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Der Kuchen muss vielleicht gar nicht kleiner werden

Blog Marcel Fratzscher vom 22. November 2024

Der Streit der Ampel hat das Land gelähmt, Deutschland ist tief gespalten. Doch eine neue Regierung wird die gleichen Konflikte haben. Es gibt aber eine Lösung.

Die Hoffnung, dass die neue Bundesregierung die großen Probleme endlich löst, ist naiv. Vier grundlegende Konfliktlinien zwischen den Parteien im Bundestag spiegeln die Spaltung der Gesellschaft wider und werden wohl auch unter einer neuen Regierung – unabhängig von der Koalition – bestehen bleiben und sich womöglich sogar verschärfen.

Der erste Konflikt dreht sich um Identität und die Frage, ob und in welchem Ausmaß wir eine offene Gesellschaft sein wollen, die Vielfalt, Toleranz und Solidarität wertschätzt. Dieser Konflikt zeigt sich besonders stark beim Thema Migration. Obwohl unser Wohlstand ohne die starke Zuwanderung der letzten Jahrzehnte kaum denkbar wäre, sehen viele Menschen in Deutschland die Migration heute als das größte Problem unserer Zeit. Angesichts der Tatsache, dass heute jede vierte Person hierzulande eine Migrationsgeschichte hat, wirkt dies befremdlich. Die Vielfalt erleichtert es jedoch populistischen Kräften, Gruppen gegeneinander auszuspielen und daraus politische Macht zu schöpfen.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 22. November 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Stimmung und die wirtschaftliche Realität passen nicht zusammen

Der Rückschritt in der offenen Gesellschaft betrifft auch viele Aspekte der Chancengleichheit, etwa die Gleichstellung von Frauen, Grundrechte für diverse Menschen, für Musliminnen und Muslime oder für Homosexuelle. Viele Errungenschaften der letzten Jahrzehnte werden heute infrage gestellt oder zurückgenommen.

Konflikte um die offene Gesellschaft werden sich verschärfen

In der Ampelregierung bestand in vielen dieser Fragen Einigkeit, zum Beispiel beim Staatsbürgerschaftsrecht. Gerade die FDP wurde in diesem Punkt den Ansprüchen einer liberalen Partei gerecht. Unter einer neuen Bundesregierung dürfte sich jedoch die Konfliktlinie um die offene Gesellschaft verschärfen. Die Union verfolgt inzwischen einen migrationskritischen Kurs, will deutlich mehr Abschiebungen und die Grenzen möglichst schließen. Sie plant, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die über zwei Millionen Ausländern und Ausländerinnen den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtert, rückgängig zu machen.

Auch in anderen Bereichen wie der Gleichstellung und dem Schutz von Minderheitenrechten vertritt die Union unter Friedrich Merz und Markus Söder stark konservative Positionen: So hat Friedrich Merz kürzlich empört auf die überparteiliche Gesetzesinitiative im Bundestag zur Abschaffung von Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs reagiert, sodass Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche nicht länger eine Straftat für die betroffenen Frauen und für Ärztinnen und Ärzte sind, die den Eingriff durchführen. Ein möglicher nächster Bundeskanzler, der eine so wichtige Initiative mit einer so starken Unterstützung in der Bevölkerung ablehnt, zeigt, dass die nächste Bundesregierung einige Errungenschaften für Frauen und für Minderheiten nicht nur stoppen, sondern zurückdrehen könnte.

Der zweite grundlegende Konflikt betrifft die Rolle des Staates. Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen ist in den letzten zwanzig Jahren stark erodiert. Die Union, vor allem aber die FDP und die AfD, nutzen dies für ihre Politik. Ein Beispiel ist die kategorische Ablehnung jeglicher Steuererhöhungen durch diese Parteien: Sie argumentieren, Steuererhöhungen bedeuten einen größeren Staat, der dieses Geld nicht sinnvoll verwalten würde, sondern lediglich neue Beamte einstellen und die Konsumausgaben erhöhen würde. Daher wird eine strikte Schuldenbremse befürwortet, die eine Verringerung der Schuldenquote und damit der Staatsausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung erzwingt. Auch die nächste Bundesregierung wird neue Projekte auf die eine oder andere Art und Weise finanzieren müssen. Es wird deshalb voraussichtlich eine Reform der Schuldenbremse geben, diese dürfte jedoch eher symbolischen als substanziellen Charakter haben.

Der Neoliberalismus könnte zurückkommen

Auch in der Wirtschafts- und Industriepolitik werden die unterschiedlichen Staatsphilosophien unter einer neuen Bundesregierung fortbestehen. SPD und Grüne sind von einer interventionistischen Industriepolitik überzeugt, in der der Staat direkt eingreift, Prioritäten setzt und in manchen Bereichen sogar unternehmerisch tätig wird. Dem steht eine neoliberale Wirtschafts- und Industriepolitik gegenüber, die den Staat auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen mit niedrigen Steuern beschränkt.

Die dritte grundlegende Konfliktlinie betrifft die Verteilungsfrage zwischen Arm und Reich, Jung und Alt sowie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Auf der einen Seite stehen SPD, Grüne, Linke und BSW, die einen starken Sozialstaat als Grundlage des Gesellschaftsvertrags und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sehen. Sie möchten den Sozialstaat stärken – und mehr Geld in Bildung, Rente, Pflege, Gesundheit sowie zur Bekämpfung von Armut und Niedriglohn stecken. Auf der anderen Seite stehen Parteien, die massive Kürzungen der Sozialausgaben fordern, um Einsparungen zu erzielen. Diese sollen dann in Form von Steuersenkungen an vermeintliche "Leistungsträger", also Spitzenverdiener und Unternehmen, weitergegeben werden. Ziel ist es, Leistung besser zu honorieren und Anreize zur Erwerbsarbeit zu schaffen.

 

Es geht auch um Europa

Dieser Verteilungskonflikt wird unweigerlich größer werden. Allerdings sind sich alle demokratischen Parteien in einer Verteilungsfrage einig: Die Umverteilung von Jung zu Alt soll verstärkt werden – vor allem, da Menschen im mittleren und höheren Alter die Mehrheit der Wähler von CDU, CSU und SPD ausmachen.

Die vierte Konfliktlinie betrifft Deutschlands Verantwortung in Europa und in der Welt. Die Bundesrepublik hat sich fünf Jahrzehnte nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg als stark pro-europäische Nation verstanden, die auf eine gemeinsame europäische Identität hinarbeitet und die enormen wirtschaftlichen Vorteile der europäischen Integration schätzt. 

Doch in den letzten zehn Jahren hat sich auch diese Einstellung grundlegend verändert. Europa ist für fast alle politischen Parteien und Gruppierungen zum Sündenbock geworden – vor allem für eigene Fehler. Auch die Ampelregierung verfolgte zunehmend nationale Alleingänge, anstatt Europa zu stärken und damit auch die eigenen Interessen gegenüber den zunehmend nationalistischen USA und China zu schützen. Von Europa über das Verhältnis zu den USA, China und Russland bis hin zur globalen Verantwortung beim Klima- und Umweltschutz wird sich die neue Bundesregierung neu positionieren müssen, und zwar anders als in den letzten zehn Jahren.

 

Blockierendes Nullsummendenken durchbrechen

Man könnte einwenden, dass diese vier Konfliktlinien nicht neu sind. Doch die grundlegenden Probleme verschärfen sich in einer Welt, in der fast alle Parteien von einem Nullsummendenken dominiert werden: Der Gewinn des einen bedeutet zwangsläufig den Verlust des anderen, da der Kuchen nur einmal verteilt und nicht größer wird. Viele sind überzeugt, dass dieser Kuchen sogar schrumpft, weil es weniger Wachstum gibt und künftig viel Geld für Verteidigung, Klimaschutz sowie wirtschaftliche Transformation ausgegeben werden muss. Dies verstärkt die Verteilungskonflikte.

Die Lösung kann aber nur darin liegen, dieses Nullsummendenken zu durchbrechen und seine Fehler offenzulegen. Fakt ist, dass wir die großen Krisen und Transformationen unserer Zeit nur gemeinschaftlich und durch mehr Kooperation innerhalb und zwischen Gesellschaften lösen können. Die größte Herausforderung der neuen Bundesregierung wird darin bestehen, den Gesellschaftsvertrag neu zu verhandeln und diese vier großen Konflikte anzugehen. Andernfalls droht der neuen Regierung dasselbe Schicksal wie der Ampelregierung: Fortwährender und unüberwindbarer Streit, der das Land lähmt und zum Verlust von Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit führt.

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