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Strommärkte nach Energiekrise stabilisiert – 80 Prozent erneuerbare Energien und Kohleausstieg bis 2030 erreichbar

DIW Wochenbericht 18 / 2024, S. 267-274

Mario Kendziorski, Lukas Barner, Claudia Kemfert, Christian von Hirschhausen, Enno Wiebrow

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  • Modellbasierte Analyse untersucht Entwicklung des deutschen Strommarkts im Energiekrisenjahr 2022 und bis 2030
  • Strommarkt in Deutschland hat Energiekrise und Abschaltung der letzten Kernkraftwerke gut überstanden, Versorgungssicherheit war stets gegeben
  • Preisspitzen wurden – neben kriegsbedingten Gaspreissteigerungen – vor allem durch Ausfälle von französischen Kernkraftwerken getrieben
  • Stromversorgung mit mindestens 80 Prozent erneuerbaren Energien ist im Jahr 2030 ohne Kern- und Kohlekraftwerke machbar
  • Dafür muss Ausstieg aus Kohle und Erdgas sowie Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt werden

„Das Ziel, dass wir bis 2030 mindestens 80 Prozent erneuerbare Energien haben, ist durchaus realistisch. Wichtig ist, dass das Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nachlässt. Dann können wir auch den Anteil von Kohlestrom bis 2030 ersetzen.“ Claudia Kemfert

Der deutsche Strommarkt hat sich gut vom Krisenjahr 2022 erholt. Die Energiepolitik sollte sich nun wieder auf den Ausbau erneuerbarer Energien fokussieren. Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Stromversorgung auch nach Abschalten der Kernkraftwerke sicher ist. Den Stromverbrauch durch 80 Prozent erneuerbare Energien zu decken, wie vom Erneuerbare-Energien-Gesetz für das Jahr 2030 vorgesehen, ist machbar, kostengünstig und klimapolitisch sinnvoll. Dies erfordert aber den zügigen Ausstieg aus Kohle und perspektivisch auch aus Erdgas. Das legen Szenarioanalysen nahe, die Preis- und Mengeneffekte sowie die Netzsituation auf dem deutschen Strommarkt für den Status Quo und für das Jahr 2030 nachvollziehen. Die Abschaltung von Kernkraftwerken war seit langem geplant und mitnichten ein relevanter Treiber der Strompreise. Vielmehr trug – neben den kriegsbedingten Gaspreissteigerungen – die erratische Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke zu Preisspitzen bei. Der politisch diskutierte Bau neuer Kernkraftwerke ist für die Energiewende in den kommenden Jahrzehnten irrelevant. Auch die Erdgaskrise ist vorbei. Neben dem Kohleausstieg ist auch der Erdgasausstieg integraler Bestandteil der Energiewende.

Das Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG 2023) sieht vor, dass bis 2030 mindestens 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen.infoGesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG 2023): § 1 Ziel des Gesetzes (online verfügbar, abgerufen am 8. April 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen, sofern nicht anders vermerkt). Bis zu 600 Terawattstunden (TWh) Strom müssen dafür bis 2030 jährlich aus erneuerbaren Energien erzeugt werden, aktuell sind es etwa 260 TWh. Dieses Ziel ist durch die Energiekrise des Jahres 2022 etwas in den Hintergrund politischer Prioritäten gerutscht. Inzwischen haben sich jedoch der deutsche und auch die europäischen Strommärkte stabilisiert, die Strompreise wie auch die Erdgaspreise sind etwa so hoch wie in der Vorkriegszeit (Abbildung 1). Somit wird die Sicht wieder frei für die nächsten anstehenden Schritte, insbesondere den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen sowie den Kohle- und anschließend den Erdgasausstieg voranzutreiben. Der Wochenbericht aktualisiert frühere modellbasierte SzenarioanalyseninfoClemens Gerbaulet et al. (2012): Abnehmende Bedeutung der Braunkohleverstromung: weder neue Kraftwerke noch Tagebaue benötigt. DIW Wochenbericht Nr. 48, 25–33 (online verfügbar); Mario Kendziorski et al. (2021): Atomwende: Abschaltung von Kernkraftwerken eröffnet Perspektiven für die Endlagersuche. DIW Wochenbericht Nr. 47, 767–774 (online verfügbar). und diskutiert die Ereignisse während des Jahres 2022 und seitdem.

Energiekrise ist vorbei, Versorgungssicherheit war zu keiner Zeit in Gefahr

Bereits im Vorfeld des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stiegen die Erdgas- und Strompreise an, was sich mit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 noch steigerte. Allerdings sind die Strompreise seit dem Herbst 2022 stark gefallen und liegen inzwischen wieder in der Größenordnung der Vorkriegszeit. Derselbe Trend ist auch bei den Erdgaspreisen zu beobachten. Angesichts perspektivisch rückläufiger Erdgasverbräuche ist der Schock der unterbrochenen Gaslieferung aus Russland rasch abgefedert worden.infoFranziska Holz et al. (2023): LNG Import Capacity Expansion in Germany – Short-term Relief Likely to Turn into Medium-term Stranded Assets. IAEE Energy Forum, 2nd Quarter 2023 (online verfügbar), sowie Christian von Hirschhausen et al. (2024): Gasversorgung in Deutschland stabil: Ausbau von LNG-Infrastruktur nicht notwendig. DIW aktuell 92 (online verfügbar).

Trotz großer Unwägbarkeiten war die Versorgungssicherheit auf dem deutschen Strommarkt zu keiner Zeit gefährdet.infoSiehe zum Beispiel Enervis Energy Advisors GmbH (2024): Ein Jahr Atomausstieg in Deutschland – Ein energiewirtschaftlicher Schulterblick (online verfügbar). Hierzu tragen sowohl die bestehenden Überkapazitäten an Großkraftwerken als auch der Ausbau erneuerbarer Energien bei. Im Folgenden wird mithilfe eines Strommarktmodells in einem Szenario untersucht, wie sich die Abschaltung der verbliebenen Kernkraftwerke auf den Strommix, die Stromflüsse und die Preise im Referenzjahr 2021 ausgewirkt hätte (Kasten 1). Das Referenzjahr 2021 wurde gewählt, da in diesem Jahr noch die letzten sechs Kernkraftwerke am Netz waren. Zudem kam es im Folgejahr durch den Angriff auf die Ukraine zu Schocks auf dem Strommarkt. Bei einem Referenzjahr 2022 wären die Effekte erheblich verzerren worden. Es werden zwei Varianten gerechnet (keine Kernkraftwerke und sechs Kernkraftwerke), um Veränderungen deutlicher sichtbar zu machen. Zudem wird mit einem weiteren Szenario für das Jahr 2030 untersucht, wie sich der Strommarkt angesichts des geplanten Kohleausstiegs entwickeln könnte.

Berechnungen erfolgen mit einer aktualisierten Version des Strommarktmodells ELMOD.infoDas Modell wurde an der TU Dresden entwickelt. Siehe dazu Florian Leuthold, Hannes Weigt und Christian von Hirschhausen (2008): ELMOD – A Model of the European Electricity Market. Dresden University of Technology Electricity Market. Working Papers WP-EM-00 (online verfügbar). Das Modell ist in verschiedenen Projekten am DIW Berlin verwendet worden, (beispielsweise Claudia Kemfert, Friedrich Kunz und Juan Rosellón (2016): A welfare analysis of electricity transmission planning in Germany. Energy Policy, 94, 446–452 (online verfügbar). Heute wird es an der TU Berlin gepflegt und weiterentwickelt. Aktuelle Berechnungen beruhen auf Enno Wiebrow et al. (2024): The Effects of Nuclear Power Plant Closures in Germany 2021–2023 on Network Flows and Redispatch – Update of Earlier ELMOD Modeling Results. Präsentation bei Enerday am 12. April 2024. Dresden. Mit dem Modell wird durch eine zweiphasige Marktsimulation ein kostenminimaler Einsatz von Erzeugungskapazitäten auf stündlicher Ebene bestimmt. Die erste Phase besteht, entsprechend dem realen Markträumungsprinzip aus der Gegenüberstellung von Stromnachfrage und Erzeugungsangebot innerhalb der einzelnen Marktzonen. Der Markträumungspreis wird dabei basierend auf dem Merit-Order-Prinzip dadurch bestimmt, welche Grenzkosten das teuerste Kraftwerk besitzt, das zur kosteneffizienten Deckung der Nachfrage benötigt wird. In der zweiten Phase findet basierend auf dem Marktergebnis die Simulation der daraus resultierenden Leistungsflüsse statt. Hierdurch kann der Kraftwerkseinsatz noch einmal angepasst werden, wodurch Engpässe im Stromnetz verhindert werden können. Solche Maßnahmen werden auch Redispatch-Maßnahmen genannt. Um eine hohe temporale Auflösung gewährleisten zu können, werden Erzeugungseinheiten von Nachbarländern aggregiert und zu jeweils einem Knoten zusammengefasst. Zwischen benachbarten Marktgebieten werden zudem die Transportkapazitäten (Net Transfer Capacities) berücksichtigt und anstelle der Berechnung von (n-1)-Sicherheit eine Übertragungssicherheitsreserve (Transmission Reliability Margin) von 20 Prozent der Übertragungsleistung eingeführt. Dies erlaubt, ein ganzes Jahr in stündlicher Auflösung mit einem hohen Detailgrad bei der Repräsentation des deutschen Übertragungsnetzes zu simulieren.

Die letzten sechs Kernkraftwerke in Deutschland, die im Jahr 2021 noch am Netz waren, besaßen in Summe eine installierte Leistung von etwa 8,5 Gigawatt (GW) brutto, beziehungsweise 8,1 GW Nettonennleistung;infoAls Datengrundlage dient das Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur (online verfügbar). die Gesamterzeugung betrug im Jahr 2021 65,4 TWh. Nachdem die Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C Ende 2021 abgeschaltet wurden, haben die letzten drei Kernkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 im Jahr 2022 noch 32,8 TWh erzeugt (rund sechs Prozent der Stromproduktion).infoSiehe AG Energiebilanzen e.V. (2024): Stromerzeugung nach Energieträgern (Strommix) von 1990 bis 2023 (in TWh) Deutschland insgesamt (online verfügbar).

Die Modellergebnisse aus dem Szenario für das Jahr 2021 zeigen, dass in einer statischen Betrachtung diese Strommengen temporär durch eine Kombination von bestehenden fossilen Kraftwerken kompensiert worden wären (Abbildung 2). Das hätte zwar kurzfristig zu einem Anstieg der CO2-Emissionen geführt. Allerdings wurde dieser Effekt in der Realität sowohl durch den zeitgleich stattfindenden Zubau Erneuerbarer als auch durch einen Rückgang des Stromverbrauchs bereits kompensiert. In der historischen Betrachtung sind in den letzten beiden Jahren die CO2-Emissionen sogar zurückgegangen. Allein zwischen Januar 2021 und Januar 2024 wurden 29 GW Photovoltaik zugebaut, weitere 6,7 GW Onshore-Windkraft und 0,6 GW Offshore-Windkraft, die in diesem Zeitraum schätzungsweise rund 40 TWh zusätzlichen Strom erzeugt haben.infoDie Daten für den Zubau der Erzeugungsanlagen basieren auf dem Marktstammdatenregister. Die zusätzliche Erzeugung wurde anhand der Volllaststunden für die Jahre 2021, 2022 und 2023 geschätzt.

Die deutsche Energiepolitik und Infrastruktur haben sich im Laufe der Jahre auf den Atomenergieausstieg eingestellt, sodass auch in der Realität nach Abschaltung der letzten Reaktoren im April 2023 keine Preisausschläge auftraten.infoSiehe Aussagen der Vizepräsidentin der Bundesnetzagentur Barbie Kornelia Haller im Bayerischen Rundfunk: Lorenz Storch (2023): Ein Monat Atomausstieg: Der Strom wurde sogar billiger, BR24 vom 15. Mai (online verfügbar). Die Herausforderungen in den letzten Wintern, insbesondere die Energieversorgungsrisiken, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht wurden, wurden erfolgreich bewältigt. Dies hat gezeigt, dass Deutschland auch ohne Atomenergie seine Energieversorgungssicherheit aufrechterhalten und zeitgleich die Energiewende voranbringen kann.

Strompreiseffekte vor allem durch erratische Kernkraftausfälle in Frankreich verursacht

Während in Deutschland die letzten Kernkraftwerke aufgrund ihres niedrigen Anteils am Strommix eine geringe Rolle für den Stromsektor gespielt haben, ist die Kernkraft in Frankreich die dominierende Erzeugungstechnologie. Im Jahr 2023 wurden dort 319 TWh Strom aus Kernkraftwerken erzeugt, dies entsprach etwa zwei Drittel der gesamten Nettostromerzeugung.infoDie Daten basieren auf der Transparency Platform der ENTSO-E (online verfügbar). Der Einfluss der Atomenergie ist im französischen Strommarkt also ungleich höher. Im Sommer 2022 war zwischenzeitlich über die Hälfte der französischen Kernkraftwerke wegen Wartungsarbeiten, Korrosionsproblemen und zu niedrigen Flusspegelständen nicht am Netz (Abbildung 3).infoMycle Schneider et al. (2023): World Nuclear Industry Status Report 2022 (online verfügbar).

Dies führte in Frankreich zu einer erhöhten Nachfrage nach Importstrom in signifikanter Größenordnung. Das Schließen dieser Versorgungslücke verschärfte die aufgrund der hohen Erdgaspreise ohnehin angespannte Lage zusätzlich und führte zu weiteren Preissteigerungen.

Ein Blick auf den deutschen Strompreis der letzten Jahre zeigt, dass die Erzeugung aus den letzten deutschen Kernkraftwerken diesen insgesamt wenig beeinflusst hat. Bedeutender sind die Rohstoffpreise für fossile Energieträger wie Steinkohle und vor allem Erdgas, da diese Kraftwerke in den Stunden, in denen erneuerbare Energie nicht die Nachfrage decken können, meist den Preis am Day-Ahead-Markt bestimmen.infoDay-Ahead-Märkte handeln mit kurzfristigen Stromprodukten, die mit bis zu eintägiger Differenz zwischen Vertragsabschluss und Lieferung beziehungsweise Abnahme verbunden sind. Siehe dazu auch das Glossar des DIW Berlin (online verfügbar). Da die Preise durch die sogenannte Merit-Order bestimmt werden, ist der Erzeugungspreis des letzten Kraftwerks, das den Zuschlag bekommt, der Marktpreis. Für eine weitere Ausführung siehe zum Beispiel FfE (2022): Merit order shifts and their impact on the electricity price (online verfügbar). Alternativ siehe Gasparella et al (2023): The Merit Order and Price-Setting Dynamics in European Electricity Markets. European Commission, Petten, 2023, JRC134300 (online verfügbar). Die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke in Deutschland am 15. April 2023 führte nicht zu einem erhöhten Strompreis. Im Gegenteil, der Preis sank sogar im Folgemonat, da unter anderem der Abschalttermin von den Markteilnehmenden rechtzeitig antizipiert wurde. In der hypothetischen Analyse für das Jahr 2021 ergeben die Modellrechnungen einen um elf Euro pro MWh höheren durchschnittlichen Strompreis ohne Einsatz der Kernkraftwerke, was in etwa ein Anstieg von elf Prozent gewesen wäre.infoDiese Ergebnisse stimmen mit anderen veröffentlichten Modellrechnungen überein, die allerdings andere Bezugsjahre und Szenarien untersucht haben, zum Beispiel Jonas Egerer et al (2022): Mobilisierung von Erzeugungskapazitäten auf dem deutschen Strommarkt. Wirtschaftsdienst , 102(11)(online verfügbar) sowie Dimitrios Glynos und Hendrik Scharf (2024): Postponing Germany’s Nuclear Phase-Out: A Smart Move in the European Energy Crisis? TU Dresden, Working Paper (online verfügbar). Zur Einordnung: Zehn Euro je MWh entsprechen etwa 20 Prozent des heutigen Strompreises. Allerdings ist diese Veränderung gering im Vergleich zum Strompreisanstieg, der durch höhere Rohstoffpreise (insbesondere Erdgas) verursacht wurde.

In der Diskussion über die Atomwende sind diese Größenordnungen grundsätzlich vernachlässigbar gegenüber den Gesamtkosten der Atomkraft, die seit Beginn der kommerziellen Nutzung vor allem durch Risikoübertragung auf die Gesellschaft beziehungsweise in Form von Subventionen bezahlt wurden. Dabei werden die Kosten von Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle bisher vollständig vernachlässigt, obwohl diese auch in Deutschland erheblich sind und im Laufe der Zeit signifikant ansteigen werden (Kasten 2).infoChristian von Hirschhausen und Alexander Wimmers (2023): Rückbau von Kernkraftwerken und Entsorgung radioaktiver Abfälle in Deutschland: ordnungspolitischer Handlungsbedarf. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 24(3)(online verfügbar).

Die Atomenergie ist als Pfeiler der deutschen, aber auch weltweiten Energieversorgung gescheitert: Die Technologie war und ist komplex, risikobehaftet und daher von Anfang an teuer als andere Energieträger. Seit der Inbetriebnahme der ersten kommerziellen Kernkraftwerke in den 1950er Jahren sind diese nicht wettbewerbsfähig, dies gilt auch bis heute.infoVgl. Fritz Baade (1958): Welt-Energiewirtschaft: Atomenergie – Sofortprogramm oder Zukunftsplanung. Hamburg; sowie Christian von Hirschhausen (2023): Atomenergie: Geschichte und Zukunft einer riskanten Technologie. München. Aktuelles Beispiel für hohe Kosten der Atomenergie ist der Bau des Kernkraftwerks Hinkley Point C im Vereinigten Königreich. Siehe dazu Sarah White, Jim Pickard und Rachel Millard: UK nuclear plant hit by new multiyear delay and could cost up to £46bn. Financial Times vom 23. Januar 2024.

Darüber hinaus sind mit Atomenergie auch Proliferationsgefahren verbunden, das heißt die missbräuchliche Nutzung etwa für die Waffenentwicklung. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit wird noch verstärkt, würde man die vernachlässigten Kosten des Rückbaus und der Entsorgung radioaktiver Abfälle berücksichtigen. Somit stehen einem geringen Nutzen erhebliche, langfristige und aus heutiger Perspektive nicht absehbare Kosten gegenüber. Daran ändern auch Debatten über sogenannte neuartige Reaktorkonzepte (auch als Reaktoren der vierten Generation bezeichnet) nichts.infoVgl. Christoph Pistner et al. (2024): Analyse und Bewertung des Entwicklungsstands, der Sicherheit und des regulatorischen Rahmens für sogenannte neuartige Reaktorkonzepte. BASE – Forschungsberichte zur Sicherheit der nuklearen Entsorgung. Berlin (online verfügbar). Über diese wird ebenfalls seit mehr als 60 Jahren diskutiert, zwar durch den Traum von der Plutoniumwirtschaft animiert, aber auf absehbare Zeit nicht in großen Mengen und systemrelevant in die Realität umsetzbar.infoSiehe Christian von Hirschhausen et al. (2023): Energie- und Klimaszenarien gehenparadoxerweise von einem starken Ausbau der Atomenergie aus. DIW Wochenbericht 44, 609–617 (online verfügbar).

Weltweit erfolgt mitnichten eine Renaissance der Atomenergie, im Gegenteil: Im Jahr 2023 ging weltweit die Leistung von Kernkraftwerken um ein Gigawatt zurück, während Solaranlagen mit einer Leistung von 440 Gigawatt gebaut wurden.infoMycle Schneider et al. (2024): World Nuclear Industry Status Report 2023 (online verfügbar). Außer in China ist der Bau neuer Kernkraftwerke praktisch zum Erliegen gekommen, und selbst dort liegt der Anteil der Atomenergie unterhalb von fünf Prozent. Nur drei Länder, die bisher nicht über Kernkraftwerke verfügen, bauen neu beziehungsweise lassen bauen, da Russland im Kontext nuklearer Diplomatie sowohl die Technologie als auch die Finanzierung liefert: Türkei, Bangladesch und Ägypten. Die Atomenergie erlebt also keine Renaissance, sondern ist weltweit auf dem Rückzug. Atomenergie stellt für die Energiewende in den nächsten Jahrzehnten daher keine relevante Option dar.

Netzstabilität ebenfalls gewährleistet

Auch die Stromnetzstabilität war während der gesamten Energiekrise gewährleistet. Modellrechnungen zeigen, dass auch nach dem Abschalten der letzten drei Kraftwerke keine zusätzlichen substanziellen Netzengpässe entstanden sind. Deutschland verfügt für die aktuelle Situation über ein ausreichend ausgebautes und vermaschtes Stromnetz, das den Austausch mit den europäischen Nachbarländern ermöglicht und zur Versorgungssicherheit beiträgt. Die effiziente Integration in das europäische Verbundnetz erlaubt es, Überschüsse an elektrischer Energie zu exportieren und notfalls Importe vorzunehmen, was die Netzstabilität und die Zuverlässigkeit der Energieversorgung maßgeblich unterstützt. In den vergangenen Jahren verliefen alle Abschaltungen von Kernkraftwerken in Deutschland problemlos und ohne große Auswirkungen.infoBereits das unerwartet schnelle Abschalten der sechs ältesten Kernkraftwerke im März 2011 als Antwort auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima wirkte sich auf die Strompreise und die Netzstabilität nur kurzzeitigt und geringfügig aus. Siehe Friedrich Kunz et al. (2011): Security of Supply and Electricity Network Flows after a Phase- out of Germany’s Nuclear Plants: Any Trouble ahead? European University Institute, Working Paper (online verfügbar) sowie Friedrich Kunz und Hannes Weight (2014): Germany’s Nuclear Phase Out – A Survey of the Impact since 2011 and Outlook to 2023 (online verfügbar).

Die Abschaltung der letzten sechs Kernkraftwerke im vergangenen Jahr veränderte die Netzsituation kaum. Die hypothetischen Modellsimulationen für das Jahr 2021 verdeutlichen, dass die existierenden Netzengpässe weitgehend unverändert geblieben wären und die Anpassungsmaßnahmen (Redispatch) lediglich um etwa vier TWh hätten erhöht werden müssen (Abbildung 4).infoBeim Redispatch werden einzelne Kraftwerke entgegen den vorher vereinbarten Erzeugungsplänen herunter- oder angefahren. Siehe dazu auch das Glossar des DIW Berlin (online verfügbar). Zum Vergleich: Historisch betrug die Menge des Redispatch im Jahr 2021 rund 21,5 TWh und wuchs 2022 und 2023 auf 32,5 TWh und 33,1 TWh an; dies entspricht etwa 5 Prozent des deutschen Stromverbrauchs.infoBundesnetzagentur (2024): Netzengpassmanagement , 4. Quartal 2023 (online verfügbar). Ein Treiber für Engpässe sind windreiche Tage, in denen erneuerbarer Strom nicht ausreichend in den Süden transportiert werden kann. Die drei nördlich gelegenen Kernkraftwerke Brokdorf, Emsland und Grohnde verstärken in einer solchen Situation eher den Engpass.infoDie durch Anpassungsmaßnahmen in Form von Redispatch angefallenen Kosten werden durch Netzentgelte auf die Haushalte umgelegt. Das Abschalten der Atomkernkraftwerke und der Ausbau der erneuerbaren Energien führten zu zusätzlichen Anpassungsmaßnahmen und somit zu einem moderaten Anstieg der Netzentgelte von 7,8 Cent je kWh im Jahr2021 auf 8,08 Cent je kWh in 2022 und auf 9,52 Cent je kWh im Jahr 2023. Ein größerer Preiseffekt ist jedoch im Bereich der Strombeschaffungskosten zu verzeichnen. Im Jahr 2022 zahlten private Haushalte im Durchschnitt 16,97 Cent je kWh für die Beschaffung und den Vertrieb von Strom, im Vergleich dazu lag der durchschnittliche gezahlte Preis für Beschaffung und Vertrieb im Jahr 2021 lediglich 7,93 Cent je kWh. Die Zahlen basieren auf der BDEW-Strompreisanalyse (online verfügbar). Die deutschen Netzbetreiber haben sich inzwischen ohnehin bereits auf eine weitgehend erneuerbare Stromerzeugung eingestellt. Zur mittelfristigen Ausgestaltung der Netzbewirtschaftung in einem weitgehend erneuerbaren Stromsystem werden derzeit verschiedene Optionen diskutiert, so zum Beispiel nodale oder zonale Preissysteme.infoFriedrich Kunz, Karsten Neuhoff und Juan Rosellón (2016): FTR allocations to ease transition to nodal pricing: An application to the German power system. Energy Economics, 60, 176–185 (online verfügbar) sowie Karsten Neuhoff et al. (2013): Renewable electric energy integration: Quantifying the value of design of markets for international transmission capacity. Energy Economics, 40, 760–772 (online verfügbar). Darüber hinaus muss das gesamte Sektordesign für ein Erneuerbaren-basiertes Stromsystem entwickelt werden.

Kohleausstieg und 80 Prozent erneuerbare Energien bis 2030 machbar

Um auch die längerfristigen Auswirkungen auf das deutsche Stromsystem zu untersuchen, wurde weiterhin ein Szenario für 2030 durchgerechnet, in dem alle Kern- und Kohlekraftwerke abgeschaltet sind. Grundannahme für diese Berechnung sind das Erreichen der von der Bundesregierung formulierten Ausbauziele von Windkraft (Onshore-Windkraft 115 GW, Offshore-Windkraft 30 GW) und Photovoltaikanlagen (215 GW), eine installierte Leistung von Gaskraftwerken (34,7 GW), die in etwa dem heutigen Niveau entspricht, und Biomassekraftwerke (12,8 GW), die zur Spitzenlastdeckung eingesetzt werden.infoSiehe Bundesnetzagentur (2022): Versorgungssicherheit Strom. (online verfügbar). Zusätzlich ist ein Anstieg des Bruttostromverbrauchs von 525 TWh im Jahr 2023infoSiehe AG Energiebilanzen e.V. (2024), a.a.O. auf 750 TWh im Jahr 2030 berücksichtigt, der hauptsächlich durch die Zunahme der Stromnachfrage durch Elektroautos und Wärmepumpen verursacht wird.

Die Modellergebnisse zeigen, dass auch ein Kohleausstieg 2030 weiterhin erreichbar ist (Abbildung 5). Die Ausbauziele von Wind- und Solarenergie führen dazu, dass 2030 der Großteil des Strombedarfs (ca. 80 Prozent) durch erneuerbare Energien gedeckt wird. Phasen mit geringer Erzeugung aus Solar- und Windenergie können dabei mit Flexibilitätsoptionen abgefangen werden, so zum Beispiel mit einer flexiblen Nachfrage im Bereich der Wärmepumpen, der Elektromobilität oder der Industrieprozesse.infoDie zusätzliche Stromnachfrage kann durch Preissignale auf Stunden verschoben werden, in denen ausreichend Strom verfügbar ist, um Lastspitzen zu vermeiden. Bei Wärmepumpen ermöglichen integrierte Pufferspeicher eine Flexibilität von typischerweise wenigen Stunden. Elektroautos bieten abhängig vom Verbrauchsprofil und der Batteriegrößen eine Flexibilitätsdauer von mehreren Stunden. Im Industriesektor kann die Stromnachfrage durch Anpassungen bei hohen Energiepreisen reduziert werden. Zusätzlich sind die Erzeugung aus Pumpspeicherkraftwerken oder der Stromimport weitere Optionen. Erdgaskraftwerke stellen dabei 2030 noch 18 Prozent der Jahreserzeugung dar, weisen allerdings einen stark rückläufigen Trend auf.infoDiese Werte können abhängig vom zugrunde gelegten Wetterjahr um wenige Prozentpunkte variieren. Für das Szenario 2030 wurde das Wetterjahr 2019 als Grundlage genommen.

In Zeiten mit viel Erzeugungspotenzial von Solar- und Windenergie kann überschüssiger Strom exportiert werden, während bei geringer Erzeugung aus Erneuerbaren Strom aus den Nachbarländern importiert wird. Dies führt insgesamt zu einem leichten Nettoimport von neun TWh.

Die Bundesregierung plant im Rahmen der sogenannten Kraftwerksstrategie eine Ausschreibung für insgesamt zehn GW an Erdgaskraftwerken, die aus dem Klima- und Transformationsfonds finanziert wird. Die geförderten Erdgaskraftwerke sollen „H2-ready“ sein und zwischen 2035 und 2040 auf Wasserstoffbetrieb umgestellt werden.infoBundesregierung (2024): Für eine klimafreundliche und sichere Energieversorgung (online verfügbar). Allerdings ist nach dem aktuellen Stand der Technik eine Umstellung von Erdgas als Brennstoff auf eine 100prozentige Nutzung von Wasserstoff nicht ohne weiteres möglich.infoSiehe dazu Joonsik Hwang, Krisha Maharjan und HeeJin Cho (2023): A review of hydrogen utilization in power generation and transportation sectors: Achievements and future challenges. International Journal of Hydrogen Energy 48 (74), 28629–28648 (online verfügbar). Daher besteht die Gefahr, dass der Zubau von weiteren Erdgaskraftwerken zu weiteren Lock-in-Effekten führt und den notwendigen Erdgasausstieg weiter verzögert.infoSiehe dazu Claudia Kemfert et al. (2022): The expansion of natural gas infrastructure puts energy transitions at risk. Nature Energy 7, 582–587 (online verfügbar). Zusätzlich siehe Konstantin Löffler et al. (2019): Modeling the low-carbon transition of the European energy system – A quantitative assessment of the stranded assets problem. Energy Strategy Review 26, 100422 (online verfügbar). Aus der Perspektive der Systemtransformation ist es daher notwendig, dass die für die Energiewende benötigten Kraftwerke von Anfang an auf einen reinen Betrieb mit Wasserstoff ausgelegt werden.

Fazit: Nach der Krise wieder auf den Ausbau der Erneuerbaren fokussieren

Der deutsche Strommarkt hat sich gut vom Krisenjahr 2022 erholt und zu keinem Zeitpunkt war die Versorgungssicherheit gefährdet. Insbesondere haben sich die Erdgaspreise bereits Anfang 2023 entspannt, heute liegen die Strom- und Gaspreise auf einem ähnlichen Niveau wie in den späten 2010er Jahren. Somit ist es an der Zeit, aus dem Krisenmodus herauszukommen und der politische Fokus wieder auf den Ausbau der erneuerbaren Energie zu legen.

Während der Energiekrise war auch die Netzstabilität zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Die Abschaltung der Kernkraftwerke führte nicht zu zusätzlichen Netzengpässen in nennenswertem Ausmaß. Auf dem Weg zu einer vollständig erneuerbaren Stromversorgung sind Fragen des Sektordesigns und Netzengpassmanagements zu klären. Szenarioanalysen haben gezeigt, dass zum einen auch schon 2021 eine Stromversorgung ohne Atomkraftwerke funktioniert hätte. Zum anderen zeigen sie, dass auch künftig eine Stromversorgung ohne Atom- und Kohlestrom funktioniert und das Ziel des Erneuerbare-Energien-Gesetz, mindestens 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbare zu gewinnen, machbar ist. Dazu müssen aber perspektivisch die erneuerbaren Energien verstärkt ausgebaut werden und der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern zeitnah erfolgen. Neben dem Kohleausstieg ist auch der Erdgasausstieg integraler Bestandteil der Energiewende.

Eine Stromversorgung mit mindestens 80 Prozent erneuerbaren Energien bis 2030 ist ohne Kern- und Kohlekraftwerke machbar; dies ist darüber hinaus kostengünstig und klimapolitisch sinnvoll. Auf dem Weg dahin bedarf es mutiger Schritte im Sektordesign, um die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: L51;L94;Q48
Keywords: Electricity market, renewables, coal exit, natural gas exit, nuclear power
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-18-1

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