Wer das Rentenalter erhöht, vergrößert die Zahl der Erwerbsgeminderten

Blog Marcel Fratzscher vom 8. Mai 2023

4,5 Millionen Menschen beziehen eine Erwerbsminderungsrente. Doch viele von ihnen sind von Armut bedroht. Und künftige Reformen könnten die Situation noch verschärfen.

Die Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter wird stetig lauter. In der Tat macht der Übergang der Babyboomer in die Rente eine grundlegende Reform erforderlich, die einerseits auskömmliche Renten gewährleistet und andererseits junge Menschen nicht überlastet.

Ein blinder Fleck in dieser Diskussion ist jedoch, dass jede und jeder fünfte Beschäftigte durch eine Erwerbsminderung – verursacht durch Unfall, Erkrankung oder Behinderung – gar nicht oder nicht voll bis zum Renteneintritt erwerbstätig bleiben kann. Wird das Renteneintrittsalter erhöht, bedeutet dies somit, dass ein immer größerer Anteil der Beschäftigten in die Erwerbsminderung rutscht. Und damit wird auch das Armutsrisiko für immer mehr Menschen zunehmen. Dieses Dilemma muss die Bundesregierung auflösen.

Dieser Text erschien am 5. Mai 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Eine neue Studie des DIW Berlin zeigt ernüchternde Zahlen: 4,5 Millionen Menschen in Deutschland beziehen heute entweder eine Erwerbsminderungsrente (sind also bereits vor dem Renteneintrittsalter erwerbsgemindert) oder waren erwerbsgemindert und sind nun im Ruhestand. Das Armutsrisiko (definiert als Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens) dieser Menschen liegt bei rund 26 Prozent und ist damit fast doppelt so hoch wie für die gesamte Bevölkerung (16 Prozent). Für Menschen unter 65 Jahren liegt das Armutsrisiko sogar bei 34 Prozent, das heißt ein Drittel aller Erwerbsgeminderten vor der Altersrente ist armutsgefährdet.

Dies ist ein katastrophales Bild, denn jeder und jede Beschäftigte erwirbt explizit durch die eigenen Rentenbeiträge auch eine Versicherung gegen Erwerbsminderung. Aber nicht nur, dass überproportional viele Menschen mit niedrigen Einkommen in die Erwerbsminderung rutschen, diese Versicherung ist zudem so gering, dass viele durch eine Erwerbsminderung in Armut geraten und aus dieser Lage ihr Leben lang nicht mehr herauskommen.

Bisherige Reformen gingen nicht weit genug

Die Bundesregierung hat eine Reform beschlossen, die nächstes Jahr in Kraft tritt und dieses Problem adressieren soll. Denn bisherige Reformen von 2014 und 2019 hatten lediglich erwerbsgeminderte Neurentner*innen finanziell etwas bessergestellt. Wer aber zu dem Zeitpunkt bereits erwerbsgemindert war, ging damals leer aus. Dies soll nun korrigiert werden. Allerdings sind die Erhöhungen der Rentenzahlbeträge so gering – um durchschnittlich 66 Euro (von 968 auf 1.034 Euro) –, dass es nur knapp die Hälfte der vergangenen Benachteiligungen ausgleicht. Dadurch wird auch das Armutsrisiko der erwerbsgeminderten Menschen nur sehr geringfügig – um zwei Prozentpunkte – abnehmen. Gleichzeitig sind die Kosten selbst für diese geringen Rentenerhöhungen mit jährlich 2,6 Milliarden Euro enorm groß – was nicht verwundert bei der riesigen Zahl an Rentner*innen mit Erwerbsminderungen.

Menschen mit geringen Löhnen haben eine höhere Belastung

Die Politik steht jedoch nicht nur vor dem Problem, dass eine adäquate Kompensation von Menschen mit Erwerbsminderung extrem teuer ist. Sondern sie muss ein weiteres großes Dilemma lösen: Wenn das Renteneintrittsalter weiter erhöht werden soll, so wie von vielen gefordert, dann werden künftig noch mehr Menschen von Erwerbsminderung und Armutsrisiko betroffen sein, weil immer mehr Menschen es eben nicht gesund bis zum höheren Renteneintrittsalter schaffen.

Dies trifft vor allem Menschen mit geringen Einkommen überproportional stark. Denn es sind meist Menschen mit geringen Löhnen, die durch ihre Berufe ein besonders hohes Risiko an Unfällen und körperlicher und psychischer Belastung haben. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters würde also unweigerlich die Anzahl der erwerbsgeminderten Beschäftigten erhöhen und gleichzeitig die Ungleichheit und soziale Polarisierung innerhalb der Gesellschaft verstärken.

Dringender Handlungsbedarf für die Politik

Die Politik sollte drei Lehren aus dieser Problematik ziehen. Zum Ersten muss sie die systematische Schlechterstellung von Menschen mit Erwerbsminderung korrigieren und in einem weiteren Schritt die Renten für die betroffenen Menschen deutlich erhöhen.

Als Zweites muss die Politik der Prävention von Erwerbsminderung ein viel stärkeres Gewicht geben. Menschen müssen frühzeitig mehr Unterstützung zur gesundheitlichen Prävention und für Qualifizierung und Fortbildung erhalten. Und sie brauchen mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit und ihren Aufgaben. Das Ziel muss sein, die Anzahl der Menschen mit Erwerbsminderung deutlich zu reduzieren. Somit könnten nicht nur mehr Menschen ein erfüllteres privates und berufliches Leben führen, sondern der Staat würde viel Geld sparen und könnte betroffene Menschen besser absichern.

Als Drittes muss das Problem der Erwerbsminderung explizit in einer künftigen Rentenreform berücksichtigt werden. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters für alle wird nicht funktionieren, auch weil ein erheblicher Teil der damit verbundenen finanziellen Entlastung durch einen Anstieg der Erwerbsminderung verloren gehen würde. Eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters zusammen mit einer besseren Prävention muss daher Teil einer solchen Reform sein.

Reform muss sozial ausgewogen sein

Die Bundesregierung steht zurzeit vor großen Herausforderungen. Da ist es verständlich, dass sie die unausweichliche und wichtige Rentenreform auf die lange Bank schieben will. Aber die Dringlichkeit ist groß: Die Politik muss jetzt die Weichen für die Zukunft stellen und eine Reform der Rente vornehmen. Sie muss dies jedoch nicht nur finanziell klug, sondern auch sozial ausgewogen tun. Die Problematik der Erwerbsminderung muss dabei eine prominente Rolle spielen.

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