Das Jammern wird gefährlich

Blog Marcel Fratzscher vom 28. Oktober 2024

Der Pessimismus und überzogene Erwartungen an die Regierung lähmen das Land. Dabei ist die Industrie an ihrer Misere großteils selbst schuld.

Deutschlands größtes Problem ist heute seine Depression. Die Stimmung ist dabei deutlich schlechter als die Lage. Der Pessimismus droht Politik und Wirtschaft zu lähmen und die Krise herbeizuführen, die man verhindern will. Mit seinem Vorschlag für einen Deutschlandfonds für Investitionen und Infrastruktur versucht Wirtschaftsminister Robert Habeck, dem entgegenzuwirken und zumindest mittelfristig einen Wachstumsimpuls zu setzen. Was jedoch grundsätzlich fehlt, ist Verantwortungsbewusstsein – zu viele in Deutschland weigern sich, Verantwortung zu übernehmen, und suchen stattdessen die Schuld bei anderen. Wir brauchen einen Kennedy-Moment: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Nur so kann Deutschland aus dem Teufelskreis von Pessimismus und Paralyse ausbrechen.

Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 25. Oktober 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Verlässliche Spielregeln sind Bedingungen für die Wirtschaft

Die Menschen sind zutiefst unzufrieden mit Politik und Gesellschaft, und die Zukunftsängste sind größer denn je. Manche Zukunftssorgen wie solche vor einer Klimakatastrophe, sozialer Polarisierung und globalen Konflikten sind berechtigt. Zugleich zeigt der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung einen Widerspruch: In den letzten 20 Jahren war die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben nie so hoch wie heute, während die Zufriedenheit mit Gesellschaft und Politik gleichzeitig nie so niedrig war. Zu keiner Zeit waren mehr Menschen in Arbeit, die realen Löhne steigen erheblich. Viele Unternehmen machen hohe Gewinne und suchen eher zusätzliche Arbeitskräfte, statt um ihre Existenz zu fürchten oder Arbeitsplätze abzubauen. Dennoch ist die Stimmung in den Unternehmen schlecht, und mit Blick auf die Zukunft wächst der Pessimismus. Unternehmen fürchten eine Deindustrialisierung und den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

Sind wir wirklich so fremdbestimmt?

Die fehlende Eigenverantwortung erklärt viele dieser Widersprüche und die Depression in Deutschland. Unzufriedenheit entsteht oft durch das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Doch ist dem wirklich so? Haben Menschen und Unternehmen heute weniger Selbstbestimmung? Oder verweigern sie vielmehr, Verantwortung zu übernehmen, vergangene Fehler einzugestehen und konsequent Entscheidungen zu treffen?

Der Dieselskandal wirkt schwerer als die hohen Energiekosten

Es gibt zahlreiche Beispiele für die Verweigerung von Verantwortung. Die Sorge um die wirtschaftliche Transformation ist groß und berechtigt. Aber Unternehmen und Lobbyverbände schieben die Verantwortung für bessere Rahmenbedingungen fast ausschließlich der Politik zu. Diese soll Bürokratie und Regulierung abbauen, Steuern senken, Infrastruktur verbessern, günstigere Energie bereitstellen und mehr Subventionen gewähren. Doch ein Großteil der Verantwortung für die schwierige Lage der Industrie liegt bei den Unternehmen selbst. Insbesondere die Automobilbranche leidet unter dem Dieselskandal, dem versäumten Umstieg auf E-Mobilität und der starken Abhängigkeit von China mehr als unter den vermeintlich zu hohen Energiekosten oder übermäßiger Regulierung.

Die CDU-Opposition ist immer noch an Entscheidungen beteiligt

Auch in der Politik wird Verantwortung gerne auf andere abgeschoben. Die Ampelparteien geben sich gegenseitig die Schuld für fehlende Reformen und den ständigen Streit innerhalb der Koalition, anstatt Verantwortung für die Regierung zu übernehmen. Die Union kritisiert die Bundesregierung für fast jedes Problem im Land, obwohl sie nach 16 Jahren unter einer CDU-Kanzlerin für viele Probleme verantwortlich ist und auch heute im Bundesrat und im Bundestag maßgeblich an Entscheidungen beteiligt ist.

Die demokratischen Parteien schieben der AfD die Schuld für die Destabilisierung der Demokratie und die Emotionalisierung des öffentlichen Diskurses zu, die sachliche Lösungen erschwert. Dabei tragen sie selbst Verantwortung, weil sie sich zu sehr untereinander streiten, statt gemeinsame Lösungen zu finden. Und weil sie letztlich AfD-Positionen übernehmen, etwa in der Migrationspolitik.

 

Ein Sündenbock, auf den sich fast alle einigen können: Europa

Auch im Föderalismus wird die Verantwortung oft weitergegeben. Der Bund beklagt die fehlende Verantwortung der Länder bei der Finanzierung von Integration, Infrastruktur und Bildung. Die Länder hingegen klagen über eine unzureichende finanzielle Ausstattung durch den Bund.

Und sehr viele in Deutschland sind sich einig, dass Europa der perfekte Sündenbock für eine Großzahl unserer Probleme ist. Unsere europäischen Nachbarn wollen nur unser Geld, untergraben die europäischen Regeln, nehmen keine Flüchtlinge auf oder verfolgen nur nationale Interessen. Dabei hat kein Land in Europa mehr Einfluss als Deutschland, und kein Land profitiert mehr von einem starken, geeinten Europa. Doch das Narrativ, Europa sei dysfunktional und Deutschland das Opfer, hat sich in den Köpfen vieler Deutscher fest verankert.

Lieber Selbstmitleid als Verantwortung

Spitzenverdienende und Unternehmenslobbys machen den Sozialstaat und verletzliche Gruppen für fehlende Investitionen verantwortlich, obwohl sie selbst von dieser Bundesregierung steuerlich am stärksten entlastet wurden. Ebenso können nur wenige Arbeitssuchende über fehlende Chancen klagen, denn es gibt praktisch in jeder Branche und Region viele offene Stellen mit guten Bedingungen.

Es sind vor allem die verletzlichen Gruppen, die als Sündenbock herhalten müssen. Wer Bürgergeld empfängt, sei faul und könne eigentlich arbeiten, erhalte zu viel Geld. Die Regelsätze sollten gekürzt werden. Viele Deutsche halten Migration für das größte Problem der Gesellschaft, glauben, dass durch die Kosten der Migration zu wenig Geld für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt. Diese Behauptungen sind unsinnig und falsch.

Aber es ist bequem, Verantwortung auf andere abzuschieben, besonders auf jene ohne Stimme. Es ist einfacher, Sündenböcke zu finden, als selbst Verantwortung zu übernehmen. Denn Verantwortung bedeutet, Fehler zu riskieren, erfordert Anstrengung, Mut und oft auch Ressourcen. Fakt ist: Ohne Eigenverantwortung wird Deutschland nicht aus dieser Misere finden. Die Bundesregierung kann und wird die meisten Probleme nicht allein lösen. Unternehmen und Zivilgesellschaft müssen mehr Verantwortung übernehmen – für sich und füreinander. Solange diese Botschaft nicht in den Köpfen der Verantwortlichen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ankommt, wird Deutschland in Selbstmitleid versinken und seine Zukunftschancen verbauen.

keyboard_arrow_up