine angeborene Behinderung sind häufige Ursachen für den Verlust der Erwerbsfähigkeit. Der Wegfall des Erwerbseinkommens wird zwar durch die Erwerbsminderungsrente in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Diese Rente ist aber so niedrig, dass Erwerbsgeminderte einem sehr hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind und überdurchschnittlich häufig Leistungen der Grundsicherung beziehen. Seit der Rentenreform 2001 sind die durchschnittlichen Leistungen stark zurückgegangen. Reformen in den Jahren 2014 und 2019 führten zwar Verbesserungen für neu zugehende Renten ein, der Rentenbestand profitierte allerdings nicht davon. Dies wird erst zum Juli 2024 nachgeholt. Berechnungen zeigen, dass diese Reform das Armutsrisiko zwar um knapp acht Prozent senken kann, Erwerbsgeminderte aber weiterhin überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen sind. Zudem haben die Betroffenen eine niedrige Lebenserwartung; ein relevanter Teil der potenziell Begünstigten wird nicht mehr am Leben sein, wenn die Reform in Kraft tritt. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass es bei dieser Leistung auf eine schnellere Umsetzung ankommt und weitere Maßnahmen nötig sind, um das Armutsrisiko bei Erwerbsminderung zu reduzieren.

Die Erwerbsminderungsrente ist eine zentrale Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Sie leistet Einkommensersatz im Falle des Verlusts der Erwerbsfähigkeit vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze der GRV, wenn bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt werden. Ende 2021 bezogen etwa 1,8 Millionen Personen eine Erwerbsminderungsrente. Im Jahr 2022 kamen rund 165000 neue Erwerbsminderungsrenten hinzu, was gut 16 Prozent aller Rentenneuzugänge ausmachte. Hinzu kamen 2021 noch einmal geschätzt 2,7 Millionen Altersrentner*innen, die vor der Altersrente eine Erwerbsminderungsrente bezogen haben.infoErwerbsminderungsrenten werden mit Erreichen der Regelaltersgrenze in eine Altersrente umgewandelt. Die 1,8 Millionen beziehen sich nur auf nicht umgewandelte Erwerbsminderungsrenten. Bezogen auf alle Alters- und Erwerbsminderungsrenten liegt der Anteil der ursprünglich Erwerbsgeminderten bei etwa 22 Prozent.

Bei einem (dauerhaften) Restleistungsvermögen von drei bis sechs Stunden pro Tag erhalten Personen eine halbe Erwerbsminderungsrente; liegt das Leistungsvermögen unter drei Stunden pro Tag, wird eine volle Erwerbsminderungsrente gewährt. Dabei ist es unerheblich, welche Tätigkeit ausgeübt wird.

Für die Rentenberechnung wird die versicherte Person im Leistungsfall so gestellt, als hätte sie bis zu einem bestimmten Referenzalter (das Ende der sogenannten Zurechnungszeit) weitergearbeitet und Beiträge geleistet (Kasten 1). Bis zum 1. Juli 2014 lag dieses Alter bei 60 Jahren, wurde dann für neu zugehende Renten auf 62 angehoben. Für zugehende Renten ab dem Jahr 2018 wurde das Referenzalter weiter auf 62 Jahre und drei Monate angehoben und ab 2019 auf 65 Jahre und acht Monate. Seitdem steigt es mit der Anhebung der Regelaltersgrenze und liegt ab 2031 bei 67 Jahren. Diese Verbesserungen bei der Rentenberechnung kamen bisher nur neu zugehenden Rentner*innen zugute.infoZu den Wirkungen dieser Reformpakete siehe Johannes Geyer (2021): Der Einfluss von Rentenreformen auf Zugänge und Zahlbeträge in Erwerbsminderungsrenten – Modellrechnungen bis 2050: Forschungsbericht; Forschungsprojekt gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung. DIW Politikberatung kompakt 164 (online verfügbar, abgerufen am 12. April 2023).

Die Erwerbsminderungsrente wird ähnlich wie eine Altersrente berechnet. Die Rente ergibt sich im Wesentlichen aus den Ansprüchen, die aus Beitragszahlungen während des Erwerbslebens entstehen. Weil die Erwerbsminderung allerdings einen frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben bedingt, verkürzt sich die aktive Versicherungsdauer. Dadurch würde die resultierende Rente in der Regel sehr niedrig ausfallen. Um dem entgegenzuwirken, gibt es die sogenannte Zurechnungszeit (§ 59 SGB VI). Die Zurechnungszeit ist eine beitragsfreie Zeit, die die durch die Erwerbsminderung fehlenden Versicherungsjahre ersetzt. Die Zurechnungszeit beginnt mit dem Eintritt der maßgebenden Erwerbsminderung und endet mit einem bestimmten Referenzalter. Für diese Zeitspanne werden Entgeltpunkte anhand der Gesamtleistungsbewertung gutgeschrieben. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass die Zurechnungszeit mit dem individuellen Durchschnitt der bisher erworbenen Entgeltpunkte bewertet wird.

Das Ende der Zurechnungszeit lag bis zum Juni 2014 bei 60 Jahren und wurde zum Juli 2014 um zwei Jahre auf 62 angehoben.infoRV-Leistungsverbesserungsgesetz. Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 27 (2014), 787ff (online verfügbar). Zudem wurde beschlossen, dass bei der Bewertung der Zurechnungszeit die Entgeltpunkte der letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung unberücksichtigt bleiben, wenn dies zu einer günstigeren Gesamtleistungsbewertung führt. Dadurch sollte berücksichtigt werden, dass Personen häufig schon vor Eintritt der Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen ihre Erwerbstätigkeit einschränken müssen und sich dies negativ auf die Bewertung der Zurechnungszeit auswirkt. Im Jahr 2018 wurde das Referenzalter der Zurechnungszeit auf 62 und drei Monate angehoben.infoEM-Leistungsverbesserungsgesetz. Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 48 (2017), 2509ff (online verfügbar). Im Jahr 2019 wurde durch eine weitere Reform die Zurechnungszeit wiederholt, nun aber deutlich stärker angehoben und an die Regelaltersgrenze angepasst, die schrittweise bis zum Jahr 2031 auf 67 Jahre steigt.infoRV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz. Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 40 (2018), 2016ff (online verfügbar). Von den Reformen 2014 und 2019 profitieren allerdings nur Neuzugänge, Bestandsrentner*innen erhielten keine Rentenerhöhung.

Mit dem Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz, das zum 1. Juli 2024 umgesetzt wird, erhalten nun Rentner*innen, deren Erwerbsminderungsrente zwischen 2001 und 2018 begonnen hat, einen Zuschlag zu ihrer Rente. Bei der Anpassung handelt es sich um eine prozentuale Rentenerhöhung, die sich nach dem Zugangsdatum der Bestandsrentner*innen richtet. Zugänge aus den Jahren zwischen Januar 2001 und Juni 2014 erhalten einen pauschalen Zuschlag von 7,5 Prozent. Zugänge, deren Rentenbeginn zwischen Juli 2014 und Dezember 2018 liegt, profitierten von der Rentenerhöhung 2014 und erhalten daher eine niedrigere Anpassung von 4,5 Prozent. Erwerbsminderungsrentner*innen, deren Rente nach dem Dezember 2018 begann, erhalten keine Rentenpassung.

Das wird nun mit dem Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz ab 1. Juli 2024 teilweise nachgeholt.infoBundesgesetzblatt Teil I Nr. 22 (2022), 975 (online verfügbar, abgerufen am 28. März 2023. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Dafür werden die Renten von Personen, die vor der ersten Reform, also nach dem 31. Dezember 2000 und vor dem 1. Juli 2014, in Erwerbsminderung gegangen sind, um 7,5 Prozent angehoben. Bei einem Eintritt nach dem 30. Juni 2014 und vor dem 1. Januar 2019 beträgt der Zuschlag 4,5 Prozent. Die Reformen 2014 und 2019 führen durch die Anhebung der Zurechnungszeit zu unterschiedlich hohen Zuschlägen auf die eigene Rente. Tendenziell fällt damit der pauschal gewährte Zuschlag um etwa 50 Prozent niedriger aus, als bei einer äquivalenten Anhebung der Zurechnungszeit dieser Gruppe zu erwarten wäre. Von der aktuellen Reform werden rund 2,6 Millionen Erwerbsgeminderte profitieren.

In diesem WochenberichtinfoDie Autor*innen danken der Joint-Programming-Initiative „More Years Better Lives“ im Projekt PENSINEQ (Unequal ageing: life-expectancy, care needs and reforms to the welfare state) für finanzielle Unterstützung. werden die Einkommensverbesserungen für die betroffene Gruppe abgeschätzt und die Wirkung auf das Armutsrisiko untersucht. Die empirischen Analysen stützen sich im Wesentlichen auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das am DIW Berlin erhoben wirdinfoDie verwendeten Daten stammen aus der Befragungswelle 2020; die erfragten Einkommensdaten beziehen sich auf 2019. Zum SOEP vgl. Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239, Nr. 2, 345–360 (online verfügbar)., und den prozessproduzierten Daten der Rentenversicherung.

Erwerbsminderungsrenten entwickelten sich schwach

Die Regelungen zur Erwerbsminderung wurden im Jahr 2000 mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit grundlegend reformiert.infoBundesgesetzblatt Teil I, Nr. 57 (2000), 1827–1845 (online verfügbar). Nach der Reform sanken die RentenzahlbeträgeinfoDer Rentenzahlbetrag bezeichnet die Bruttorente abzüglich der Beiträge für Pflege- und Krankenversicherung. Diese Beiträge sind über den hier betrachteten Zeitraum gestiegen und erklären einen Teil der schwachen Entwicklung der Zahlbeträge. Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung, den Rentner*innen alleine tragen müssen, ist bis 2021 von 1,7 auf 3,05 Prozent gestiegen. bei neu zugehenden Renten deutlich (Abbildung 1). Rentenbestand und neu zugehende Renten haben nominal, verglichen mit dem hier betrachteten Ausgangsjahr 2000, erst 2014 beziehungsweise 2017 wieder das Niveau des Ausgangsjahres von gut 700 Euro erreicht. In den vergangenen Jahren kam es dann zu einer positiven Entwicklung durch die jüngeren Reformmaßnahmen. Im Schnitt lag der Rentenzahlbetrag 2021 um etwa 30 Prozent (Rentenzugang) beziehungsweise 22 Prozent (Rentenbestand) über dem Niveau des Jahres 2000. Allerdings ist die Kaufkraft der gezahlten Renten trotz der jüngsten Verbesserungen über die Zeit gesunken: Nach dem Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamts sind die Preise seit dem Jahr 2000 um etwa 37 Prozent gestiegen und damit deutlich stärker als die Rentenzahlbeträge.

Transferabhängigkeit deutlich gestiegen

Unter den Erwerbsgeminderten befinden sich überproportional viele Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischem Status. So ist etwa das Erwerbsminderungsrisiko für Geringqualifizierte deutlich höher als bei Menschen mit höherem Bildungsniveau, und dieser Unterschied steigt mit dem Alter an.infoDaniel Kemptner (2014): Erwerbsminderung als Armutsrisiko. DIW Roundup 8 (online verfügbar). Zudem führt der schlechte Gesundheitsstatus der Betroffenen häufig zu unsteten Erwerbsverläufen mit niedrigem Erwerbseinkommen.infoJanina Söhn und Tatjana Mika (2016): Die erwerbsbiografische Vorgeschichte der Frühverrentung wegen Erwerbsminderung. Zeitschrift für Sozialreform, 4, 461–492 (online verfügbar).

Parallel zur schwachen Entwicklung der Rentenzahlbeträge ist der Anteil der Erwerbsgeminderten (im Rentenbestand), die Leistungen der Grundsicherung beziehen, gestiegen. Ihr Anteil lag im Jahr 2003infoDie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurde 2003 eingeführt und löste das System der Sozialhilfe für bestimmte Gruppen ab. Bei der Grundsicherung entfällt der Rückgriff auf die nahen Angehörigen, außer sie verdienen mehr als 100000 Euro pro Jahr. noch bei rund vier Prozent und nahm bis 2014 auf etwa 15 Prozent zu (Abbildung 2).infoDa nur Personen mit unbefristeter und voller Erwerbsminderungsrente Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung haben, dürfte die Quote der Transferempfangenden noch höher sein. Gut 27 Prozent bezogen 2021 eine befristete Erwerbsminderungsrente oder eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Diese Personen könnten im Bedarfsfall Sozialhilfe oder Leistungen nach dem SGB II beantragen. Zum Vergleich: Bei Personen im Alter von 65 und älter lag der Anteil mit Grundsicherungsbezug bei gut drei Prozent, unter denen, die eine Rente aus der GRV bezogen, sogar unterhalb von drei Prozent. Die Grundsicherungsquote von dauerhaft Erwerbsgeminderten lag bei Männern bei 18 Prozent im Jahr 2021 und damit deutlich höher als bei Frauen mit zwölf Prozent. Vermutlich ist der Einkommensausfall für den Haushalt im Durchschnitt größer, wenn das Einkommen des Mannes wegbricht.

Erwerbsgeminderte sind hohem Armutsrisiko ausgesetzt

Es ist nicht überraschend, dass auch statistische Armutsmaße in der Gruppe der Erwerbsgeminderten überdurchschnittlich hoch ausfallen (Tabelle).infoFrühere Studien haben bereits auf das hohe Armutsrisiko in dieser Gruppe hingewiesen, zum Beispiel Stefanie Märtin, Pia Zollmann und Rolf Buschmann-Steinhage (2012): Sozioökonomische Situation von Personen mit Erwerbsminderung: Projektbericht I zur Studie. DRV Schriften 99, 46ff (online verfügbar). So lag die Armutsrisikoquote laut SOEP-Daten im Jahr 2019 bei rund 26 Prozent unter den Erwerbsgeminderten.infoDie Armutsrisikoquote misst den Anteil der Personen, deren Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren (Median) Nettoäquivalenzeinkommens liegt. Die Armutsquote misst den Anteil unterhalb von 50 Prozent des Medians. Das Nettoäquivalenzeinkommen wird unter Berücksichtigung der Größe des Haushaltes aus dem verfügbaren Gesamteinkommen abgeleitet. Dafür wird es durch die anhand der modifizierten OECD-Skala gewichtete Anzahl der Haushaltsmitglieder geteilt, vgl. DIW Glossar zum Äquivalenzeinkommen (online verfügbar). Diese Gruppe umfasst auch Personen, die bereits älter als 65 Jahre sind und deren Renten in Altersrenten umgewandelt worden sind. Betrachtet man nur Personen bis 65 Jahre, lag die Armutsrisikoquote sogar bei 34 Prozent. Als streng arm galten etwa 22 Prozent der Personen bis 65; diese Personen verfügten über weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens. Bei den älteren Erwerbsgeminderten ab 65 Jahren lagen diese Quoten mit 21 beziehungsweise elf Prozent deutlich niedriger. In der Gruppe der von der jetzigen Reform Begünstigten betrug die Armutsrisikoquote 29 Prozent und die Armutsquote 18 Prozent. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung lag im Jahr 2019 das Armutsrisiko bei 16 Prozent, die Armutsquote bei zehn Prozent.infoEin Grund dieser negativen Entwicklung, neben allgemeinen Leistungseinschränkungen, war der Rückgang der durchschnittlichen Rentenanwartschaften in dieser Gruppe. Im Jahr 2000 erreichten Erwerbsgeminderte im Rentenzugang immerhin noch 0,9 Entgeltpunkte pro Versicherungsjahr. Bis 2014 sank dieser Durchschnittswert um fast 20 Prozent auf 0,73 Entgeltpunkte. Seitdem hat er sich leicht erholt und lag 2021 bei 0,789 Entgeltpunkten. Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund (2022): Rentenversicherung in Zeitreihen. DRV-Schriften Band 22, 128 (online verfügbar).

Tabelle: Einkommen und Armutsrisiken vor und nach Reform

Einkommen und Zahlbetrag in Euro, Armutsrisiko- und Armutsquote in Prozent

Einkommen/ Quoten Erwerbsgeminderte Gesamte Bevölkerung
Alle Begünstigte1 Unter 65 65 und älter
Vor Reform
Nettoäquivalenzeinkommen 1769 1787 1717 1808 2289
Rentenzahlbetrag 1038 968 868 1166 281
Armutsrisikoquote 26 29 34 21 16
Armutsquote 15 18 22 11 10
Nach Reform
Nettoäquivalenzeinkommen 1794 1829 1740 1834 2291
Rentenzahlbetrag 1078 1034 912 1204 284
Armutsrisikoquote 25 27 32 19 16
Armutsquote 14 16 21 9 10

1 Die Begünstigten der Reform 2024 sind Erwerbsgeminderte, die zwischen 2001 und 2018 in Erwerbsminderungsrente gegangen sind und immer noch Rente beziehen.

Anmerkungen: Die Einkommensdaten beziehen sich auf 2019. Das Nettoäquivalenzeinkommen wird unter Berücksichtigung der Größe des Haushaltes aus dem verfügbaren Gesamteinkommen abgeleitet. Rentenzahlbetrag: Bruttorente minus Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Armutsrisikoquote (Armutsquote): Anteil der Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 (50) Prozent des Medians. Gewichtete Angaben.

Quelle: SOEPv37, eigene Berechnungen auf Basis des Mikrosimulationsmodell STSM.

Knapp drei Millionen Menschen werden durch Reform bessergestellt

Laut den SOEP-Daten haben im Jahr 2019 etwa 2,6 Millionen Menschen Anspruch auf eine pauschale Anhebung der Erwerbsminderungsrenten – davon knapp zwei Millionen auf die pauschale Anpassung um 7,5 Prozent (Rentenzugang zwischen Januar 2001 und Juni 2014) und etwa 650000 (Rentenzugang zwischen Juli 2014 und Dezember 2018) auf eine Anpassung um 4,5 Prozent.infoDie Bundesregierung schätzt in ihrem Gesetzentwurf, dass etwa drei Millionen Renten angehoben werden, vgl. Bundestagsdrucksache 20/1680 vom 06.05.2022 (online verfügbar). Bei der hochgerechneten Zahl aus dem SOEP ist zu berücksichtigen, dass keine Auslandsrenten oder Hinterbliebenenrenten betrachtet werden. Hinzu kommt eine gewisse Stichprobenunsicherheit. Die Anhebung der Bruttorenten ist nicht gleichbedeutend mit einer äquivalenten Anhebung des Nettoeinkommens dieser Haushalte. Von den Bruttorenten werden Sozialbeiträge für Pflege- und Krankenversicherung gezahlt, gegebenenfalls Steuern und, wenn die Personen im Leistungsbezug der Grundsicherung sind, wird ihr Einkommen auf die Grundsicherung angerechnet.infoZwar gibt es ab dem Jahr 2021 Freibeträge für Einkommen aus der GRV, wenn Personen mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten haben, aber da die Zurechnungszeit nicht zu den Grundrentenzeiten zählt, dürfte sich nur eine kleine Minderheit für diese Freibeträge qualifizieren. Zudem ist die Rente nur ein Bestandteil des Haushaltseinkommens.

Erwerbsminderungsrenten steigen um sieben Prozent, verfügbares Einkommen nur um zwei

Auf Basis des Mikrosimulationsmodells STSM können die Änderungen des verfügbaren Nettoeinkommens simuliert werden (Kasten 2). Die Renten der Begünstigten steigen im Durchschnitt um etwa 66 Euro, was einem relativen Anstieg von knapp sieben Prozent entspricht (Tabelle). Das war auch zu erwarten, da die meisten Begünstigten vom höheren Rentenzuschlag von 7,5 Prozent profitieren. Das Nettoäquivalenzeinkommen, also das haushaltsgewichtete Einkommen,infoHierzu teilt man das Nettoeinkommen eines Haushalts, in dem mindestens eine Person Erwerbsminderungsrente erhält, durch eine nach OECD-Skala gewichtete Anzahl der Haushaltsmitglieder. steigt in dieser Gruppe allerdings nur um 42 Euro, was einer Einkommenssteigerung von etwa zwei Prozent entspricht. Betrachtet man nicht nur die Begünstigten, sondern alle Erwerbsgeminderten, fallen die Effekte entsprechend geringer aus. In der Gesamtbevölkerung wirkt sich die Einkommensänderung dieser kleinen Gruppe nicht auf das durchschnittliche Einkommen oder das Armutsrisiko aus.

Die Datengrundlage dieses Wochenberichts bildet das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine jährliche repräsentative Haushaltsbefragung von rund 30000 Personen, die seit 1984 durchgeführt wird. Die Befragungsdaten enthalten den sozialrechtlichen Status der Personen als Selbstauskunft. Zur Identifikation der Erwerbsgeminderten wird als Indikator der Rentenbezug und das zum Zeitpunkt der Befragung erreichte Alter der Person genutzt. Hinzugezogen werden retrospektiv erfragte Biografiedaten, die es erlauben, den Rentenzugang vor Eintritt in die SOEP-Befragung zu identifizieren. So lässt sich auch die Gruppe der Erwerbsgeminderten im Rentenbestand abschätzen.infoEin ähnliches Vorgehen wurde auch in früheren Analysen zur Erwerbsminderungsrente mit dem SOEP verwendet, vgl. Geyer (2021), a.a.O., 21ff. In den Daten ist nicht nachvollziehbar, ob eine Hinterbliebenenrente aufgrund einer vorhergehenden Erwerbsminderungsrente gezahlt wurde. Diese Renten profitieren auch von der Aufwertung und verbessern die Einkommen der betroffenen Personen. Datengrundlage für die vorliegende Studie ist die Welle 2020 (v37) des SOEP.

Mit dem Mikrosimulationsmodell STSM lassen sich Einkommensteuern, Sozialversicherungsbeiträge und Sozialtransfers simulieren.infoViktor Steiner et al. (2012): Documentation of the Tax-Benefit Microsimulation Model STSM. Version 2012. DIW Data Documentation 63 (online verfügbar). Dazu enthält das STSM komplexe Simulationsmodule zu Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag, zu Sozialversicherungsbeiträgen sowie zu wesentlichen Sozialtransfers. Zusätzlich zum SOEP werden administrative Daten des Forschungsdatenzentrums der Rentenversicherung verwendet. Die Daten enthalten Informationen zum Rentenzugang und -wegfall von Erwerbsminderungsrenten in Deutschland.infoMehr Informationen zu den Daten finden sich auf der Website der Deutschen Rentenversicherung.

Das Armutsrisiko geht um acht Prozent zurück

Die Armutsrisikoquote der Gruppe der Begünstigten sinkt im Zuge der Reform um zwei Prozentpunkte von 29 auf 27 Prozent, die Armutsquote geht von 18 auf 16 Prozent zurück. Das entspricht einem relativen Rückgang von immerhin knapp acht Prozent beim Armutsrisiko und sogar zwölf Prozent bei der Armutsquote. Etwas kleinere absolute Änderungen zeigen sich für die Gruppen der jungen und älteren Erwerbsgeminderten, in denen sich auch Erwerbsgeminderte befinden, die nicht von der jüngsten Reform profitieren. Das heißt, dass das Armutsrisiko auch nach der Reform insbesondere bei den unter 65-jährigen Erwerbsgeminderten mit 32 Prozent sehr hoch bleibt.

Ein großer Teil der Erwerbsgeminderten wird die Leistungsverbesserung nicht erleben

Ein kritischer Aspekt der Reform ist ihre späte Umsetzung. Bei den Reformen der Jahre 2014, 2018 und auch noch 2019 wurden lediglich Leistungen beim Rentenzugang verbessert. Der Rentenbestand muss nach der Reform aus dem Jahr 2022 aus verwaltungstechnischen Gründen noch bis Juli 2024 warten. Das bedeutet gleichzeitig, dass sich die Gruppe der Begünstigten bis dahin verkleinert. Von der Reform 2024 profitieren nur Personen, die gesundheitsbedingt zwischen Januar 2001 und Dezember 2018 in Erwerbsminderungsrente gegangen sind. Laut Rentenzugangsstatistik gingen in diesem Zeitraum etwa 3,1 Millionen Personen neu in eine Erwerbsminderungsrente. Zum Zeitpunkt der Erhebung der SOEP-Daten im ersten Halbjahr 2020 wurde diese Gruppe auf 2,6 Millionen Personen geschätzt. Das bedeutet, dass sich diese Gruppe über die Zeit um etwa 500000 Personen reduziert hat und sich auch bis Mitte 2024 noch verkleinern wird.

Menschen mit Erwerbsminderung haben eine deutlich unterdurchschnittliche Lebenserwartung, zudem wird etwa die Hälfte aller Erwerbsminderungsrenten nur befristet gewährt. Daher kommen nicht mehr alle derzeit Berechtigten in den Genuss der Rentenerhöhung ab Juli 2024.

Ein erheblicher Teil der Erwerbsminderungsrenten fällt schon einige Jahre nach Rentenbeginn wieder weg (Abbildung 3). Beispielhaft kann dies anhand von Daten des Rentenzugangs von Männern im Jahr 2013 gezeigt werden.infoBei Frauen lassen sich vergleichbare Muster beobachten, allerdings ist die Sterblichkeit geringer. Für eine ausführliche Analyse des Abgangsgeschehen vgl. Sascha Drahs, Tino Krickl und Edgar Kruse (2022): Rückkehr von Erwerbsminderungsrentnern ins Erwerbsleben: Ergebnisse aus Längsschnittuntersuchungen der Statistikdatensätze der Deutschen Rentenversicherung. RVaktuell 3, 4–18 (online verfügbar). In diesem Jahr gingen gut 90000 Männer in Erwerbsminderungsrente. Nach geltender Rechtslage würden sie ab Juli 2024 Anspruch auf eine Aufwertung um 7,5 Prozent ihrer Rentenanwartschaften haben. Allerdings beziehen acht Jahre nach Zugang insgesamt nur noch etwa 56000 (62 Prozent) der Bezugsberechtigten weiterhin eine Erwerbsminderungsrente. Ein knappes Drittel profitiert nicht mehr von der Reform, da sie entweder gestorben sind (das trifft auf 17 Prozent oder 15000 Personen zu) oder weil die Erwerbsminderungsrente nur befristet gewährt wurde. So wurden 2013 bei Männern 54 Prozent der neu zugehenden Erwerbsminderungsrenten befristet gewährt. Bei befristeten Erwerbsminderungsrenten wird die Rente häufig durch einen Ablauf oder sonstigen Wegfall des Rentenanspruches beendet. Ein beachtlicher Anteil der Renten endet jedoch auch durch den Tod der betroffenen Person.infoDies ist besonders häufig bei Personen der Fall, die eine Erwerbsminderungsrente wegen Neubildungen (Krebs) oder aufgrund von Kreislauferkrankungen erhalten. Bei den befristeten Renten macht dies 44 Prozent des Wegfalls aus. Unbefristete Renten enden fast ausschließlich durch Tod, nur wenige nehmen wieder eine Beschäftigung auf.infoDadurch können gegebenenfalls Ansprüche auf Hinterbliebenenleistungen entstehen, die in diesem Bericht nicht betrachtet werden.

Fazit: Risiko der Erwerbsminderung senken und Wiederaufnahme von Erwerbstätigkeit erleichtern

Erwerbsminderung ist neben den gesundheitlichen Einschränkungen auch ein zentrales Einkommensrisiko für Personen im Erwerbsalter. Das Armutsrisiko von Erwerbsgeminderten ist deutlich höher als im Durchschnitt der Bevölkerung, und trotz der sinnvollen Leistungsanpassungen der GRV in den vergangenen Jahren wird das Armutsrisiko auch nach der Reform 2024 hoch bleiben.

Die Anhebung der Zahlbeträge im Bestand der Erwerbsminderungsrente ist ein wichtiger, wenn auch deutlich zu später Schritt. Hätte man die Verbesserungen beim Rentenzugang 2014 und 2019 auf den Bestand übertragen, hätte man die Renten eigentlich um etwa das Doppelte der jetzt geplanten Anhebung anpassen müssen. Allerdings ist der Spielraum für Leistungsverbesserungen allein bei der Erwerbsminderungsrente beschränkt. Bereits heute kann es für viele ältere Beschäftigte kurz vor Erreichen der Altersgrenze finanziell günstiger sein, in eine Erwerbsminderungsrente zu gehen als in eine Altersrente mit Abschlägen.

Ein Problem bei der Erwerbsminderungsrente ist auch, dass der Kreis der Bezugsberechtigten eher zu den einkommensschwachen Gruppen der Gesellschaft zählt. Daher kann das Armutsrisiko nicht allein durch die GRV kompensiert werden. Kurzfristig gibt es also keine einfachen Antworten auf das hohe Armutsrisiko der Betroffenen. Die Sätze der Grundsicherung ließen sich zwar anheben oder die Voraussetzungen des Grundrentenzuschlags anpassen, so dass Erwerbsgeminderte sich einfacher dafür qualifizieren könnten.infoDer Grundrentenzuschlag wurde im Jahr 2021 eingeführt. Er gewährt einen Zuschlag für Renten, wenn mindestens 33 Jahre an Grundrentenzeiten vorliegen (§ 76 g SGB VI). Zu den Grundrentenzeiten zählen unter anderem Pflichtbeitragszeiten, Beitragszeiten aufgrund von Kindererziehung und Pflege, aber keine Zurechnungszeiten, so dass sich viele Erwerbsgeminderte nicht für den Zuschlag qualifizieren. Der Zuschlag selbst errechnet sich nach einem komplizierten Verfahren aus der individuellen Beitragshistorie. Zu den Details vgl. Johannes Geyer, Peter Haan und Michelle Harnisch (2020): Zur Wirkung der Grundrente und der Mütterrente auf die Altersarmut. Arbeitspapier 07/2020, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (online verfügbar). Besser wäre es aber, wenn es erstens gelänge, mit präventiven Maßnahmen das Risiko der Erwerbsminderung weiter zu senken und zweitens den Wiedereintritt in Erwerbstätigkeit stärker zu fördern. Dafür wäre es unter anderem sinnvoll, die Risiken bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu senken. Der Zugang zum Status der Erwerbsminderung ist häufig langwierig und nur mit erheblichem Aufwand für die Betroffenen zu erlangen. Bei Wiederaufnahme einer Beschäftigung besteht die Gefahr, dass sie diesen Status verlieren, ihre Rückkehr auf den Arbeitsmarkt aber nicht erfolgreich verläuft. Diese fehlenden Anreize sind auch angesichts des steigenden Bedarfs an Arbeitskräften nicht sinnvoll.

Im Hinblick auf das politisch angestrebte Mehrsäulensystem gilt es, das Risiko der Invalidität in der privaten oder betrieblichen Altersvorsorge umfassender zusätzlich abzusichern. Wie das zu bezahlbaren Konditionen gelingen kann, ist eine bisher unterbelichtete, aber trotzdem sehr relevante Frage, die stärker in den Fokus der Diskussionen zur Zukunft des Alterssicherungssystems gerückt werden sollte.

Annica Gehlen

Doktorandin in der Abteilung Staat

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

Peter Haan

Abteilungsleiter in der Abteilung Staat



JEL-Classification: D31;H55;I14
Keywords: disability pension, poverty, pension reform
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-17-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/273584

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