Blog Marcel Fratzscher vom 11. Juli 2025
Energiekosten, Bürokratie, grüne Transformation: Die falschen Themen stehen im Mittelpunkt der Debatte über die Industrie. Denn die größte Gefahr wird übersehen.
Die Debatte über die Zukunft der deutschen Industrie kreist derzeit vor allem um hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und die Herausforderungen der grünen Transformation. Dabei wird eine weit gravierendere Bedrohung übersehen: der Klimawandel. Nicht die Energiewende gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, sondern die wirtschaftlichen Folgen der Erderwärmung und immer häufigerer Extremwetterlagen. Die Datenlage ist eindeutig: Hitze, Dürre, Unwetter und Naturkatastrophen untergraben zunehmend und unumkehrbar die Grundlagen der deutschen Wirtschaft.
Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 11. Juli 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Besonders anfällig ist das Rückgrat der Industrie: ihre komplexen Lieferketten. Genau hier schlägt die Klimakrise durch. Laut Studien verursachen Extremwetter wie anhaltende Dürre oder Starkregen bereits Schäden in Milliardenhöhe durch unterbrochene Transportwege. Die Rhein-Niedrigwasser-Krise von 2018 führte allein bei BASF zu Mehrkosten von 250 Millionen Euro – ein Vorbote künftiger Entwicklungen. Damals sank die Frachttiefe des Rheins bei der Stadt Kaub über Wochen auf unter 30 Zentimeter, was die Transportkapazität um bis zu 80 Prozent reduzierte. Für ein exportorientiertes Industrieland mit Just-in-Time-Produktion ist das ein erheblicher Nachteil.
Noch unmittelbarer trifft die Hitze die Menschen selbst. Im Sommer 2022 starben in Deutschland über 8.000 Menschen infolge hoher Temperaturen – mehr als durch Verkehrsunfälle, Grippe und Drogen zusammen. Doch auch jenseits dieser dramatischen Zahlen hat Hitze wirtschaftliche Folgen: Studien zeigen, dass sie die Arbeitsproduktivität, besonders in Industrie und Bau, um bis zu zehn Prozent senken kann. Nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums gehen allein durch Hitzetage jährlich rund drei Millionen Arbeitstage verloren – Tendenz steigend.
Die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Produktivitätsverluste summieren sich laut einer Studie der Europäischen Umweltagentur in Deutschland bereits auf rund sieben Milliarden Euro jährlich.
Die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 war nicht nur eine menschliche Tragödie mit über 180 Todesopfern. Auch wirtschaftlich hinterließ sie tiefe Spuren: Der Schaden belief sich laut Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) auf mehr als 33 Milliarden Euro – versichert war davon lediglich ein Drittel. Die verbleibenden Kosten trugen der Staat und die betroffenen Haushalte. Und solche Ereignisse sind längst keine Ausnahmen mehr: GDV und der Rückversicherer Munich Re verzeichnen seit 2000 einen jährlichen Anstieg klimabedingter Schäden in Deutschland um etwa vier bis fünf Prozent.
Auch die Staatsfinanzen geraten unter Druck. Ohne präventive Maßnahmen zur Risikovorsorge droht eine steigende Belastung der öffentlichen Haushalte durch Klimaschäden – mit potenziell gravierenden Folgen für die staatliche Handlungsfähigkeit.
Zudem bedroht die Klimakrise die natürlichen Grundlagen unserer Wirtschaft. Besonders deutlich zeigt sich das in der Landwirtschaft. Laut dem Thünen-Institut sanken die Erträge von Getreide und Mais in den Dürrejahren 2018, 2019 und 2022 im Schnitt um bis zu 25 Prozent. Der Deutsche Bauernverband bezifferte etwa den Schaden für 2022 auf rund 3,6 Milliarden Euro. Eine Studie des Umweltbundesamtes warnt, dass der wirtschaftliche Verlust durch Biodiversitätsrückgang und Bodenverschlechterung bis 2050 auf 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr steigen könnte.
Diese Entwicklungen erzeugen nicht nur steigende Kosten, sondern auch Unsicherheit – eine zunehmend zentrale wirtschaftliche Kategorie. Unternehmen stellen vermehrt infrage, ob Deutschland noch die nötige Infrastruktur, Widerstandsfähigkeit und Planungssicherheit bietet. Eine Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB) zeigt, dass 64 Prozent aller EU-Firmen Verluste durch den Klimawandel erleiden. Laut einer Umfrage des DIHK erwägen 40 Prozent der deutschen Industriebetriebe Investitionen wegen hoher Energiekosten ins Ausland zu verlagern. Das schwindende Vertrauen in den Standort Deutschland ist nicht allein auf hohe Energiepreise oder Regulierung zurückzuführen, sondern ebenso auf das Ausbleiben einer entschlossenen Anpassung an ökologische Realitäten.
Viele wirtschafts- und industriepolitische Debatten greifen zu kurz, weil sie den Klimawandel als rein ökologisches Problem behandeln. Dabei ist er längst zur zentralen ökonomischen Bedrohung geworden. Der Widerstand gegen Klimaschutz, wie er sich in populistischen Erzählungen immer stärker manifestiert, ist daher nicht nur ökologisch kurzsichtig, sondern ökonomisch kontraproduktiv. Umso dringlicher ist ein Kurswechsel in Klima- und Industriepolitik. Vorrang muss jetzt der kluge Einsatz des 500-Milliarden-Euro-Sondervermögens der Bundesregierung haben: Investitionen in klimaresiliente Infrastrukturen sollten oberste Priorität bekommen. Verkehrswege, Wasserstraßen und Stromnetze müssen gezielt im Hinblick auf Klimaanpassung modernisiert werden. Denn Prävention ist billiger als Reparatur: Jeder Euro für Klimaschutz spart bis zu sieben Euro an Folgekosten durch Schäden.
Auch ein "Klimasoli", wie ich ihn bereits im vergangenen Jahr vorgeschlagen habe, gehört auf die politische Agenda. Gleichzeitig braucht es stärkere Anreize für die sozial-ökologische Transformation. Statt fossile Strukturen weiter zu subventionieren – wie zuletzt in der Agrarpolitik – sollte Förderpolitik gezielt Innovation, Energieeffizienz und Anpassungsstrategien unterstützen.
Deutschland steht an einem wirtschaftspolitischen Scheideweg. Die zentrale Frage ist nicht, ob wir uns Klimaschutz leisten können – sondern ob wir uns die Kosten des Nichthandelns leisten wollen. Die ökologische Transformation ist keine Last, sondern unsere ökonomische Überlebensstrategie. Wer sie aufschiebt, handelt nicht nur ökologisch fahrlässig, sondern ökonomisch irrational.
Hinweis: Eine frühere Version dieser Kolumne enthielt eine falsche Referenz zu einer Studie des IW Köln. Diese wurde nun durch korrekte Referenzen der Europäischen Investitionsbank und des DIHK ersetzt.
Themen: Industrie , Klimapolitik , Produktivität , Unternehmen