Deutschland braucht eine nachhaltige und effektive Migrations- und Integrationspolitik

DIW aktuell ; 105 : Sonderausgaben zur Bundestagswahl 2025, 7 S.

Marcel Fratzscher, Sabine Zinn

2025

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6. Februar 2025 – Migration ist eines der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf und wird für die nächste Bundesregierung hohe Priorität haben. Dabei geht es nicht nur grundsätzlich darum, eine offene Gesellschaft zu sein und zu bewahren, sondern auch um die Integration von ausländischen Mitmenschen und Fachkräften. Ohne deutlich mehr Arbeitskräfte wird die wirtschaftliche Transformation scheitern und viele Unternehmen werden insolvent gehen. Die neue Bundesregierung sollte sich deshalb das Ziel setzen, in den nächsten vier Jahren mindestens 1,6 Millionen ausländische Menschen in gute Arbeit zu bringen. Nur so kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Deutschland gesichert werden. Damit dies gelingt, muss Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver werden, die Integration bereits hier lebender Schutzsuchender in den deutschen Arbeitsmarkt besser gelingen und ein Narrativ geschaffen werden, das Migration nicht als Bedrohung darstellt, sondern als Chance – auch im ökonomischen Sinne.

Die Ampel-Bundesregierung ist in den letzten beiden Jahren in der Migrations- und Integrationspolitik einen gefährlichen Schlingerkurs gefahren. Sie hat mehr Abschiebungen sowie Restriktionen für die Zuwanderung angekündigt und plant Kürzungen in den Bereichen der Migrationsberatung für Erwachsene und in der psychosozialen Versorgung. Dabei hat sie in den Jahren 2022 und 2023 noch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um Integrationskosten zu decken.

Erst am 29. Januar 2025 hat der Deutsche Bundestag einen Antrag der Unionsfraktion zur Verschärfung der Migrationspolitik in Form eines sogenannten „Fünf-Punkte-Plans“ verabschiedet. Die erforderliche Mehrheit kam durch die Unterstützung der AfD zustande. Ziel des Plans ist es, die illegale Migration nach Deutschland weiter einzudämmen und die innere Sicherheit zu stärken. Diese Entscheidung wurde jedoch getroffen, obwohl empirische Daten zeigen, dass die Zahl der illegalen Einreisen bereits rückläufig ist.infoVgl. die Zahlen auf der Website des Mediendienstes Integration (online verfügbar). Zudem lassen sich Gewalt- und andere Straftaten nicht vorrangig auf illegale Migrant*innen oder ausreisepflichtige Personen zurückführen. Vielmehr sind sozioökonomische Faktoren, wie Armut und fehlende gesellschaftliche Teilhabe, entscheidende Ursachen für Kriminalität – unabhängig von der Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus.

Aber CDU und AfD wollen noch weiter gehen: Die AfD fordert eine Remigration, bei der nicht nur die Zuwanderung gestoppt, sondern viele Menschen mit und ohne deutschen Pass zur Ausreise gezwungen werden sollen. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat jüngst die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft gefordert und will die Reform der Staatsbürgerschaft der Ampel-Bundesregierung – durch die die Einbürgerung beschleunigt und die Hürden für eine duale Staatsbürgerschaft abgebaut werden – rückgängig machen. Dabei ist Tatsache, dass Deutschland auf die aktive Beteiligung seiner Bürger*innen mit Migrationshintergrund sowie auf gelungene Integration und Zuwanderung angewiesen ist, um das Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft wieder auf einem moderaten Niveau von knapp einem Prozent zu stabilisieren.infoVgl. Angelina Hackmann, Konstantin A. Kholodilin und Teresa Schildmann (2025): Mehr Migration könnte Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft deutlich erhöhen. DIW aktuell Nr. 101 (online verfügbar). Auch beispielsweise der Wirtschaftsboom der 2010er Jahre wäre ohne Zuwanderung von innerhalb und außerhalb Europas nicht möglich gewesen. Ohne diese Zuwanderung gäbe es heute keinen Höchststand von 46,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland, sondern seit vielen Jahren bereits schrumpfende Beschäftigtenzahlen. Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der letzten fünf Jahre geht auf ausländische Arbeitskräfte zurück – viele davon sind selbstständig, was wichtige Impulse für wirtschaftliche Innovationen gibt.infoVgl. Bundesagentur für Arbeit (2024a): Ausländische Arbeitskräfte am deutschen Arbeitsmarkt. Berichte: Arbeitsmarkt kompakt (online verfügbar). Seit 2023 wird der Aufbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sogar ausschließlich von Ausländer*innen getragen (Abbildung). Vor allem in kritischen Jobs der Daseinsvorsorge, wie in der Pflege und im Gesundheitsbereich, wären viele Leistungen ohne die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte heute nicht möglich.

© DIW Berlin 2025

1. Arbeitskräftemangel und Potenziale

Deutschland steht vor erheblichen demografischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die Migration zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft des Landes machen. Die Bevölkerung altert rasant, mit einem Medianalter von über 45 Jahren gehört Deutschland zu den ältesten Gesellschaften der Welt. Gleichzeitig liegt die Geburtenrate mit etwa 1,5 Kindern pro Frau deutlich unter dem Reproduktionsniveau von 2,1 Kindern. Ohne Migration droht ein Schrumpfen der Bevölkerung, das nicht nur die wirtschaftliche Aktivität, sondern auch die Stabilität vieler Branchen und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen gefährden würde.

Begleitet wird dieses demografische Problem von einem akuten Arbeitskräftemangel. Es gibt derzeit knapp 1,7 Millionen offene Jobs. Viele Branchen wie das Gesundheitswesen, Ingenieurwesen, die IT-Branche und die Fertigungsindustrie leiden unter Fachkräftemangel. Besonders das deutsche Gesundheitssystem ist zunehmend auf ausländische Ärzt*innen, Pflegekräfte und Betreuer*innen angewiesen, um den steigenden Bedarf einer alternden Bevölkerung zu decken. Gleichzeitig fehlen Arbeitskräfte für essenzielle, aber weniger spezialisierte Tätigkeiten wie in der Landwirtschaft, der Logistik oder im Bauwesen, die oft von Migrant*innen übernommen werden. In den nächsten zehn Jahren werden schätzungsweise fünf Millionen Babyboomer mehr in Rente gehen als junge Menschen die Erwerbstätigkeit erreichen. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass Deutschland über das nächste Jahrzehnt eine Nettozuwanderung von 400 000 Arbeitskräften aus dem Ausland pro Jahr benötigt, um diese Arbeitskräftelücke halbwegs schließen zu können.

Ein gängiger Irrglaube ist, nur Hochqualifizierte seien wirtschaftlich und finanziell „lohnenswerte“ Arbeitskräfte für Deutschland. Dies ist grundfalsch und ein Schlag ins Gesicht für jeden deutschen Beschäftigten, der hart für mittlere oder geringe Löhne arbeitet. Gerade in vielen systemrelevanten Berufen der Grundversorgung arbeiten Menschen mit Einwanderungsgeschichte und sichern die Daseinsvorsorge. Fakt ist: Jeder berufstätige Mensch trägt seinen Teil zum Unternehmen und zur Gesellschaft bei, unabhängig von der Höhe des Stundenlohns.

Viel Potenzial zum Schließen der Arbeitskräftelücke liegt bei Frauen, von denen die Hälfte in Teilzeit arbeitet. Viele von ihnen würden ihre Arbeitsstunden gerne erhöhen.infoVgl. Bundesagentur für Arbeit (2024b): Die Arbeitsmarktsituation von Frauen und Männern 2023. Berichte: Arbeitsmarkt kompakt (online verfügbar). Voraussetzung dafür ist, dass Hindernisse wie unzureichende Bezahlung, steuerliche Nachteile durch das Ehegattensplitting, die Attraktivität von Minijobs oder der Mangel an Kita- und Schulplätzen beseitigt werden. Selbst unter idealen Bedingungen könnte jedoch nur ein kleiner Teil der bestehenden und wachsenden Arbeitskräftelücke durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen gedeckt werden. Darüber hinaus gibt es ein riesiges ungenutztes Potenzial bei der Erwerbstätigkeit von Ausländer*innen, insbesondere derer, die bereits in Deutschland leben. Im Juni 2024 befanden sich rund 3,3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland.infoVgl. die Zahlen auf der Website des Mediendienstes Integration (online verfügbar). Es gibt positive Befunde zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind. So liegt die Erwerbsquote bei Männern acht Jahre nach ihrer Ankunft bei 86 Prozent.infoVgl. Herbert Brücker et al. (2024): Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten: Verbesserte institutionelle Rahmenbedingungen fördern die Erwerbstätigkeit. IAB-Kurzbericht 10/2024 (online verfügbar). Allerdings gibt es bei neueren Fluchtkohorten, wie den Ukrainer*innen und bei geflüchteten Frauen insgesamt, noch erhebliches ungenutztes Potenzial. Beispielsweise beträgt die Erwerbsquote geflüchteter Frauen nach acht Jahren in Deutschland lediglich 33 ProzentinfoVgl. Brücker et al. (2024), a.a.O. und bei geflüchteten Ukrainer*innen – Stand Juli 2024 – knapp 35 Prozent.infoVgl. Bundesregierung (2024): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Gut angekommen auf dem Arbeitsmarkt (online verfügbar). Trotz zahlreicher Integrationsmaßnahmen, darunter Integrations- und Berufsvorbereitungskurse, bleiben Sprachbarrieren und ein Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten oft zentrale Hindernisse.

Diese immense Lücke bei den Arbeitskräften wird nicht allein durch die Mobilisierung bereits in Deutschland lebender Menschen gefüllt werden können. Bereits heute zählt für deutsche Unternehmen der Mangel an Arbeitskräften zu den wichtigsten Problemen, neben einer schwachen Nachfrage und überbordender Bürokratie und Regulierung.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) von 2020 erleichtert die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte durch den Abbau bürokratischer Hürden. Ergänzend wurde 2024 die Chancenkarte eingeführt, die Fachkräften den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtert. Im ersten Jahr wurden 200 000 Visa zu Erwerbszwecken ausgestellt, dennoch bleiben Bürokratie, mangelnde Digitalisierung und Sprachbarrieren Hindernisse. Deutschland liegt in der Attraktivität für hochqualifizierte Arbeitskräfte nur auf Platz 15 unter 38 OECD-Ländern. Hohe Steuern, Sozialabgaben und eine in der Gesellschaft teilweise ablehnende Haltung erschweren zudem die langfristige Bindung von Fachkräften. Eine gezielte und nachhaltige Migrationspolitik ist nötig, um diese Herausforderungen zu bewältigen.

2. Reformbedarfe und Empfehlungen

Wenn die neue Bundesregierung das massive Arbeitskräfteproblem adressieren will, muss sie als oberste Priorität die vielen Hürden für die Erwerbstätigkeit von ausländischen Mitmenschen abbauen. Dies gilt für die Betroffenen selbst, die Unternehmen, staatliche Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes.

Unsere europäischen Nachbarländer sind zum Teil deutlich besser darin, beispielsweise ukrainische Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch wenn solche Vergleiche schwierig sind, besteht ein breiter Konsens, dass die Hürden für die Erwerbstätigkeit vor allem von Geflüchteten in Deutschland nach wie vor hoch sind. Diese Hürden müssen dringend abgebaut werden. Dazu gehören mehr Schnelligkeit und Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen. Denn vielen Menschen aus dem Ausland und auch der deutschen Wirtschaft ist nicht geholfen, wenn ausländische Arbeitskräfte nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten können, sondern gezwungen werden, in anderen Bereichen tätig zu werden, für die sie keine oder weniger gute Qualifikationen haben.

Eine schnellere Integration in den Arbeitsmarkt erfordert auch eine bessere Integration in die Gesellschaft. Studien des DIW Berlin zeigen, dass soziale Kontakte und gute Sprachkenntnisse essenziell sind, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.infoVgl. Ellen Heidinger (2024): Bedarf an und Inanspruchnahme von Unterstützung bei Geflüchteten ungleich verteilt. DIW Wochenbericht Nr. 12, 191–198 (online verfügbar). Dies erfordert eine zügigere Unterbringung in privaten Unterkünften und einen schnelleren Zugang zu sozialen Leistungen, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Eine andere Studie des DIW Berlin hat kürzlich gezeigt, dass die Verlängerung des Verbleibs im Asylbewerberleistungsgesetz von 18 auf 36 Monate zu größeren gesundheitlichen Schäden bei manchen Geflüchteten führt und somit auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt reduziert.infoVgl. Louise Biddle (2024): Verlängerte Leistungseinschränkungen für Geflüchtete: Negative Konsequenzen für Gesundheit – erhoffte Einsparungen dürften ausbleiben. DIW Wochenbericht Nr. 12, 199–207 (online verfügbar). Zudem wurde jüngst gezeigt, dass im Jahr 2022 nur sieben Prozent der Geflüchteten Geld ins Ausland überwiesen haben.infoVgl. Adriana Cardozo Silva und Sabine Zinn (2024): Geflüchtete senden seltener Geld ins Ausland als andere Migrant*innen. DIW Wochenbericht Nr. 49, 771–779 (online verfügbar). Damit ist ein zentrales Argument für die Einführung der Bezahlkarte zumindest fragwürdig.

Weiterer Reformbedarf besteht in einer besseren Unterstützung der vielen Unternehmen, die ausländische Mitmenschen ausbilden und beschäftigen.infoVgl. Alexander S. Kritikos, Maximilian Priem und Anne-Christin Winkler (2022): Unternehmen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Integration Geflüchteter in Deutschland. DIW Wochenbericht Nr. 20, 287–294 (online verfügbar). Die fehlende Flexibilität mancher Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramme führt zu einer hohen Abbrecherquote. Parallelstrukturen von Ausbildung, Spracherwerb und Integration sind sinnvoll, um deutlich mehr ausländische Mitmenschen schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür können auch Anreize wie Ausbildungsprämien für Unternehmen sinnvoll sein.

Ein dritter Bereich für Reformen sind die staatlichen Institutionen selbst. Komplexe und langwierige Verfahren behindern Migration und die Integration von Migrant*innen. Eine nachhaltige Politik setzt auf die Digitalisierung und Vereinfachung von Prozessen, insbesondere bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen und bei Visa-Anträgen. Effizientere Verfahren sparen Kosten, entlasten Behörden und fördern die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Zudem zeigen DIW-Studien, dass Restriktionen wie Wohnsitzauflagen kontraproduktiv sein können und eine höhere Erwerbsquote womöglich verhindern.infoVgl. Adriana R. Cardozo Silva, Yuliya Kosyakova und Aslıhan Yurdakul (2023): Gendered Implications of Restricted Residence Obligation Policies on Refugees’ Employment in Germany. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research Nr. 1203 (online verfügbar).

Der vierte Bereich betrifft die Gesellschaft als Ganzes. Migration sollte nicht als Bedrohung, sondern als Chance dargestellt werden. Ein Narrativ der politischen Akteure, das Migrant*innen und Einheimische als Partner bei der Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft sieht, kann Polarisierung abbauen. Die gemeinsamen Werte und Vorteile, die durch Migration entstehen, sollten betont werden. Sorgen und Ängste in der Bevölkerung müssen ernst genommen und sachlich adressiert werden, um Vorbehalte abzubauen. Eine positive Willkommenskultur ist zentral für die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten sowie für den sozialen Zusammenhalt. Die derzeit vergleichsweise schlechte Willkommenskultur in Deutschland trägt dazu bei, dass die Verweildauer von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland in Deutschland relativ gering ist und viele nach einigen Jahren weiterziehen – zum Schaden der Unternehmen und der Wirtschaft als Ganzes. Öffentlichkeitswirksame Kampagnen können die Vorteile von Migration und Vielfalt sichtbar machen, Vorurteile abbauen und gelungene Integration hervorheben. Gleichzeitig sollte der Austausch zwischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung durch interkulturelle Veranstaltungen, Patenschaftsprojekte und gemeinschaftliche Aktivitäten gefördert werden. Kommunen benötigen als zentrale Akteure der Integration finanzielle und strukturelle Unterstützung, um Sprachkurse, soziale Projekte und Willkommensinitiativen umzusetzen. Ebenso sollte das freiwillige Engagement in der Flüchtlingshilfe stärker anerkannt und gefördert werden.

Zudem sollte Deutschland in der EU eine Führungsrolle übernehmen, um eine gerechte Verteilung von Geflüchteten sicherzustellen. Solidarität unter den Mitgliedstaaten und die Entwicklung eines effizienten europäischen Asylsystems sind entscheidend, um Geflüchteten faire und nachhaltige Perspektiven zu bieten. Dies stärkt die gesamte EU und fördert ein solidarisches Miteinander.

3. Konkrete Ziele und eine ehrliche Debatte

Es gibt kaum eine Debatte, die so emotional und ideologisch aufgeladen ist wie die um Migration und Identität. Zur Ehrlichkeit gehört das Eingeständnis, dass die allermeisten der heute 3,5 Millionen schutzsuchenden Menschen in Deutschland auch langfristig in unserem Land bleiben werden. Genauso sollten wir anerkennen, dass Deutschland einen erheblichen Teil seines wirtschaftlichen Wohlstands und seiner Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird, wenn die Arbeitskräftelücke in Deutschland nicht geschlossen werden kann. Fakt ist: Deutschland hat in der Vergangenheit wirtschaftlich signifikant von Zuwanderung profitiert und kann dies noch besser und stärker tun, wenn die neue Bundesregierung den Kurs der Migrationspolitik anpasst und ihr Augenmerk stärker auf eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt legt. Dafür müssen vier wichtige Hürden – wie in diesem DIW aktuell dargelegt – abgebaut werden.

Zudem sollte die Politik in Zukunft wieder mehr Rechenschaft für ihr Handeln ablegen. Anstelle warmer Worte sollte die nächste Bundesregierung sich konkret verpflichten, während ihrer Regierungszeit bis 2029 mindestens 1,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte – dies sind 400 000 Beschäftigte netto pro Jahr, die auch von der Bundesagentur für Arbeit (BA) als notwendig angesehen werdeninfoVgl. Johann Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber (2021): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. IAB-Kurzbericht 25/2021 (online verfügbar). – erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies wäre einer der größten und effektivsten Beiträge für die deutsche Wirtschaft, den die neue Bundesregierung leisten könnte. Und es ist ein realistisches Ziel.

Zwei abschließende Anmerkungen sind wichtig, um Kritikpunkte auszuräumen: Zum einen wird gerne kolportiert, ein Abbau von Migrationshürden und eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt stellten einen starken „Pull-Faktor“ dar und würden Deutschland als Zielland für geringer qualifizierte Zuwanderung noch attraktiver machen. Wissenschaftliche Studien unterstützen dies laut einer Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags jedoch nicht.infoVgl. Deutscher Bundestag (2020): Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung. Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags (online verfügbar). Eine Fortsetzung oder weitere Erhöhung der Hürden für eine erfolgreiche Integration dürfte den gegenwärtigen Status quo eher noch stärker zementieren: Vor allem relativ geringer qualifizierte Geflüchtete werden weiterhin nach Deutschland kommen, um hier entsprechend den EU-Asylbestimmungen Schutz zu suchen. Hochqualifizierte Fachkräfte dagegen werden einen großen Bogen um Deutschland machen und in andere, attraktivere Länder gehen.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Balance zwischen „Fördern und Fordern“: Schutzsuchende erhalten in Deutschland Leistungen, die ihre Grundbedürfnisse sichern und ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Damit erfüllt Deutschland seine Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention, die grundlegenden Schutz und Rechte für Flüchtlinge garantiert. Anstatt über Leistungskürzungen zu debattieren, sollte der Fokus stärker auf Fördermaßnahmen liegen. Die Integrationserfolge der letzten Jahrzehnte belegen, dass eine hohe Beschäftigungsquote und eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft möglich sind, wenn den Schutzsuchenden Chancen eröffnet werden, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.

Fazit: Deutschland muss ein attraktives Einwanderungsland für qualifizierte Arbeitskräfte werden

Die aktuellen Entwicklungen in der Migrationspolitik sowie die Signale von CDU/CSU und AfD, die laut Prognosen die Mehrheit bei der in wenigen Wochen anstehenden Bundestagswahl erreichen könnten, gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und die wirtschaftliche Zukunft. Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen – sie ist essenziell für eine nachhaltige und wirtschaftlich prosperierende Zukunft. Statt einer sachlichen Debatte wird ein Klima der Vorurteile geschürt, das sich auf einige wenige Einzelfälle stützt, statt das Gesamtbild differenziert zu betrachten.

In der Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der deutschen Migrationspolitik bleibt der positive Beitrag von Migrant*innen und Geflüchteten weitgehend unberücksichtigt – insbesondere ihr entscheidender Einfluss auf eine stabile, wachsende Wirtschaft. Beispielsweise tragen viele Migrant*innen maßgeblich zur Fachkräftesicherung bei, etwa in der Pflege, im Handwerk oder in der IT-Branche, wo bereits akuter Personalmangel herrscht. Ebenso wenig Beachtung finden die internationalen und europäischen Verpflichtungen im Bereich Asyl- und Migrationsrecht, für die über Jahre hinweg hart gerungen wurde. Ein Rückschritt in diesem Bereich würde nicht nur Deutschlands humanitäre Verantwortung infrage stellen, sondern auch seinen Ruf als verlässlicher Partner in der internationalen Gemeinschaft beschädigen.

Die zukünftige Bundesregierung ist daher gefordert, keine rückwärtsgewandte Politik zu verfolgen, sondern Wege zu schaffen, die Deutschland zu einem attraktiven Einwanderungsland für qualifizierte Arbeitsmigrant*innen machen. Dazu gehören nicht nur vereinfachte Verfahren für Fachkräfte, sondern auch eine langfristige Strategie zur Integration, damit diejenigen, die kommen, nicht nur kurzfristig hier arbeiten, sondern langfristig bleiben und sich als Teil der Gesellschaft fühlen.

Sabine Zinn

Kommissarische Direktorin SOEP in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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