Blog Marcel Fratzscher vom 5. März 2024
Unzählige Menschen verzichten trotz Anspruch auf Sozialhilfe – aus Angst vor Stigmatisierung. Der Staat spart dadurch zwar Milliarden, doch der Schaden ist groß.
Die Behauptung, die Sozialausgaben in Deutschland seien zu großzügig und der Staat müsse Leistungen beschneiden, setzt sich zunehmend im öffentlichen Diskurs durch. Was dabei aber oft vergessen wird: Viele Menschen machen ihre Ansprüche auf soziale Leistungen gar nicht geltend. Das schadet nicht nur den Betroffenen, sondern letztlich auch der Gesellschaft und dem Sozialstaat. Es ist höchste Zeit, den Sozialstaat proaktiver zu gestalten.
Diese Kolumne erschien am 1. März 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Dieses Narrativ widerspricht fast allen Fakten. Denn trotz vieler Verbesserungsmöglichkeiten ist der deutsche Sozialstaat effektiv und in vieler Hinsicht gibt es heute weniger Bedürftige als vor 15 oder vor 30 Jahren. Der Niedriglohnsektor ist den vergangenen zehn Jahren deutlich geschrumpft, die Arbeitslosenquote ist gering. Die demografische Alterung der Gesellschaft bedeutet, dass heute fast zwei Drittel des Sozialbudgets für Alter und Gesundheit ausgegeben wird, dagegen weniger als fünf Prozent für Bürgergeld und Arbeitslosigkeit. Der Anstieg der Sozialausgaben ist somit nicht einer vermeintlichen Faulheit oder fehlenden Leistungsbereitschaft der Menschen – wie manche Politiker gerne behaupten – geschuldet, sondern primär der Alterung unserer Gesellschaft.
Die Diskussion um den Sozialstaat wird immer mehr von Populismus bestimmt. Immer mehr Menschen glauben falschen Behauptungen wie, dass sich viele Leistungsbezieher*innen nicht genug anstrengen würden und die Sozialleistungen zu hoch seien. Mittlerweile schlagen immer mehr Menschen in Politik und Wirtschaft vor, den Sozialstaat zu beschneiden, und behaupten, dies sei der einzige Weg, um finanziellen Spielraum für Entlastungen von Unternehmen und Steuerzahlenden zu schaffen. Zuletzt forderte etwa Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), wegen der Finanzprobleme der Bundesregierung ein mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben einzuführen. Auch der Widerstand gegen die Erhöhung des Bürgergelds um 62 Euro im Monat war beachtlich. Und die FDP verhindert höhere Leistungen für von Armut bedrohte Kinder als Teil der Kindergrundsicherung auch mit dem Argument, dies sei zu teuer. Kurzum: Der Sozialstaat wird zunehmend als wirtschaftliche Bremse und Problem für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands gesehen.
Eine weithin ignorierte Tatsache ist dabei, dass der deutsche Staat jedes Jahr viele Milliarden Euro an Sozialausgaben spart, weil Menschen auf die ihnen zustehenden sozialen Leistungen verzichten. Eine Studie des DIW Berlin aus dem Jahr 2019 beispielsweise schätzt, dass 60 Prozent aller Rentner*innen, die Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben, diesen gar nicht geltend machen. Das sind etwa 625.000 Haushalte. Beim Bürgergeld könnte es anderen Studien zufolge mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten sein und beim Kinderzuschlag sogar zwei Drittel, die auf Sozialleistungen verzichten.
Beachtlich ist dabei der Schaden, der bei den Betroffenen entsteht: Beispiel Grundsicherung im Alter – im Schnitt erhöht die staatliche Leistung das Haushaltseinkommen der Rentner*innen um fast 30 Prozent. Wer darauf verzichtet, schlägt mehrere Hundert Euro im Monat aus, obwohl meist keine anderen Einkommensquellen oder Vermögen vorhanden sind. Denn diese werden bei der Grundsicherung angerechnet.
Wieso sollten also so viele Menschen auf ihre finanziellen Ansprüche verzichten? Zumal viele durch ihre Beiträge auch eine Leistung für diese Versicherung erbracht haben.
Eine Studie der Ernst-Abbe-Hochschule Jena aus dem vergangenen Jahr findet Antworten. So sind nicht Unwissen oder komplizierte Formulare die Hauptgründe für die geringe Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter. Vier andere Erklärungen sind bedeutsamer: Ein erster Grund ist die Stigmatisierung von Menschen, die soziale Leistungen erhalten. Viele Betroffene geben an, dass sie sich bewusst von Bezieher*innen abgrenzen wollen, die solche staatliche Hilfe unbegründet erhalten, aber ohne dass sie selbst wissen, auf wen und wie viele dies zutreffen mag.
Eine zweite Erklärung ist die Angst vor einer Überforderung und vor der Belastung, die ein Bezug bedeuten könnte.
Die dritte und vierte Erklärung betreffen das Selbstbild der Anspruchsberechtigten. Viele sehen im Bezug der Grundsicherung im Alter ein Eingeständnis des persönlichen Scheiterns. Wer möchte nach einem arbeitsreichen Leben zugeben, dass die eigenen Bemühungen nicht ausreichen, um im Alter davon leben zu können? Zudem verzichten zahlreiche Anspruchsberechtigte, weil es ihnen wichtig ist, selbstbestimmt und unabhängig zu leben. Es geht ihnen also um ihr Selbstbild, den eigenen Respekt für ihren Lebensstil und ihre Unabhängigkeit.
Die Studie zeigt noch weitere Aspekte auf. Beispielsweise treffen diese Erklärungen nicht nur auf Anspruchsberechtigte zu, die auf Leistungen verzichten, sondern auch auf Menschen, die bisher nicht auf soziale Leistungen angewiesen sind. Das verdeutlicht, wie sehr Menschen, die Sozialleistungen erhalten, in unserer Gesellschaft stigmatisiert werden – und diese Stigmatisierung erfolgt sowohl von Menschen, die ebenfalls in Armut leben, als auch von Menschen in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen.
Im Ergebnis spart der deutsche Sozialstaat sehr viel Geld dadurch, dass viele Menschen in Deutschland aus Scham, Angst und Selbstrespekt die ihnen zustehenden Leistungen ausschlagen. Härtere Sanktionen beim Bürgergeld mögen dem Staat gewisse Einsparungen bringen. Was der Staat durch die Nichtinanspruchnahme sozialer Leistungen spart, dürfte jedoch um ein Vielfaches höher sein. Zur Orientierung: Die Sanktionen zu verschärfen, soll etwa 170 Millionen Euro pro Jahr einbringen. Allein dass mehr als die Hälfte der Anspruchsberechtigten auf die Grundsicherung im Alter verzichten, spart dem Staat laut DIW-Studie schätzungsweise jedoch zwei Milliarden Euro ein.
Diese Einsparungen sind jedoch sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft und den Sozialstaat als Ganzes schädlich. Denn soziale Leistungen sollen Menschen vor Armut schützen und ihnen eine soziale Teilhabe ermöglichen. Dies ist essenziell, damit vor allem Menschen im erwerbsfähigen Alter wieder in Arbeit kommen und selbstbestimmt leben können.
Den kurzfristigen Einsparungen stehen somit langfristig deutlich höhere Sozialausgaben gegenüber. Dies zeigt, wie sinnvoll und dringend eine grundlegende Reform der Sozialsysteme in Deutschland ist. Wir brauchen einen Sozialstaat, der nicht nur verhindert, dass viele Menschen durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder geringe Einkommen auf ihn angewiesen sind, sondern auch dafür sorgt, dass alle die ihnen zustehende Unterstützung wirklich erhalten.
Ein proaktiver Sozialstaat sollte daher viel mehr bedingungslose Hilfen erbringen. In anderen Worten: Der Anspruch auf soziale Leistungen sollte mit einer bedingungslosen, automatischen Auszahlung verbunden sein. Dies wurde beispielsweise bei der Kindergrundsicherung versucht. Nur so kann der Teufelskreis aus Armut, Bedürftigkeit und Abhängigkeit von Sozialleistungen durchbrochen werden. Viele Länder, wie etwa Österreich bei der Mindestrente, machen uns vor, wie dies gelingen kann.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Logik und der Nutzen für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes in der öffentlichen Diskussion als Argumente gehört werden und dass die populistische Rhetorik beendet wird. Das Ausspielen verletzlicher Gruppen gegeneinander ist gefährlich.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Rente und Vorsorge , Ungleichheit , Verteilung