Schluss mit der Vollkaskomentalität der Unternehmen!

Blog Marcel Fratzscher vom 4. September 2023

Deutschland ist nur dann zukunftsfähig, wenn die Wirtschaft volle Verantwortung für ihr Handeln übernimmt – und sich die Politik nicht instrumentalisieren lässt.

Die Forderungen von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden nach Subventionen, Steuersenkungen und einem Industriestrompreis werden lauter. Die Rede ist von einer Deindustrialisierung und dem Niedergang des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Für viele sind die Schuldigen klar: Staat und Politik, die angeblich bei ihren Hilfen für die Wirtschaft versagen.

Die Verantwortung liegt jedoch in der Vollkaskomentalität der deutschen Wirtschaft: Ein Teil der Unternehmen erwartet, dass der Staat sie gegen Risiken absichert, existierende Strukturen zementiert und sie notfalls durch Subventionen stützt. Diese Vollkaskomentalität ist heute die größte Gefahr für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.

Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 1. September 2023 im Tagesspiegel.

Trotz der lauten Klagen der Wirtschaft: Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas – die Wirtschaft hat in den 2010er Jahren ein goldenes Jahrzehnt erlebt, die Unternehmen haben globale Marktanteile ausgebaut und hohe Gewinne eingefahren. Die deutsche Wirtschaft ist leistungsfähig. Aber Deutschland könnte wieder zum viel zitierten kranken Mann Europas werden, denn viele deutsche Unternehmen sind in wichtigen Zukunftstechnologien abgehängt: bei digitalen Plattformen und Halbleitern, bei Künstlicher Intelligenz und grünen Technologien.

 

Verantwortung liegt bei den Unternehmen

Die Politik hat dafür eine Mitverantwortung. Der Staat lebt von seiner Substanz, die öffentlichen Nettoinvestitionen sind seit 20 Jahren negativ, die digitale Infrastruktur und die Verkehrsinfrastruktur sind unzureichend für eine moderne Volkswirtschaft. Der Rückstand bei Bildung und Innovation gegenüber den Wettbewerbern wird größer. Bürokratie und Regulierung haben zugenommen und schaffen Unsicherheit und fehlende Planbarkeit für Unternehmen.

Die größere Verantwortung für den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und die drohende Deindustrialisierung liegt jedoch bei den Unternehmen. Viele deutsche Industriekonzerne sind in den vergangenen 20 Jahren drei große Risiken eingegangen, die sich nun rächen. Zum einen haben viele darauf gewettet, dass die ökologische und digitale Transformation erst in vielen Jahren oder in Jahrzehnten für sie relevant sein würde. Deswegen haben sie sie schlichtweg verschlafen.

Viel zu wenig in Innovationsfähigkeit investiert

Die deutsche Automobilbranche hat ihren Wettbewerbsvorteil beim Verbrennungsmotor ausgeschlachtet und dabei den Umstieg auf die E-Mobilität versäumt. Viele Firmen hinken außerdem bei der Digitalisierung hinterher und haben viel zu wenig in ihre Innovationsfähigkeit investiert.

Zweitens sind zahlreiche große Konzerne aberwitzig hohe Risiken mit ihren Investitionen in China oder in Russland eingegangen. Sie haben sich dadurch in eine enorme Abhängigkeit begeben. Volkswagen erzielt 40 Prozent seiner Gewinne in China, die anderen Automobilhersteller nur unwesentlich weniger. Die Chemieunternehmen – nicht die Politik – waren die treibende Kraft hinter der viel zu hohen Abhängigkeit von russischem Gas, selbst dann noch, als Putin seine Kriege und Konflikte eskaliert hat.

Der Staat verstand sich als verlängerter Arm der Wirtschaft

Und als Drittes haben sich viele Unternehmen in die Abhängigkeit von hoch konzentrierten Lieferketten begeben – nicht selten mit unsicheren Partnern —, anstatt ihre Handelsbeziehungen und Lieferketten zu diversifizieren.

Was erklärt dieses Verhalten? Eine zentrale Rolle spielt die Vollkaskomentalität, mit der viele, vor allem große deutsche Konzerne ihre Entscheidungen getroffen haben und noch immer treffen. Die riskanten Entscheidungen vieler Unternehmens- und Konzernlenker sind nicht irrational, sondern wohl kalkuliert: Kaum ein Staat in der westlichen Welt hat sich in den vergangenen 70 Jahren so sehr als verlängerter Arm seiner Wirtschaft verstanden wie Deutschland. Kein Land hat in Krisenzeiten so riesige Subventionsprogramme und finanzielle Hilfen für die eigenen Unternehmen ausgerollt.

Viel mehr Hilfen als andere europäische Staaten

Allein in den vergangenen 18 Monaten hat der deutsche Staat 350 Milliarden Euro an wirtschaftlichen Hilfen bereitgestellt, um vor allem die Unternehmen im Land zu stützen – auch wenn nicht alle Gelder davon abgerufen wurden. Und auch in der Corona-Pandemie war die Bundesregierung mit ihren Hilfen spitze – so sehr, dass viele der europäischen Nachbarn über Wettbewerbsverzerrung und unfaire Vorteile für deutsche Unternehmen klagten. Auch in der globalen Finanzkrise 2008/09 hat kaum ein Staat in Europa so viel Geld zur Rettung der Banken aufgebracht.

Weniger Wettbewerb und Innovation

Doch die Vollkaskomentalität enthält drei grundlegende Widersprüche zur sozialen Marktwirtschaft. Zum einen tragen die weitreichenden Garantien des Staates für große Unternehmen eher Züge von Sozialismus als von Marktwirtschaft. Unternehmen haben sich daran gewöhnt und in der Krise werden ihre Rufe lauter, der Staat möge existierende Strukturen zementieren und starke Verluste verhindern.

Das Resultat ist weniger Wettbewerb und Innovation. Eine Volkswirtschaft ist nur dann zukunftsfähig, wenn Unternehmen auch pleitegehen und neue Firmen entstehen können. Die Politik muss die Transformation zulassen und darf sie nicht bremsen. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Innovation, gute Arbeitsplätze und einen attraktiven Wirtschaftsstandort.

Perverses Risikoverhalten

Der zweite Widerspruch der Vollkaskomentalität besteht in der Diskrepanz zwischen Anspruch und Verantwortung. Manche Konzerne haben den Anspruch, bei Erfolg die Gewinne zu privatisieren, bei Misserfolg die Verluste jedoch zu sozialisieren, also auf die Gesellschaft umzulegen. Das hat zu dem perversen Risikoverhalten beigetragen, mit dem sich deutsche Unternehmen in die hohe Abhängigkeit von China, russischem Gas und hoch spezialisierten Lieferketten begeben haben.

Für Staatsschulden wollen Unternehmen nicht aufkommen

Und darin steckt der dritte Widerspruch: Manche Unternehmen und Verbände fordern Schutz und Wirtschaftshilfen vom Staat, wollen jedoch auch in guten Zeiten für die damit verbundenen Kosten und steigenden Staatsschulden nicht aufkommen. Gerade in der Wirtschaft hat sich das Narrativ eines übergriffigen Staates und einer viel zu hohen Steuerbelastung durchgesetzt: Deutschland sei ein Hochsteuerland und der Staat müsse die Abgaben für Unternehmen senken.

Beides geht jedoch nicht zusammen. Wie bei jeder Versicherung bedeuten Krise und Schadensfall, dass die Versicherungsprämie – also die Steuern – steigen muss. Nicht wenige sehen dafür jedoch die Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht. Das Klagen über einen zu großen Sozialstaat und zu viel Umverteilung von Reich zu Arm ist ein weiteres populäres, aber falsches Narrativ. Die Vollkaskomentalität der Wirtschaft führt zu einer Umverteilung von Risiken und Kosten von Unternehmen zu Bürgern und von Reich zu Arm.

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